4. Sonntag nach Trinitatis (19. Juni 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrer Gottfried Hengel, Plochingen [Gottfried.Hengel@elkw.de]

Römer 14, 10-13

Liebe Gemeinde,

bestimmt haben Sie zuhause eine Kommode mit vielen Schubladen. Zweckmäßigerweise steht sie dort, wo man eine Menge verstauen muss – im Schlafzimmer etwa. Oder im Esszimmer.

Schubladen in Kommoden sind praktischDort findet dann alles Mögliche seinen Platz:
Socken und Servietten, T-Shirts und Tischdecken, Unterwäsche und Überdecken. So eine Kommode mit möglichst vielen Schubladen ist schon eine praktische Sache.

Solche Schubladen finden sich allerdings nicht nur in Wohn- oder Schlafzimmern unserer Häuser.

Wir finden sie auch in den Köpfen der Menschen. Ich denke an die Schubladen, in die wir, bewusst oder unbewusst, Menschen einordnen. Menschen in unserem Alltag, Menschen, mit denen wir direkt oder indirekt zu tun haben.

Derjenige ist so, wir wissen es – Schublade auf und rein.
Die dort verhält sich immer so – Schublade auf und wegpacken.

Solche Schubladen im Kopf sind sehr viel verbreiteter, als wir denken. Sie fallen zunächst nicht so ins Auge wie die aus Nussbaum oder Kiefer. Und doch merken wir die Existenz solcher Schubladen spätestens dann, wenn über andere Menschen geredet wird.

In den allermeisten Fällen sind diese Schubladen nicht vorteilhaft für die, die hinein gesteckt werden.
Fast immer liegt ihnen ein Urteil zugrunde, oder besser gesagt, ein Vor-urteil.

Ich möchte nur ein paar solche Schubladen nennen:

Flüchtlinge kommen aus einem anderen Kulturkreis – und passen deshalb nicht zu uns. Und außerdem, nach dem, was an Silvester passiert ist – kann man denen denn noch trauen?

Sozilahilfeempfänger sind selbst schuld an ihrer Lage. Deshalb geht es ihnen viel zu gut. Letztlich liegen sie uns auf der Tasche. Wer sich anstrengt, bringt es auch zu etwas im Leben.

Oder, wenn wir eine Schublade aus der Zeit des Paulus öffnen, in die leider auch er andere eingeordnet hat:

Frauen sind gegenüber den Männern minderwertig. Deshalb haben sie in der Kirche zu schweigen.

Wie oft werden Menschen in solche Schubladen gesteckt!

Schubladen im Kopf sind gefährlichSchubladen – bei Wäschestücken sind sie praktisch und unverzichtbar. Im Umgang mit Menschen aber sind sie bedenklich und gefährlich.

Um diese Schubladen, unsere Vorurteile, die wir ständig mit uns herumtragen, geht es Paulus auch in seinem Brief an die Römer.

Ihnen erteilt er eine klare Absage:

„Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten, sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder ein Ärgernis oder einen Anstoß gebe.“

Gewiss – eine gesunde Menschenkenntnis und ein klares Urteil sind ein Zeichen praktischer Lebenserfahrung.

Doch leicht wird aus diesem Urteilen ein Ver-urteilen. Wer andere in Schubladen steckt, spielt sich selbst zum Richter und Ordnungsmacher auf.

Andere Menschen zu verurteilen und in Schubladen zu stecken, ist aber etwas sehr anderes als Wäschestücke sauber aufzuräumen.

Paulus liefert eine sehr nachdrückliche Begründung, warum solche Schubladen im Kopf gefährlich sind.

Gott allein ist RichterEr schreibt:
„Wir alle werden vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
So wird nun jeder für sich selbst vor Gott Rechenschaft ablegen.“

Gott hat die letzte Deutungshoheit über mein Leben und über das anderer Menschen. Ich bin für meines verantwortlich – aber nicht für das anderer, über das ich meine, jetzt schon genau Bescheid zu wissen.
Deshalb soll ich nicht mit meinem Vor-Urteil dem Gottesurteil vorgreifen. Damit maße ich mir etwas an, das allein Gott zusteht.
Paulus spricht hier eine Kernaussage des christlichen Glaubens an:

Gott alleine ist Richter. Vor diesem Richter gibt es keine Unterschiede, schon längst keine, die uns Menschen mit unseren Schubladen in unseren Köpfen so wichtig wären.
Vor Gott im Gericht sind alle gleich.

Freilich – weil Menschen so gerne Schubladen ziehen, wurde der Glaube an Gott trotzdem oft genug zum Gegenteil verwendet. Er war keine Hilfe, andere Menschen gelten zu lassen, und sie Gott anheim zu befehlen, sondern er war Vorwand, um sie zu knechten und zu unterdrücken.
Gerade der Verweis auf das Gericht am Ende der Tage war in der Christenheit lange eine beliebte Gelegenheit, andere mit dem Schwert schon jetzt dieses Gericht spüren zu lassen, das doch eigentlich Gottes Sache sein sollte.
Und so wurde der Gedanke von Gottes gerechtem Gericht pervertiert zur Abrechnung der kleinkarierten Schubladenzieher.

Sie sind ja leider wahr, alle diese Schlagworte, die in Diskussionen gegen den Glauben von Kirchenkritikern immer wieder genüsslich angeführt werden:

Kreuzzüge, Inquisition, Verbrennen der sogenannten Ketzer,
Intoleranz, Verachtung, Abgrenzung gegenüber denen, die angeblich einen „falschen“ Glauben haben.
All das hat es in der Geschichte der Kirchen zur Genüge gegeben.

Hinter all diesen Verfehlungen steckt immer eine Schublade, in die die Andersdenkenden gezwängt und für immer verschlossen wurden.

Wie Gott richtet, sehen wir am KreuzGottes Gericht aber sieht völlig anders aus.
Das haben wir in jeder Kirche vor Augen. Denn in jeder Kirche steht ein Kreuz.

Der Blick auf das Kreuz und auf den, der daran hängt, genügt, um zu sehen, wie Gott richtet.

In Christus hat er alle Schuld und alle Verfehlungen dieser Welt ans Kreuz getragen – ein für allemal.
Christus ist der Bürge dafür, dass Gottes Gericht kein Schubladenziehen wird, auch wenn wir Menschen das so gerne tun.
Christus am Kreuz wird zum Bürgen dafür, dass Gott der Richter einst unsere zwischenmenschlichen Schubladen auf den himmlischen Sperrmüll werfen wird.

Christus am Kreuz erinnert uns daran, dass Gottes Urteil ganz anders ausfallen wird, als wir uns das so vorstellen.

Davon hat schon Johann Albrecht Bengel gesprochen . Von ihm stammt der schöne Satz, der sich auch im Gesangbuch findet:

„Mancher, der sich vor dem Gereicht Gottes zu sehr gefürchtet hat, wird sich in der Ewigkeit ein klein wenig schämen müssen, dass er dem Herrn nicht noch mehr Güte zugetraut hat.“

Und am Ende werden das alle Menschen verstehen, und die Macht und Güte Gottes anerkennen, ohne Unterschied.
Das sagt der Prophet Jesaja voraus, den Paulus hier zitiert:

„Denn so wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen und alle Zungen sollen Gott bekennen.“

Diese Zukunftsvision könnte jetzt schon unseren Umgang miteinander bestimmen.

Sie könnte uns jetzt schon so miteinander umgehen lassen, wie Jesus es gemacht hat:

Nicht mit Vor-Urteilen andern Menschen begegnen, sondern das Urteil Gott überlassen. Sie mit dem Herzen wahrnehmen. Sie im Licht Gottes sehen, das sie nicht von der Gegenwart, sondern von der Zukunft her betrachtet.

Wer nun aber wie ich verschämt auf die Kommode in seinem Kopf schielt und spürt, dass er dort doch immer wieder eine Schublade zieht, weil es halt so verlockend ist, andere Menschen einzuordnen, der befindet sich zumindest nicht in schlechter Gesellschaft:

Selbst Paulus hat ja, wie schon erwähnt, das nicht immer geschafft, was er uns hier ans Herz legt.
Auch er ist nicht ohne Richten über andere ausgekommen – manchmal sogar in scharfer Form.
Doch das nimmt seinen Worten nichts von ihrer Bedeutung.

Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten…Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten – das gilt weiterhin.
Schön wäre es, wenn uns das im Umgang mit unseren Mitmenschen und auch in der Kirchengemeinde leitet.

Einander wahrnehmen, ohne den Blick zu verengen, uns durchaus die Meinung zu sagen, sie aber auch selbst zu ertragen, und uns bei allem nicht aufzugeben und keinen zu verurteilen – und unseren Drang zum Einordnen und Schubladenziehen nur auf T-Shirt und Tischdecken beschränken, das ist der Weg in Gottes Zukunft.

Deshalb hören wir zum Schluss einfach noch einmal auf das, was Paulus sagt und was in seiner Klarheit kaum zu überbieten ist.

„Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten, sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder oder seiner Schwester ein Ärgernis oder einen Anstoß gebe.“

Amen.


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