4. Sonntag nach Trinitatis (14. Juli 2019)
Lukas 6, 36-42
IntentionDer Predigttext besteht aus einer Sammlung vermutlich schon vorlukanisch zusammengestellter Logien unter der Überschrift «Seid barmherzig».
Jeder Satz des Predigttextes ist von theologisch qualifizierten Termini bestimmt, die in der Alltagssprache nur selten begegnen, und dazu herausfordern, alltägliche Wörter und Kontexte zu finden. - Zugegebenermaßen um den Preis einer gewissen Vereinfachung.
Aus Barmherzigkeit wurde Großzügigkeit, aus Richten Urteilen.
Der Predigttext hat wirkungsgeschichtlich zum Moralisieren verführt. Diesen Ton wollte ich vermeiden, da die im zweiten Teil verwendeten Bilder durchaus mit Humor zu lesen sind.
Da die Vergleiche (blinde Wegweiser, Balken im Auge) dem Bereich des Sehens entstammen, wurden sie von mir mit der Vorstellung vom freien Blick aufgenommen.
Diese Predigt ist die letzte, die ich in dieser Gemeinde halte. Sie trägt das Kolorit des Rückblicks und Abschieds.
Lukas 6, 36-42Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.
Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.
Vergebt, so wird euch vergeben.
Gebt, so wird euch gegeben.
Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch (zu)messen.
Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.
Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.
Liebe Gemeinde,
wer sagt eigentlich, dass Pfarrerinnen Geburtstagsbesuche machen müssen? Die können ja so gründlich schiefgehen. So wie einer der ersten, die ich in dieser Gemeinde vor nunmehr zwölf Jahren gemacht habe:
Schnelles Urteil? Vorurteil!Es war an einem Freitag. Da ich vormittags Schule hatte, besuchte ich den Jubilar am Nachmittag. Seine Frau öffnete und sagte: «Ich dachte, Sie machen keine Geburtstagsbesuche!?» - «Doch, doch. Eigentlich schon, wenn es mir möglich ist.» - «Wir haben Sie am Vormittag erwartet.» - «Das tut mir leid, ich hatte Schule.» - «So? Unser Besuch heute Morgen hat gesagt, Sie machen keine Geburtstagsbesuche.» - «Doch, doch. Ich bin ja jetzt da.»
Und das Gespräch ging nach meinen Glückwünschen ähnlich weiter: «So nett wie ihr Vorgänger sind Sie aber nicht.» - «Ja, ich habe gehört, dass er sehr beliebt war.» - «Ja. Das war ein prima Kerle … So nett sind Sie nicht.»
Ganz offensichtlich erfüllte ich die Erwartungen dieser Leute nicht. Oder vielleicht doch? Denn sie waren schon vor dem ersten Kennenlernen überzeugt, dass ich sie eben nicht überzeugen würde. Egal, ob ich nun fast so nett oder halb so nett oder überhaupt nicht so nett wäre wie mein Vorgänger.
Das Vorurteil, das mir da begegnete, hatte die fatale Folge, dass ich jenes Ehepaar auch nicht nett fand, sondern nur herzlich unsympathisch.
Negative Beurteilungen verunsichern uns. Sie stellen unseren Selbstwert in Frage. Sie verletzen. Wer aber ungehemmt und ungerecht kritisiert, vergisst: «Eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch messen.»
Großzügigkeit lohnt sichIm Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Großzügigkeit lohnt sich. Ein weites Herz vor allem. Aber Lukas denkt ganz bodenständig auch an materielle Dinge und stellt an anderer Stelle fest: «Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon» (Lukas 16,9).
Der Evangelist schaut dabei nach vorne: Was du jetzt tust, das wird deine Zukunft bestimmen. Will heißen: Lass dich nicht von negativen Empfindungen oder Vorurteilen, die du aus zweifelhaften Quellen hast, leiten. Folge nicht unbesehen den Urteilen anderer. Sondern erwarte dir stets aufs Neue etwas Gutes von deinem Gegenüber. Das erhöht die Chance guter Begegnungen.
Ungerechtigkeit loslassenUnd andersherum betrachtet: Wenn du selbst ungerecht beurteilt oder behandelt wirst, hilft Jammern nur wenig. Lass die Ungerechtigkeit, die dir zugefügt wird, keine Macht über dich gewinnen, die dein Leben zerstört.
Erst wenn du ein ungerechtes Urteil über dich loslassen kannst, wenn du dich von ihm freimachen kannst, findest du zu dir selbst zurück. Und dann schau nach vorne. Was du jetzt tust, kann dir unverhofftes Glück schenken.
Keine Macht den Vorurteilen!Keine Macht den Vorurteilen!
Es ist schon eine Weile her, da klingelte an der Pfarrhaustür ein Mann. Dem Äußeren nach aus prekären Verhältnissen. Vielleicht aus dem «Berberdorf» unter der Neckarbrücke. Ich hatte ihn schon öfters gesehen. Er hatte nichts bei sich, nicht einmal einen Geldbeutel. Und wie ihm der abhandengekommen war, das war eine ganz verrückte Geschichte, die er mir in epischer Breite erzählte:
Er sei spazieren gegangen auf einem Feldweg bei Nellingen. Da sei ihm eine Dame mit einem Hund begegnet. Und der Hund sei plötzlich losgerannt und die Frau sei gestürzt und der Hund habe sie an der Leine hinter sich hergezogen.
Da habe er eingegriffen und den Hund gestoppt und der Frau aufgeholfen.
Aber sie sei böse zugerichtet gewesen und da habe er ein Taxi gerufen, um sie nach Hause zu bringen. Und im Taxi habe er dann seinen Geldbeutel liegen lassen und daher brauche er nun Geld für den Bus zurück in die Stadt.
«Das ist ja eine dolle Geschichte», habe ich spontan gesagt. Und zu meinem Geldbeutel gegriffen und ihm fünf Euro gegeben. Er guckte mich ganz verblüfft an. Offenbar hatte er mit weiteren Nachfragen gerechnet. Oder eben nur mit den üblichen zwei Euro.
Lügen durchgehen lassenMir war ziemlich klar, dass die ganze Geschichte frei erfunden war. Aber ich hatte irgendwie Lust, so viel Fantasie zu honorieren. Es hat mir richtig Spaß gemacht. Denn es ist mir lieber, wenn man mir eine lustige Lügengeschichte auftischt als eine traurige. Die lustigen Geschichten sind irgendwie vitaler. Die Klagegeschichten machen mich eher depressiv.
Ein Mann, der mit so einer Geschichte daherkommt, appelliert nicht nur an meine «christliche Moral». Er gibt mir auch die Chance, über die witzigen Momente in der Geschichte zu schmunzeln und ihn ob seiner Ritterlichkeit zu loben.
Was man in so einer Situation nicht tun sollte: die Lüge entlarven. Den Mann durch Demaskierung demütigen.
Meine Bemerkung war ja nahe daran: «Das ist ja eine dolle Geschichte!»
Dieser kleine Satz deutete an, dass ich sie, wenn nicht für frei erfunden, so doch zumindest für reichlich übertrieben hielt.
Aber die kleine Gabe - fünf Euro - hatte etwas von einem verschwörerischen Einverständnis: «Ich will so tun, als ob ich dir glaube … auch wenn es reichlich fantastisch ist, was du erzählst. Ich will dir glauben, dass du so gehandelt hättest, wenn das alles passiert wäre … Ich will an dein weites Herz glauben.
Und wenn ich in deine Augen sehe, dann übersehe ich alle Splitter, weil ich auf den Grund deines Herzens blicken will.»
Splitter und Balken übersehenLiebe Gemeinde, vielleicht überlegen Sie jetzt, ob ich den Satz vom Splitter im Auge des Bruders nun nicht doch irgendwie verdreht habe. Kann sein. Wäre mir aber egal. Denn dieses kleine Gleichnis ist vom Evangelisten sowieso eher als Witz gebraucht, denn als moralisches Gebot. Es gehört in die Kategorie «Humor in der Bibel».
«Herunter vom hohen Ross!» Das ist der Appell, der hinter dem Gleichnis steht. Und der Evangelist Lukas illustriert dasselbe Anliegen im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das er Jesus in den Mund legt.
«Herunter vom hohen Ross!» funktioniert dort allerdings nicht beim Priester. Und beim Leviten auch nicht. Es funktioniert erst beim Mann aus Samaria, der vom Esel steigt. Der wird von Jesus glücklich gepriesen, weil er dem Mann in Not Barmherzigkeit erwiesen hat.
Darum geht es: Das Gegenüber in seiner Situation mit offenen Augen und offenem Herzen wahrzunehmen. Und dann, wenn nötig, zu handeln.
Vielleicht ist mir mein Gegenüber an der Pfarrhaustür mit einer faustdicken Lüge gekommen. Und jenes Ehepaar pflegte mir gegenüber ein Vorurteil, das schon an Bosheit grenzte.
Tatsächlich würde ich aber nichts gewinnen, wenn ich den einen ihr ungerechtes Urteil oder ihre Bosheit nachweise und dem anderen seine Lügen.
Ich kann nur gewinnen, wenn ich großzügig alle Rechthaberei loslasse. Wenn ich also diesen Balken aus dem eigenen Auge ziehe. Dann wird mein Blick frei. Dann gewinne ich Zukunft: «Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß …» Ein großes glückliches Herz.
Geburtstagsbesuche?!Was ist nun mit den Geburtstagsbesuchen der Pfarrerinnen? Wer sagt nochmal, dass wir die machen müssen?
Die Barmherzigkeit, die irgendwie «von innen» anklopft. Und die Gerechtigkeit. Um der Gerechtigkeit willen, will ich am Ende ein letztes Beispiel erzählen:
Denn Besuch ist nicht gleich Besuch. Und Torte nicht gleich Torte. Manchmal ist die von Coppenrath und Wiese besser, als jede andere:
Da gab es einen alten Herrn, den habe nur ich zum Geburtstag besucht, sonst niemand. Und mit wachsender Vertrautheit habe ich vor dem Kaffeetrinken schnell noch seine Tassen gespült, denn seine Augen waren so schlecht, dass er die Rändchen darin nicht mehr sehen konnte. Die Torte dazu hatte er im Supermarkt besorgt. Es war mit die beste, die ich so das Jahr über angeboten bekam. Denn sie war mit so viel freudiger Erwartung gekauft und mit so viel Liebe und Großzügigkeit angeboten, dass sie einfach nicht zu übertreffen war.
Um das einzusammeln, «ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß», dass mindestens zwei Herzen erfüllt, darum sollten wir solche Besuche machen.
Manchmal fragen wir uns ja: Was hätte Jesus getan? Hätte er auch Geburtstagsbesuche gemacht? Sagen Sie nicht zu schnell «Nein»!
Ich bin sicher, er hätte sich auch einladen lassen zur Torte … Steht ja schon in der Bibel, dass man ihn für einen «Fresser und Weinsäufer» hielt.
Er hätte nicht mit der Wimper gezuckt bei Coppenrath und Wiese. Im Gegenteil.
Aber vermutlich hätte er auch andere Torten nicht verschmäht. Denn anderswo sieht die Not anders aus. Anderswo, bei jenem Ehepaar zum Beispiel, ist sie vielleicht weniger offensichtlich. Da weiß der Meister mehr als der Jünger oder die Jüngerin.
Schlussfrage: Wer von diesen allen, die ich Ihnen heute vor Augen geführt habe, hat die Großzügigkeit Gottes erlebt? Wen hätte Jesus glücklich gepriesen?
Natürlich weiß ich das nicht. Aber ich ahne es. «Selig sind die Barmherzigen» auf der einen und auf der anderen Seite der Kaffeetafeln, selig die Großzügigen – im Denken, im Urteilen und im Handeln.
Amen.
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