5. Sonntag nach Trinitatis (17. Juli 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Hans Joachim Stein, Murrhardt [hans-joachim.stein@elkw.de]

1. Mose 12,1–4a

IntentionDie Predigt bringt die Geschichte von der Berufung Abrahams als eine Ermutigungsgeschichte zum Aufbruch zur Sprache. Die unsichere Zukunft, die mit jedem Aufbruch verbunden ist, wird unter Gottes Segenszusage zur weiten Zukunft.

Wir leben im KreisAbraham lebt im Kreis. Mit seiner Familie, seinen Mägden und Knechten, seinen großen Viehherden zieht er von Weide zu Weide. Immer wieder schlägt er die Zelte auf und steckt den Weidezaun ab. Und immer wieder packt er zusammen und zieht weiter. Irgendwann ist er wieder am Anfang. Abraham lebt im Kreis. Jahrein, jahraus.
Wir sind schon längst keine Wanderhirten mehr. Aber auch wir leben im Kreis. Wir stehen morgens früh auf, frühstücken, gehen zur Arbeit oder in die Schule, kommen heim, erledigen Hausaufgaben oder den Haushalt, essen zu Abend, setzen uns aufs Sofa und schauen den Tatort an, legen uns schlafen. Bis am Morgen wieder der Wecker schrillt und alles von vorne losgeht. Täglich grüßt das Murmeltier … Wir leben im Kreis. Daran ändern auch zwei Wochen Urlaub nichts.

Gott ruft aus dem Kreis heraus ins UnbekannteAbraham lebt im Kreis – bis zu dem Tag, an dem er diese Stimme hört, die sein Leben umkrempelt. Ich lese aus 1. Mose 12,1-4:
„Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte.“
Abraham lebt im Kreis – bis zu dem Tag, an dem er diese Stimme hört, die sein Leben umkrempelt. Diese Stimme, die zu ihm sagt: „Geh! Zieh nicht nur weiter zur nächsten Weide, nein, geh ganz weg von hier. Weg von deiner Familie, weg von deinen Weiden, weg von allem, was du gewohnt warst. Ich zeige dir, wohin.“
Es ist die Stimme Gottes, die zu Abraham spricht. Gott liebt das Leben. Darum will er, dass Abraham lebt. Abraham soll nicht im Hamsterrad steckenbleiben, er soll das Leben entdecken. Abraham spürt, wie die Stimme Gottes die Sehnsucht in ihm weckt. Die Sehnsucht nach Mehr. Nach einem neuen, einem ganz anderen Leben. Mit neuen Menschen, neuen Aufgaben, neuen Möglichkeiten.
Die Sehnsucht ist stark. Sie zieht ihn regelrecht. Abraham fragt nicht weiter nach. Er steht auf und geht. Er verlässt den Kreislauf des Immergleichen und geht los. Alles lässt er hinter sich: sein Zuhause, seine Familie, seine Gewohnheiten. Er wird sie nicht mehr wiedersehen. Denn Abraham geht nicht mehr im Kreis. Abraham geht weg. Ins Unbekannte.

„Ich will dich segnen“ – Gott stärktAm Anfang ist er ganz benommen von seinem Mut. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …“ Die Sehnsucht trägt ihn. Doch bald schon melden sich andere Stimmen in ihm: „Bist du verrückt geworden? Alles, was dir lieb und teuer ist, verlässt du? Das ist verantwortungslos! Und dumm obendrein. Jetzt hast du gar nichts mehr. Nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf. Wo willst du überhaupt hin? Du weißt doch nichts von der großen weiten Welt. Wird es dir da besser ergehen als Zuhause?“
Abraham packen Zweifel. Er bekommt es mit der Angst zu tun: „Wie konnte ich nur!“ Doch da hört er wieder die Stimme Gottes: „Fürchte dich nicht, Abraham. Geh nur weiter. Ich will dich segnen.“ Gott verspricht Abraham nicht das Blaue vom Himmel. Er verspricht ihm nicht, dass ihm alles gelingen wird, dass alles glatt laufen wird, dass ihm kein Unheil widerfahren wird. Das Land, das Gott ihm zeigen wird, ist nicht das Paradies. Gott verspricht Abraham: „Ich will dich segnen.“
„Ich will dich segnen“, das heißt: „Ich will dir Zukunft schenken.“ Gott versichert Abraham: „Dein Weg führt nicht in die Sackgasse. Dein Weg führt in die Weite.“ Abraham atmet durch. Er spürt, was das für ihn heißt: „Und wenn es auch schwierig wird – ich muss mir dann einfach sagen: Das ist nicht das Ende, da kommt noch was. Weil Gott mir Zukunft schenkt, kommt noch was.“ Das gibt ihm Kraft. Im Glauben daran, dass es eine Zukunft gibt, liegt eine große Kraft. Eine Segenskraft. Sie hilft uns, trotz Enttäuschungen und Niederlagen immer wieder aufzustehen und weiterzugehen.

„Du sollst ein Segen sein“ – Gott beauftragtNach einer Zeit kommen sie wieder, die dunklen Stimmen. Sie wollen Abraham einfach nicht loslassen: „Und was willst du da in der Fremde? Du kannst doch nur Hirte. Ob das reicht? So mancher ist schon tief gefallen, als er nach den Sternen griff. Sieh nur zu, dass du nicht in der Gosse landest.“
Wieder packen Abraham Zweifel. Ja, darüber hat er noch gar nicht nachgedacht, was er da überhaupt soll in dem Land, das Gott ihm zeigen will. Doch die Stimme Gottes lässt nicht lange auf sich warten. Sie spricht dagegen: „Fürchte dich nicht, Abraham. Geh nur weiter. Ich habe etwas mit dir vor: Du sollst ein Segen sein.“ Ein Segen sein? Ja, das ist es. Das ist sein Auftrag, seine Bestimmung: Er, der Gesegnete, soll selbst zum Segen werden. Er, der mit Zukunft Beschenkte, soll auch anderen Zukunft schenken. Soll sie herausholen aus ihrem Hamsterrad und ihre Füße auf weiten Raum stellen.
Abraham geht weiter. Das Herz ist ihm leicht: „Ich weiß nicht, was mich dort erwartet, wo ich hingehe. Aber es wird dort Lebensmöglichkeiten für mich geben. Ich werde sie entdecken und ergreifen. Ich weiß auch nicht, was ich dort tun soll. Womit ich mein Brot verdienen kann. Aber ich weiß, dass ich die Weite, die ich entdeckt habe, nicht für mich behalten kann. Ich muss sie weitergeben, muss sie anderen schmackhaft machen, muss ihre Sehnsucht herauskitzeln, muss sie locken in ein neues Leben.“
Abraham geht weiter. Aufrecht und festen Schrittes. Es wird nicht nur einfach und bequem für ihn. Abraham wird so manches Mal straucheln und fallen, er wird versagen und Fehler machen. Aber er wird unbeirrt an eine weite Zukunft glauben. Und er wird anderen eine weite Zukunft schenken.
Wie sieht so was aus, Zukunft schenken? Weite Zukunft schenkt, wer den Betriebsblinden die Augen öffnet. Wer in den Lebensmüden neue Lebensgeister weckt. Wer die Abgeklärten neugierig macht wie kleine Kinder. Wer die Herzen der Gleichgültigen berührt. Wer die Furchtsamen ermutigt. Wer die Bremser in Bewegung setzt. Wer so etwas tut, der ist ein Segen. Weil er Menschen ein weites Leben aufschließt. Ein Leben mit dem Versprechen auf Zukunft.

Das Versprechen auf Zukunft ist eine wichtige Ressource für uns heuteGott segnet Abraham. Und Gott macht ihn selbst zum Segen. Zum Segen für alle Völker auf Erden. Drei Religionen finden in ihm ihren Stammvater: Juden, Christen und Muslime. Sicher, die Geschichte insbesondere der Christen und Muslime ist keine reine Segensgeschichte. Sie haben auch viel Fluch über diese Erde gebracht und tun es immer noch. Aber immer da, wo sie sich an Abraham zurückerinnern, der im Vertrauen auf Gott aufbrach, immer da können sie für diese Welt ein Segen werden. Auch heute! Kriegsgeschrei, Inflation und Klimawandel verdunkeln unseren Glauben an eine Zukunft. Umso mehr brauchen wir Menschen wie Abraham, die an eine weite Zukunft glauben und sie anderen schmackhaft machen.
„Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“
Amen.

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