5. Sonntag nach Trinitatis (16. Juli 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Stefan Koch , Starnberg [Stefan.Koch@elkb.de]

Johannes 1, 35-42

Liebe Gemeinde,
ich suche noch den Überblick, wer zu wem gehört und wer wem, warum, und zu welchem Ende nachfolgt. Ich will die komprimierte Szene entwirren.
Da steht Johannes, von ihm geht alles aus. Man nennt ihn sonst den Täufer, von ihm wird überliefert, er habe den Mächtigen seiner Zeit das Gericht Gottes und den Verständigen seines jüdischen Volkes die Umkehr zu Gott gepredigt.
Neben Johannes finde ich zwei seiner Jünger. Die hören ganz genau, was Johannes sagt. Sie hängen an seinen Lippen, was er Wichtiges ankündigen wird, und sie sind gespannt, was das für sie bedeutet.

Anerkennung mit FolgenAls Jesus vorbeigeht, sagt Johannes: „Achtung, das ist er!“ Als die beiden Jünger des Johannes das hören, folgen sie Jesus. Es ist, als hätte Johannes sie geschickt. Offensichtlich laufen sie Jesus erst einmal in gehöriger Entfernung nach. Als Jesus das merkt, bleibt er stehen, lässt sie aufschließen und fragt, was sie eigentlich suchen. Er erwartet gar nicht, dass sie ihm folgen, sie sind ja die Jünger des Johannes. Freilich steckt schon in ihrem ersten Wort viel Anerkennung. Ihre Anerkennung gilt der Autorität, die sie in Jesus finden. „Meister“ ist ein Ehrentitel für den, über den so geredet wird. Und wer einen anderen so anredet, der ordnet sich ihm zu, erklärt sich zu ihm gehörig. So sind die Jünger des Johannes vom Anfang der Szene durch die paar Schritte hinter Jesus her schon und durch ein einziges Wort zu Jüngern Jesu geworden.

Die beiden früheren Jünger des Johannes schlüpfen schnell in die neue Rolle. Ihre nächste Frage drückt bereits ihre Sorge um den neuen Meister aus. Genau das hat ein echter Jünger zur Zeit Jesu zu tun, er kümmert sich darum, dass der Meister sein Auskommen, genug zu essen und die passende Schlafgelegenheit hat. Mit der Frage nach seiner Bleibe verdeutlichen die Jünger sich selbst und Jesus, dass sie sich nun ihm zurechnen und sich um sein Wohlbefinden kümmern wollen. Jesus ist das recht, er nimmt die beiden mit. Und Johannes hatte mit seinem Hinweis auf Jesus an die beiden Jünger schon die Tür dafür geöffnet, dass die beiden, wie Johannes selbst, Jesus anerkennen und damit ab sofort einem neuen Meister folgen.

Von der Vergangenheit in die GegenwartSoweit ist mir die Szene nun klar. Der Tag neigt sich ein wenig, die zehnte Stunde wäre in unserer Zeitrechnung 16 Uhr, also zwei Stunden vor dem Arbeitsende an einem normalen Tag. Es fällt ein etwas früher Vorhang in einem Nachfolgestück, das auch etwas von einem Drama mit Szenenwechseln hat. Am nächsten Tag, oder jedenfalls bald, geht die Geschichte weiter. Die Erzählzeit wechselt aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Johannes, der Täufer, hatte noch da gestanden, hatte geredet, die Jünger waren gefolgt und hatten gesprochen. Jetzt findet Andreas seinen Bruder Simon und spricht zu ihm. Das scheint die Mitte der Szene zu sein, jetzt stecken wir mitten in der Gegenwart des Textes. Danach wird wieder in der Vergangenheit berichtet. Andreas führte Simon zu Jesus, und Jesus sprach zu Simon.

Was zwischen Andreas und Simon jetzt berichtet wird, ist nicht nur die logische Fortsetzung. Was erzählt wird, vertieft die Szene, die wir uns gerade klar gemacht haben. Wir erfahren den Namen eines der beiden ehemaligen Johannesjünger, er heißt Andreas. Und hat einen Bruder: Simon. Und während ich gerade noch den Eindruck hatte, die beiden ehemaligen Jünger des Johannes seien bedeutsam gewesen, weil sie die ersten waren, die Jesus nachgefolgt sind, als sie ihren damaligen Meister Johannes über Jesus reden hörten – jetzt wird deutlich: Wichtig ist Andreas, der seinen Bruder Simon auf die Spur bringt. Andreas wird für seinen Bruder das Bindeglied zwischen Johannes dem Täufer und Jesus. Andreas holt Simon in die Geschichte mit hinein. Andreas ermöglicht, dass aus Simon bei Jesus dann Pet-rus wird.

Liebe Gemeinde, das Johannesevangelium hat eine erzählerische Seite, ein Textgewebe, in das immer auch theologische Fäden eingewoben sind. Die erzählerische Textur haben wir uns mit dem Weg der beiden Jünger von Johannes zu Jesus und die Hinzunahme des Petrus durch seinen Bruder Andreas schon verdeutlicht. Einer der theologischen Fäden im vierten Evangelium folgt den Jesus zugeschriebenen Bezeichnungen. Dieser Faden reiht theologische Schlüsselworte auf. Hier sind das die mit großer Bedeutung beladenen Worte „Lamm Gottes“ – „Rabbi“, „Meister“ – „Messias“, „Gesalbter“. Jeder Begriff hat eine lange Geschichte schon im Alten Testament.

Ein weiterer theologischer Faden der Geschichte ließe sich an den Namen der Protagonisten weiterspinnen. Dann würden wir jetzt noch mehr über Simon nachdenken, über den Jünger, der zum Petrus und damit so etwas wie der Sprecher aller Jünger wurde, der Jesus besonders drastisch verleugnete und von Jesus nach Ostern neu berufen wurde. Aber bleiben wir lieber bei Jesus und den alten Begriffen, die wie Perlen an einer kostbaren Kette aufgereiht sind. Alle Stichworte zu Jesus sind durch und durch jüdisch imprägniert.

Stichworte zu JesusBleiben wir für heute am Faden der theologischen Stichworte. „Lamm Gottes“ hatte Johannes über Jesus gesagt und hat damit den Staffelstab der Erkenntnis seinen früheren Jüngern übergeben. Das Schlüsselwort vom „Lamm Gottes“ beschreibt die alte biblische Einsicht, dass Gott seinen Knecht an der Stelle des Volkes leiden lässt, und so sein ganzes Volk von seinen Sünden reinigt. So wie Johannes hatte schon das Alte Testament (Jes 53) vom Knecht Gottes gesprochen.

„Lamm Gottes“ hatte Johannes über Jesus gesagt und hat damit den Staffelstab der Erkenntnis weitergereicht. Seine früheren Jünger waren auf dem Weg zu Jesus zu der Einsicht gekommen, dass Jesus ein „Rabbi“ ist. Und so haben sie Jesus als Rabbi, dem alten Ehrentitel, angeredet. Ein Rabbi ist ein kluger Mann, der sich so gut in den jüdischen heiligen Schriften auskennt, dass er sie auslegen kann, wie Gott sie im Innersten gemeint hat. Ein Rabbi kümmert sich vor allem um die Gebote Gottes, von denen er weiß, wie sie heute noch befolgt werden können, sodass sie zum Leben führen. Wer also Jesus als Rabbi bekennt, betont seine Verbindung zum Willen Gottes, wie er in den fünf Büchern Moses grundgelegt ist.

Die ersten Jünger, die mit Jesus unterwegs waren, sind schnell zu der Einsicht gekommen, dass Jesus ein Rabbi ist. Jesus weiß, was Gott von uns will. Und damit auch wir verstehen, wovon die Jünger Jesu reden, wenn sie Jesus den Rabbi nennen, kommt in der Geschichte, die vom Anfang der Jünger mit Jesus erzählt, unvermittelt die Stimme des Evangelisten Johannes aus dem Off, die sagt: „Das heißt übersetzt: ‚Meister‘.“ Jesus kennt nämlich nicht nur den Willen Gottes aus den alten heiligen Schriften, sondern er kann uns auch klar sagen, was wir heute tun sollen.

Nach einiger Zeit mit Jesus hat der eine der beiden Jünger es noch besser durchdacht. Als er seinem Bruder von seinem neuen Meister erzählt, nennt er Jesus den „Messias“. Das ist ein alter, schon etwas mit Geschichte belasteter Begriff, den man-che frommen Juden gar nicht mehr gerne hören. Damit auch wir verstehen, was der Begriff alles im Gepäck transportiert, kommt erneut die Stimme des Evangelisten aus dem Off, die sagt: „Das heißt übersetzt: der ‚Gesalbte‘.“ Damit wird also auch Jesus als der große Hoffnungsträger bezeichnet, auf dem die ganzen schweren Erwartungen liegen, die sich seit Generationen entweder auf einen besonderen Priester oder auf einen besonderen König in Israel richten. Ein Priester wie einst Aaron müsste es sein. Ein König wie einst David oder Salomo. Allen jüdischen Hoffnungen auf den Messias als den Gesalbten gemeinsam ist, dass nur Gott diesen Hoffnungsträger designieren und auswählen kann. Ein menschliches Maß reicht bei der Größe der Erwartung an den Erlöser Israels nicht mehr.

Eigene Schlüsselworte für Jesus findenSo ist das offensichtlich mit Jesus: es kommt darauf an, dass man passende Begriffe für das findet, wer Jesus ist. Heute kommt es stärker noch als früher darauf an, dass wir unsere eigenen Begriffe für Jesus finden. Wir sollten nicht nur nachsprechen, was Johannes über Jesus sagt, so wichtig es ist, in Jesus das „Lamm Gottes“ zu erkennen. Wir sollen nicht nur nachsprechen, was seine ersten Jünger über Jesus sagten, so wichtig es ist, in ihm den Rabbi zu erkennen, der uns den Willen Gottes lehrt. Wir sollten nicht schlicht nachsprechen, was die Jünger über Jesus sagen, die schon etwas länger mit Jesus zusammen unterwegs sind und die von Jesus als Messias reden, so wichtig es ist, in Jesus den Juden zu erkennen, der von Gott gesandt wird, um ewigen Frieden und Gerechtigkeit in der Welt vor dem Ende durchzusetzen.

Wir stehen vor der Frage, wer Jesus für uns ist, wen wir in dem Gotteslamm-Rabbi-Meister-Gesalbten-Christus erkennen, und welche Botschaft von Gott wir weitergeben wollen, wenn wir von diesem Jesus reden. Wen erkennen wir, wenn wir auf Jesus schauen? Wer ist Jesus für uns, wenn wir alles zusammenfassen, was wir Heutigen und Hiesigen in seiner Nachfolge erlebt haben? Wer ist Jesus für mich, wenn ich bekennen soll, wie er mich seit meiner Taufe auf seinen Namen geprägt und geformt hat?

Wir können die Antwort der Tradition nachsprechen und Jesus so bekennen, wie diejenigen, die mich zu ihm gebracht haben. Aber wäre es zu viel verlangt, dass wir auch uns als Staffelläufer begreifen? Dass wir in unserer Zeit mit unseren Worten von Jesus erzählen? Wenn ich so von Jesus erzählen kann, dass Jesus heute zu begreifen ist, kann ich beanspruchen, den Predigttext aus dem ersten Kapitel des Johannesevangeliums für heute ausgelegt zu haben.

Tradition und NeuauslegungUnsere Kirche ist derzeit von Menschen geprägt, die das eine oder das andere versuchen: Jesus konventionell nacherzählen oder Jesus heute neu auslegen. Es sind Menschen darunter, die schlicht versuchen, der Tradition viel abzugewinnen, die Jesus also am liebsten als „Rabbi“, als „Meister“ oder als „Messias“, also als „Gesalbten“ bekennen. Man sollte noch das Stichwort hinzufügen, auf das es dem Johannesevangelium in besonderer Wese ankommt, wohin das Evangelium seine Leser führen will, dass sie nämlich in Jesus den „Sohn Gottes“ oder auch nur schlicht „den Sohn“ begreifen, an den zu glauben entscheidend ist.

Unsere Kirche ist derzeit zugleich von Menschen geprägt, die sich stärker als der Tradition und dem konventionellen Glauben einer unabhängigeren, eigenen, gerne auch eigensinnigen Auslegung des Evangeliums verpflichtet wissen. In dieser Prägung frage ich uns heute danach, wie wir Jesus heute bekennen, wenn wir ihn aus unserer aktuellen Perspektive beschreiben sollen, ohne uns zuerst der Tradition zu verpflichten. Ich kann diese Frage zuerst nur für mich selbst beantworten. Mein Versuch, Jesus aktuell auszulegen, ist keine ausschließende Alternative zur Tradi-tion, nur weil ich versuche, ohne die Begriffe der Tradition auszukommen.

Für mich ist Jesus …Für mich ist Jesus Gottes einzigartiger, ewiger Selbstversuch, uns Menschen ein Leben als Mensch zu ermöglichen. In Jesus wird nicht nur Gott Mensch, wie das die Tradition ausgedrückt hat, sondern auch der Mensch wird in Jesus Mensch. Für mich ist erst in Jesus mein Menschsein sinnvoll zu Ende gedacht, erst in Jesus wird mein Leben bis zum letzten Zielpunkt menschlich gelebt. Für mich gibt es deshalb keinen Menschen, der an Jesus vorbei ein Mensch sein könnte und der ohne Gott Mensch sein müsste. Für mich gibt es keinen Menschen ohne Gott – fern von Gott: vielleicht; ohne Gott: nein.

Für mich gibt es keinen Menschen, der sich nur vor sich selbst zu verantworten bräuchte. Jesus ist für mich, in der Linie des Johannesevangeliums, Gottes schwerwiegender Versuch, jeden Menschen auch dann noch als Menschen anzusprechen, wenn er sich aus Angst vor den Menschen oder sich selbst in ein verängstigtes Tier oder aus religiöser oder persönlicher Verblendung in einen irregeleiteten Attentäter verwandelt. Jesus wäre für mich der Mensch, der sich zwischen einen Attentäter und sein Mordwerkzeug und vor dessen potenzielles Opfer stellen würde. Und Jesus ist für mich der Mensch, der Gott höchst persönlich das Leid dessen klagt, der den geliebten Bruder und die geliebte Schwester, der die Mutter oder den Vater verloren hat.

Deshalb ist für mich jeder Gruß auf der Straße ein herzlich-echtes „Grüß Gott“, jedes Gespräch mit einem Menschen eine mögliche Begegnung mit Jesus, ist für mich Martin Luther ein munterer, frühmoderner Jesusnachfolger, von dem ich viel über Jesus lernen kann, ist für mich jede Beerdigung neben dem Trauerfall auch eine Jesusbegegnung, jedes Menschenleben ein Hinweis auf Jesu Kreuz und Auferstehung – und jede Predigt ein Versuch, mich zu diesem Jesus zu bekennen, sei es mit dem Mittel der Tradition, die ich kenne und schätze, oder sei es mit dem gestotterten Mut dessen, der sich durch seine unfertigen Formulierungen gerne angreifbar macht, wenn es uns gemeinsam Jesus näherbringt. Ich kann nur dazu einladen, mit mir gemeinsam zu stottern, oder, wo jemand solches vermag, mich eines Besseren zu belehren, ich lerne gerne dazu, was ich immer lernen kann, in Jesu Namen.
Amen.

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