6. Sonntag nach Trinitatis (19. Juli 2020)
5. Mose 7, 6-12
IntentionDer Begriff „Erwählung“ ist ein Reizwort, die Erwählung Israels irritiert und provoziert umso mehr. Mit welchem Recht sollte Israel erwählt sein? Und wird es seinem Anspruch gerecht? Die Predigt versucht einen Weg zu bahnen durch den Dschungel an Eifersucht und Misstrauen. Sie versucht Verständnis zu wecken für den Auftrag Gottes an Israel und uns aus den Völkern, insbesondere am Sonntag der Tauferinnerung: Wie verhalten sich Gottes Bund und christliche Taufe zueinander?
Ein LiebesbriefEine winzig kleine Rolle aus Pergament darf ich in meiner Hand halten.
Vorsichtig und mit Handschuhen ziehe ich das Band auf, das sie zusammenhält, und biege die Rolle langsam auseinander. Die alten hebräischen Buchstaben sind noch zu entziffern. Wort für Wort taste ich mich vor.
Ein Brief – ein Liebesbrief! Da gesteht jemand seiner Angebeteten seine Liebe. Sucht nach Worten, ringt um sie, öffnet ihr die Tiefen seines Herzens, macht sich angreifbar und verwundbar. Weshalb ausgerechnet sie? Erklären kann er das nicht – es bleibt ein Geheimnis.
Ich lese weiter – fast ist es mir peinlich, solch ein vertrauliches Geständnis, das nicht für meine Ohren bestimmt ist. Mose war sein Liebesbote. Hier ein kleiner Ausschnitt aus dem Brief:
„Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der HERR euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.
So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat.“
Liebe und EifersuchtIch liebe dich – mein Augapfel bist du, mein Schatz – ich hänge an dir, du lässt mich nicht mehr los!
Eine leidenschaftliche Liebeserklärung an ein ganzes Volk. Und das von Gott persönlich – prominenter geht es nicht! Ewige Treue schwört er seinem geliebten Volk. Seine Liebe hört nimmer auf. Liebe ist etwas Schönes – einfach wunderbar, oder?
Verliebte wählen einander. Sie brauchen nichts dazu tun, um erwählt zu werden. Seht sie euch an, diese Glücklichen! Darf Gott so lieben? Und warum gerade das jüdische Volk? Und wo bleiben die, die nicht zu den Erwählten gehören?
Spätestens bei dem Wort ERWÄHLT läuten doch den meisten von uns weniger die Hochzeitsglocken als die Alarmglocken. In dem leise fressenden Neid, nicht dazuzugehören, jenen Neid, dem Hitler in maßlosen Hasstiraden Luft machte, indem er die göttliche Erwählung der Juden verhöhnte. Wir Deutschen haben ja unsere eigene Geschichte mit dem „Deutschland, Deutschland über alles in der Welt …“ Mit dem Irrglauben von wegen „Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern der Soldaten, der viele Länder und dazu Millionen Menschen ins Verderben geführt hat.
Mit Schrecken sehen wir jetzt über den „großen Teich“, wie 155 Jahre nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei der Rassismus immer noch lebendig ist, und das nicht nur in den Vereinigten Staaten. Dass Menschen grundlos Gewalt, ja den Tod fürchten müssen,
nur weil sie eine andere Hautfarbe haben.
„America first/Amerika zuerst“ heißt der Erwählungsglaube dort seit 4 Jahren. Das „Make America great again/Macht Amerika wieder groß“ gellt uns noch in den Ohren. Zugleich stolpere ich im Römerbrief des Paulus, wo es heißt: „die Juden zuerst“. Was ist der Unterschied? Gibt es einen?
Erwählung des kleinsten Volkes zu einer großen AufgabeIn der Tat gibt es den: In der Bibel kommt das jüdische Volk eben nicht zuerst. Am Anfang der Bibel steht nicht die Erwählung, sondern die Erschaffung der ganzen Welt und der Geschichte der Menschheit als Familiengeschichte: Wir alle stammen von einem Menschenpaar ab. Trotz aller Unterschiede an Aussehen, Geschlecht und Lebensbedingungen sind wir Menschen alle Geschwister, alle gleich an Würde! Die Würde des Menschen - jedes Menschen - ist unantastbar!
Gott will, dass in dieser leidgetränkten Welt die Menschenwürde wieder hochgehalten wird. Alle sollen ein Recht haben auf Leben und Überleben, auf Familie, auf Arbeit und Essen, auf Glück.
Gott hat sich für die ganze Menschheit entschieden, indem er das jüdische Volk erwählt, Licht für alle Völker zu sein. Und es ist eben gerade nicht das größte und mächtigste Volk: „Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern.“
Versklavt waren die Juden in Ägypten, Fremde ohne Perspektive, eine Gemeinschaft, die weiß und sich immer wieder daran erinnert, was es heißt, fremd, benachteiligt und ohne Rechte zu sein.
Gott hat eben eine Vorliebe für die Kleinen, die Benachteiligten, die Fremden. Gerade diese Geliebten Gottes bekommen von Gott den Auftrag, Gottes Gerechtigkeit in dieser Welt vorzuleben – als Zeichen Gottes für die Völker. Weil Juden nach 2000 Jahren Exil und Völkermord die Erfahrungen von Minderheiten verstehen, haben sie sich an ihre Seite gestellt:
- Schon früh haben sie an der Seite von Martin Luther King den Kampf der Afroamerikaner um ihren rechtmäßigen Platz in der amerikanischen Gesellschaft unterstützt.
- In Südafrika spielten sie eine führende Rolle im Kampf gegen die Apartheid.
- In Großbritannien haben sie die muslimischen Gemeinschaften gegen Vorurteile und Anfeindungen verteidigt.
- Im Interesse von Kriminalitätsopfern, zu Unrecht Angeklagten, Behinderten und Misshandelten haben sie gegen die Aufhebung der Menschenrechte protestiert.
- Gegen die rechts gerichtete Regierung in Israel gehen Organisationen wie die „Rabbiner für Menschenrechte“ vor den Obersten Gerichtshof.
Ein Auftrag – so groß, dass er dieses kleine Volk eigentlich überfordern muss.
Erwählung – ein Privileg? Im Gegenteil, kein Glanz und Gloria, kein Weltmeistertitel mit Lorbeerkranz… Stattdessen eine große Verantwortung. Bis heute ist dieser Auftrag nicht erfüllt. Wie sollte er auch?! Jüdinnen und Juden sind keine besseren Menschen als andere – allerdings auch keine schlechteren, nirgends auf der Welt.
Tevje, der Milchmann im Musical Anatevka, bringt es auf den Punkt, als er mit einem Blick nach oben sagt: „Ich weiß, ich weiß. Wir sind das erwählte Volk. Aber könntest Du nicht ab und zu jemand anderen erwählen?“ Und dann macht er sich auf den Weg, um einen Fremden zum Abendessen einzuladen.
Gottes Gebote für WeltverbessererEine kleine Gruppe von Weltverbesserern – wie soll das funktionieren?
Gott lässt sie mit dieser Riesenaufgabe nicht allein: er gibt ihnen seine Weisung, seine Gebote mit auf den Weg zu einem Leben in Gerechtigkeit für alle. Das größte und wichtigste Gebot steht schon in seinem Liebesbrief: „So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten.“
Gott ist Gott allein, Herrscher der Welt. Dieser verliebte Gott, der in Treue an den Menschen hängt, möchte wieder geliebt werden. Dass auch sie treu an ihm hängen und aus Liebe seinen Willen tun und frei werden von allen anderen Abhängigkeiten.
Wer dagegen selber der Größte sein will, Machthaber über alles in der Welt, wer Gottesrecht und Menschenwürde hasst und deshalb verwirft, denen ‚vergilt‘ Gott ihre Großmannssucht. Das bedeutet keine Rache, sondern: Gott steht mit seiner Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit dafür ein, dass der Hass der Hassenden auf sie selbst zurückfällt.
Größer aber als Gottes Gerechtigkeit ist seine Barmherzigkeit, bis über 1000 Generationen hinweg, auch wenn sie in den Jahrhunderten der Verfolgung oft unkenntlich gewesen ist. Und doch haben Juden an dem „treuen Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit hält“, festgehalten in der Hoffnung, dass seine Treue ewig gilt.
Taufe als Zeichen für Gottes Liebe zu allen VölkernGott schreibt einen Liebesbrief an das jüdische Volk – und wo bleiben wir Christen?
Erwählung meint immer das Besondere, spricht den Anderen aber je ihre Besonderheit, ihre Würde, nicht ab.
Am heutigen Sonntag feiern wir unsere Taufe. Sie ist das Zeichen, mit dem der Jude Jesus die Liebe Gottes zu uns und zu allen Völkern bestätigt. Gott bindet sich an uns und verspricht uns – Christen wie Juden – seine bleibende Treue. Das bleibt nicht ohne Folgen. In der Taufe gibt uns Jesus einen Auftrag. Er sendet uns in die Welt, um Gottes Willen, seine Gebote, denen Jesus sein ganzes Leben gehorsam war, weiterzugeben.
Für mich bedeutet das: An der Seite des jüdischen Volkes die Menschenwürde eines jeden Menschen in Ehren zu halten und dafür zu kämpfen, das Leben heilig zu halten, Benachteiligte, Bedrohte zu schützen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, für Frieden und Freiheit auf dieser Welt einzutreten.
„Darum geht hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
Amen.
Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus: Klara Butting, 6. Sonntag nach Trinitatis: Dtn 7, 6-12. Erwählung versus Populismus, in: (Hg. Studium in Israel e.V.) Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe II, Berlin 2019, 294-298.
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