5. Sonntag nach Trinitatis (05. Juli 2015)
Pfarrerin i.R. Renate Ganzhorn-Burkhardt, Mössingen [r.gabu@gmx.de]
Lukas 5, 1-11
Liebe Gemeinde,
Fülle des Lebens leuchtet uns entgegen aus den Bildern dieser Geschichte, aufgenommen aus verschiedenen Blickwinkeln und mit verschiedenen Einstellungsgrößen. Fülle des Lebens so überwältigend, dass sich fast von selber die Frage aufdrängt nach den Grenzen unserer Kapazität und nach dem Gebieter dieser Fülle, der in großer Freiheit alle Begrenzungen überschreitet und überwindet.
Begeisterte und bedrängende Fülle der MenschenDa ist die Fülle der Menschen gleich zu Beginn, die sich zu Jesus drängt, sodass sie fast (so wörtlich übersetzt) auf ihm zu liegen kommt. Sie drängt zu ihm, um zu hören, Gottes Wort zu hören.
Bilder vom Stuttgarter Kirchentag drängen sich mir da auf mit den „wegen Überfüllung geschlossen“-Schildern schon bei manchen Bibelarbeiten am Morgen, den Menschenmassen in Bewegung zu den verschiedensten Orten – ja, auch sie sind gekommen, um zu hören, Gottes Wort im Durcheinander der vielen Stimmen, die täglich auf uns eindringen, als Orientierung und Wegweisung.
„Ich brauche diese Kirchentage mit ihrer ganz besonderen Atmosphäre, der Musik an allen Ecken und Enden und den vielen Menschen, ich brauche sie als Ermutigung für die kommenden zwei Jahre, wo sich dann wieder eine Handvoll Menschen im Kirchenschiff verlieren bei den Sonntagsgottesdiensten und man kaum noch von Gemeindegesang sprechen kann, weil da vor allem die Orgel zu hören ist...“, so sagte mir ein Kollege, aber seine Frau hat bedächtig den Kopf gewiegt:“ Ja freilich“, hat sie gemeint, aber mich hat das auch ganz schön angestrengt – manchmal hab ich richtig Platzangst bekommen unter diesen Menschenmassen – das kann ja auch etwas Bedrängendes haben...“
Wunderbare und nicht zu fassende Fülle der FischeDa ist die Fülle der Fische in den Netzen und in den Booten der Fischer, die auf Jesu Aufforderung am hellichten Tag hinausgefahren sind in die Mitte des Sees Genezareth, von der sie nach einer langen frustrierenden Nacht doch erst zurückgekommen waren:
Eine solche Fülle, dass die Fangnetze zerreißen und die total überladenen zwei Fischerboote zu sinken beginnen.
Eine Fülle, die für Petrus und seine Gefährten nicht zu fassen ist im wahrsten Sinn des Wortes, die sie in Lebensgefahr bringt, wenn sie nicht loslassen, was ihre bescheidene Aufnahmemöglichkeit übersteigt, und so ihrerseits auf Distanz gehen zu dieser Fülle des Lebens.
Und neben diesen beiden Fülle-Bildern in der Totale die Nahaufnahme: der genaue Blick auf den, der diese Fülle hervorruft und hervorbringt und auf den, der angesichts dieser Fülle seine eigenen Grenzen erkennt und eine neue Lebensperspektive gezeigt bekommt.
Schauen wir uns die beiden so nahe an, wie Lukas sie uns zeigt:
Nahaufnahme Jesus: Inmitten aller Fülle ist Einer SouveränDa steht einer für sich am Ufer des Sees Genezareth: Welche Souveränität strahlt der aus, wie selbstverständlich übertritt und überwindet er die kleinlichen Grenzen unserer menschlichen Konventionen und Traditionen: Er ist so frei, der andrängenden Menge den Rücken zuzukehren und seinen Blick zu richten auf zwei Fischerboote am Ufer, deren Besitzer am Rand nur erscheinen, ausgestiegen, um ihre Netze zu waschen.
„Da trat er in der Schiffe eines, welches Simons war.“ Er tut dies so selbstverständlich, als wäre es seins, und bittet darüber hinaus auch noch den am Ufer arbeitenden Bootsbesitzer, „es ein wenig vom Land wegzufahren“.
Dann lässt er sich nieder: Jetzt hat er die richtige Sitzhaltung gefunden und den richtigen Abstand zur Menge, um ihnen zum Lehrer werden zu können. Jetzt sieht er sie, jetzt lehrt er sie, und dann hört er auf damit und ändert erneut seine Blickrichtung.
Jetzt richtet er den Blick und das Wort auf Simon, den er vorher so selbstverständlich aus seiner Arbeitswelt geholt und für sich beansprucht hat, und was er sagt, zeigt: Längst schon hat er diesen Simon und seine Gefährten und ihre Lage durchschaut, hat sie erkannt als der Hilfe bedürftig: „Fahre hinaus ins Tiefe und werft eure Netze aus zum Fang!“
Nahaufnahme Simon: Fülle des Vertrauens trotz frustrierender ErfahrungenUnd damit bringt er den Simon vom Rand in die Mitte des Bildes, auf Augenhöhe mit ihm. Jetzt tut der seinen Mund auf: „Meister“, redet er ihn respektvoll an, um dann seine prekäre Situation mit einem Satz zu erläutern: Die ganze Nacht, die Zeit, die für den Fischfang günstig ist, haben wir geschuftet – und nichts gefangen. Nichts.
Das ist das genaue Gegenteil zur Fülle des Lebens: die pure Armut, die frustrierende Leere ohne Perspektive. Nichts. Und dann bricht sie doch durch, die Fülle des Lebens – in Simon selber; sie zeigt sich in dem Aber, das er wagt, in der Freiheit, gegen alle Vernunft und Wahrscheinlichkeit zu handeln, aus dem einen Grund, weil er sein Gegenüber sieht als einen ihm Überlegenen, dem er vertraut und dessen Wort er nicht nur hören, sondern sich zu Herzen nehmen will: „Aber auf dein Wort hin werfe ich jetzt die Netze aus.“
Und dann kommt er zum Handeln, gemeinsam mit seinen Gefährten, die jetzt auch in den Blick kommen, bis aus der Nahaufnahme wieder die große Totale wird: Da scheint der See zu wimmeln von Fischen, die sich geradezu in die Netze und in die Boote drängen, eine Fülle sondergleichen, wunderbar.
Kein Sommermärchen, sondern neue Realität für Simon PetrusLiebe Gemeinde,
wäre diese Geschichte ein Märchen, so würde sie hier schnell zu einem Happyend führen, etwa so:
„Und ihre Netze wurden wie von Zauberhand vergrößert und verstärkt, und sie brachten einen so reichen Fang an Land wie noch nie in ihrem Leben, und verkauften ihn für so viel Geld, dass sie in Zukunft keine Sorgen mehr zu haben brauchten. Und Petrus sagte zu seinem Wundertäter: Ich danke dir von ganzem Herzen. Komm mit mir in mein Haus und bleibe bei uns! Und so lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr ENDE.“
Sie ist aber kein Märchen, diese Geschichte: Schon der Fischfang selber hat ja nicht nur etwas Wunderbares, sondern auch etwas Bedrohliches an sich – welche Hektik entsteht, wenn da die Netze zerreißen und nach anderen Netzen und Booten gerufen werden muss, und hilft alles nichts, weil es eben bloß zwei kümmerliche Boote gibt und die paar Fischer hier sehr schnell an ihre Grenzen stoßen angesichts dieser grenzenlosen Fülle.
Und darum geht der Blick jetzt wieder in die Nahaufnahme zurück .Jetzt, erst jetzt wird der Name des Souverän genannt: Jesus. Jetzt, erst jetzt erhält Simon den Beinamen, der ihn bis heute bei uns berühmt gemacht hat: Petrus, der Fels. Der Fels des Vertrauens in schwieriger Situation. Dieser Simon Petrus ist kein Romantiker, sondern ein Realo durch und durch, der sehr wohl seine Grenzen kennt:
„Herr“, sagt er jetzt zu Jesus, nicht mehr nur „Meister“, nein, „Herr“ – wie zu einem mächtigen Herrscher oder zu Gott selber, „Herr“, sagt er und wirft sich ihm zu Füßen. „Geh weg von mir, denn ich kann dich nicht fassen, du bist zuviel für mich. Ich bin ein Mensch, der seine Fehler und Grenzen hat, wie soll ich da deine Nähe aushalten können?“
Und er hört Jesu Antwort: „Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du einer sein, der Menschen auffängt.“
Neue Lebensperspektive für Simon Petrus und seine Gefährten: Menschen auffangen„Von jetzt an wirst du einer sein, der Menschen auffängt.“ So, liebe Gemeinde, lautet die wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen.
Das klingt für mich besser, eindeutig lebensbejahender als die traditionelle Lutherübersetzung „Von nun an wirst du Menschen fangen“.
Menschen fangen – das geschieht heute leider allzuoft im üblen Sinn. Nicht nur die Menschenjagden und -verfolgungen ( meist Christen betreffend) in den Krisenländern Afrikas stellen sich mir da vor Augen, sondern auch der Bericht über den jungen Freiburger, der vor einigen Tagen in der Südwestpresse erschien: der war von den Werbern der Salafisten umgarnt und eingefangen worden mit dem klaren Ziel, sich in Syrien der IS anzuschließen und dort bei einem Selbstmordattentat möglichst viele Menschen mit sich in den Tod zu reißen. Mit ihm zusammen starben über dreißig Menschen.
Gerade ein solches Fangen zum Töten und Getötetwerden schließt Jesus hier aus, indem er ein seltenes Wort verwendet, das „Fangen“ mit „Leben retten“ verbindet:
Das Auffischen der hilflos in ihren maroden Booten treibenden Flüchtlinge im Mittelmeer etwa lässt sich so bezeichnen, aber auch das, was Kurt Fuchs, Gemeindebeauftragter der Stuttgarter Hospitalkirche beim Kirchentag, so beschrieben hat: „Die Kirche hat mich aufgefangen.“
Er erzählt:
„Als ich nach dem Tod meines Lebenspartners in eine tiefe Lebenskrise geriet, da haben mir Menschen der Kirchengemeinde so geholfen, obwohl ich vor Jahren schon aus der Kirche ausgetreten war wegen ihrer schwulenfeindlichen Haltung.Sie haben mich schon bei der Beerdigung meines Mannes, aber auch danach spüren lassen, dass ich auch als Schwuler hier akzeptiert bin, und ich habe immer tiefer gespürt: ja, in dieser Kirche ist meine Heimat.“
Inzwischen ist er wieder in die Kirche eingetreten und arbeitet jetzt auch beim Kirchentag mit am Projekt „Menschen auffangen“.
Das also ist die neue Lebensperspektive, die Jesus dem Petrus und denen, die mit ihm sein wollen, bietet, statt sich von ihm zurückzuziehen: Nicht Fische soll er mehr fangen, um sie dann zu töten für die Menschen, nein, Menschen soll er auffangen aus ihrer Not, aus ihren engen Grenzen, aus ihrer Armut und Perspektivlosigkeit, und sie zu dem bringen, der Leben in Fülle schenken kann und will.
Alles verlassen, was uns hindert am Leben in Jesu NäheNicht Menschen fangen für Tod und Verderben, sondern Menschen auffangen für ein Leben in Jesu Nähe – darauf als ihren Höhepunkt zielt die ganze Geschichte mit ihren Bildern in den verschiedenen Einstellungsgrößen. Dementsprechend lautet ihr Schluss: „Und sie führten die Schiffe ans Land, verließen alles – und folgten ihm nach.“
Petrus ist einer, der schon immer Gefolgsleute zu sich gezogen hat. Jakobus und Johannes etwa werden namentlich genannt als solche, die seine Berufung in Jesu Nähe miterlebt und mitgetragen haben, und bis heute versteht sich die katholische Kirche als Gemeinschaft derer, die mit Petrus an der Spitze Jesus nachfolgen. Unsere Geschichte jedenfalls lädt uns ein, den Weg des Petrus zu betrachten als einen, der auch für uns der richtige sein kann.
„Wir haben alles verlassen, unsere Heimat, unsere Familien, unsere Freunde, alles,was wir besaßen, um hier ein Leben in Freiheit und ohne Gewalt zu finden. Ob es uns gelingt und wie es aussehen wird, das wissen wir nicht, wir können nur hoffen“ – so oder ähnlich haben Sie gewiss auch schon etliche Menschen sagen hören, die bei uns Asyl gefunden haben.
Der Unterschied zu Petrus und all denen, die mit ihm sein wollen (also auch uns) besteht freilich darin, dass Petrus weiß (und wir wissen es mit ihm), wem er sich da anschließt auf dem Weg in das neue Leben. Den Weg kennt er nicht, aber er kennt jetzt den, der ihm vorausgeht und ihn mitnimmt auf seinem Weg. Das ist ihm genug. Das ist Grund genug auch für uns, an unserem Ort, auf unserem Lebensweg auf Jesu Wort hin immer neu Grenzen zu erkennen und zu überwinden, alte Verhaltensmuster und eingeschliffene Vorurteile hinter uns zu lassen und ihm nachzufolgen mit unseren ganz persönlichen „Menschen-Auffang-Möglichkeiten“. Amen.
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