4. Advent (22. Dezember 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrerin / Studienrätin Stephanie Kscheschinski, Lörrach [stephanieloeffler@t-online.de]

Lukas 1, 39-56

IntentionMaria, die einfache Magd, singt ein großes Lied. Dieses Lied zieht hinaus in die Welt. Es singt davon, dass Veränderungen möglich sind. Gott erhebt die Niedrigen und stürzt die Gewaltigen vom Thron. Marias Lied ermuntert dazu, nicht müde zu werden im täglichen Hoffen, Beten und Singen, dass Gottes Reich kommen möge.

PredigttextMaria aber machte sich auf in diesen Tagen und ging eilends in das Gebirge zu einer Stadt in Juda
und kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth.
Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom heiligen Geist erfüllt
und rief laut und sprach: Gepriesen bist du unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes!
Und wie geschieht mir das, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?
Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe.
Und selig bist du, die du geglaubt hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn.
Und Maria sprach: meine Seele erhebt den Herrn,
und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;
denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich seligpreisen alle Kindeskinder.
Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten.
Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf,
wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.
Und Maria blieb bei ihr etwa drei Monate; danach kehrte sie wieder heim.
(Lukas 1, 39–56)

Liebe Gemeinde!
Es gibt Lieder, die ziehen hinaus in die Welt und verändern sie. Erinnern Sie sich noch an den Schlager von Jürgen Marcus aus dem Jahr 1975? „Ein Lied zieht hinaus in die Welt“ heißt der Titel. In dem Text singt der Interpret: „Ein Lied zieht hinaus in die Welt. Und Hoffnung bringt es. Wer immer es hört, der versteht, um was es geht.“

Vier Lieder im Weihnachtsevangelium von LukasOffensichtlich hat auch der Evangelist Lukas etwas gewusst von der Kraft, die in Liedern steckt. In seinem Weihnachtsevangelium finden wir vier Lieder.
Es beginnt mit dem Gesang des Zacharias, als dessen Sohn Johannes geboren wird – später Johannes der Täufer. Dieses Lied ist das sogenannte „Benediktus“ (Lk 1, 67-79). Dann folgt der Lobgesang des Simeon („Nunc dimittis“, Lk 2,29-32). Im Tempel in Jerusalem erkennt Simeon im neugeborenen Jesuskind den erwarteten Heiland. Damit geht für Simeon die Verheißung Gottes in Erfüllung. Als nächstes folgt das Lied der Engel, das „Gloria in Excelsis“: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“ (Lk 2,14). Dieser himmlische Gesang erklang damals den Hirten auf den Feldern bei Betlehem. Heute singen wir dieses Gloria im Gottesdienst, und J.S. Bach komponierte 1742 dazu eine Weihnachtskantate.
Und schließlich überliefert Lukas uns das „Magnificat“, das Lied Marias, das unser heutiger Predigttext ist.
Diese vier Lieder des Lukasevangeliums werden seit rund 2000 Jahren in verschiedenen Vertonungen und Varianten gesungen. Sie haben bis heute ihren Platz in der Messe und in den Stundengebeten der Klöster. Sie klingen in vielen Advents- und Weihnachtsliedern mit, die wir aus unserem Gesangbuch kennen. Und sie alle lassen uns fühlen, was die Menschen vor vielen Generationen und bis heute erwarten und hoffen: Veränderungen sind möglich. Gott selber greift ein.

Maria, eine junge Frau, singt das MagnificatEs ist ungewöhnlich, dass in der damaligen Welt eine junge Frau auftritt und laut singt. Ihre Rolle war eine ganz andere. Sie sollte sich um das Wohl der Familie im Haus kümmern: um Kochen, Backen, Waschen, Säen und Ernten. Dabei hätte sie leise vor sich hin summen können. Das wäre erlaubt gewesen. Aber laut auftreten und ein Lied singen, das hinauszieht in die Welt, das war nun wirklich nicht die Aufgabe einer Frau. Maria, die schwangere junge Frau, sprengt ihre gesellschaftliche Rolle auf. Sie singt kein Lied, das ihre tägliche Arbeit zum Thema hat. Sondern sie singt ein politisches Lied, das über Generationen hinweg das politische Schicksal ihres Volkes in den Blick nimmt. Sie kennt die Geschichte ihres Volkes. Sie weiß, dass Israel von den Römern besetzt und ausgebeutet wurde.

Marias radikale HoffnungenUnd so singt sie:
„Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“
Maria tritt hier klar und deutlich auf. Sie singt nicht, dass Gott ein wenig am Stuhl der Mächtigen sägt. Sondern sie vertritt klar den Standpunkt, dass die Gewaltigen, die sich selbst für mächtig halten, aus ihrer Machtposition herausgestoßen und entmachtet werden.
Damit bringt Maria zum Ausdruck, dass sie mit Gottes Eingreifen rechnet und dass wegweisende Veränderungen möglich sind.
Sie singt weiter:
„Die Hungrigen füllt Gott mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“
Maria solidarisiert sich mit den Armen und Erniedrigten.
Maria sieht das Elend vieler Menschen und spürt die Ungerechtigkeit und die Entwürdigung, die ihnen widerfahren ist. Sie weiß um die Unterdrückung durch die Römer und singt:
„Gott gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf.“

Maria steht in einer Reihe mit politischen Frauenfiguren ihrer Tradition
Maria ist nicht die erste Frau in der Bibel, die ein Lied singt, das hinauszieht in die Welt. Ganz am Anfang der singenden Frauen steht im Alten Testament Mirjam, die Schwester Moses. Als das Volk Israel trockenen Fußes durch das Schilfmeer hindurchschreiten konnte und der Pharao mit Ross und Reiter in den Fluten des Roten Meeres ertrinkt, da erhebt Mirjam ihre Stimme. Sie stimmt ein Siegeslied an und führt einen Reigentanz auf (2. Mose 15).
Im Alten Testament kennen wir auch den Lobgesang der Hanna (1. Samuel 2), die Gott singend lobt, weil sie doch noch einen Sohn gebären konnte, Samuel, den Propheten.
Wir dürfen davon ausgehen, dass der Evangelist diese Lieder der Frauen kannte und dass er in diesen Zusammenhang hinein das Ereignis der Geburt Jesu stellt. Er will an diese Traditionen erinnern und an sie anknüpfen. Denn wie Mirjam und Hanna glauben auch Maria und der Evangelist Lukas daran, dass sich die Welt verändern lässt. Sie glauben daran, dass nichts für immer so bleiben muss, wie es jetzt ist.
Nun ergreift Maria, die Gottesgebärerin, die junge Frau, ihre Chance. Denn sie weiß, dass sie den Heiland zur Welt bringen wird, der Heil und Segen mit sich bringt. Sie weiß, dass Gott Großes mit ihr vor hat und auch mit ihrem Sohn. Deswegen versteckt sie sich nicht im stillen Kämmerlein, sondern tritt heraus: Mutig und stark singt sie in der Tradition der großen politischen Frauen ihr Lied. Und dieses Lied singen und kennen wir bis heute. Es zieht hinaus in die Welt. “Und Hoffnung bringt es. Wer immer es hört, der versteht, um was es geht.“

Um was geht es nun eigentlich?Marias Lied ist kein Triumphlied. Kein Siegeslied. Sie hat einen klaren Blick auf die Zustände ihrer Zeit und singt ihr Lied aus der Perspektive der leidenden Welt. Sie weiß: Ihr Volk ist noch nicht befreit. Sie weiß: Die Mächtigen sitzen noch auf den Thronen und haben das Zepter noch in der Hand. Sie weiß auch, dass viele Menschen arm sind und hungern nach Brot. Und sie weiß, dass viele Menschen hungern nach Wiederherstellung ihrer Würde und nach Gerechtigkeit. Maria ist eine Seherin. Sie hat eine Vision. Sie weiß, wo es mit der Welt hingehen muss und kann. Und sie vertraut auf Gott. Sie rechnet mit seinem Eingreifen und damit, dass die Macht des Guten am Ende siegt und die dunklen Mächte vom Thron gestoßen werden.
Und so geht es darum, dass Maria uns mit ihrem Lied ermutigen will, an Gott festzuhalten. Ihm alles zuzutrauen und von ihm alles zum Guten hin zu erwarten. Für Maria sind große Veränderungen hin zum Guten möglich. Sie bricht auf, wird zur Gottesgebärerin und gestaltet damit das Leben und die Geschichte neu.

Lasst uns miteinander singenLukas bietet uns in seiner Weihnachtsgeschichte insgesamt vier Lieder an zum Mitsingen. Steife Erzählungen und starre Narrative sollen aufgebrochen werden. Wir sollen nicht immer in das gleich Horn hineinblasen und sagen, was so viele sagen: Früher war alles besser, die Welt geht ihrem Ende zu. Die Kriege in der Welt sind nicht zu stoppen. Die Wirtschaftslage war noch nie so schlecht wie heute. Die Flüchtlingsproblematik bekommen wir nicht in den Griff. Die Renten sind in keiner Weise sicher. Die Klimakrise kostet uns das Leben, wir sind die „last generation“. Die Kirchen spielen bald gar keine Rolle mehr in unserer Gesellschaft und so weiter und so fort. Ja, das ist alles ernst, aber nicht hoffnungslos.
Lukas meint, dass die Veränderung der Welt Lieder braucht, die hinausziehen in die Welt. Und so lässt er in seinem Weihnachtsevangelium zwei alte Männer singen, Zacharias und Simeon, dazu die junge Frau Maria und das Heer der himmlischen Heerscharen, die Engel. So macht uns der Evangelist klar, was Weihnachten bedeutet. Wie weit das Weihnachtsgeschehen geht, wenn der Heiland geboren wird.
Ich halte Lukas für einen klugen Geist. Auch er weiß, dass in unseren Lebensgeschichten oft Wehklagen und Trauermusik den Ton angeben. Er weiß, dass wir Menschen oft ratlos sind angesichts der aktuellen Weltgeschichte. Dass wir angstvoll in die Zukunft blicken und uns fragen, wie soll das nur werden? Lukas weiß sicher, dass es uns immer wieder sehr schwer fällt, hoffnungsvoll zu sein und zu bleiben. Und dass uns Veränderungen zum Guten hin sehr unwahrscheinlich erscheinen.
Aber genau darum ermuntert er uns zum Mitsingen! Er will uns herauslocken aus unserer dunklen Verzagtheit und uns ermuntern zum Singen, Beten und Hoffen. Denn Veränderungen sind möglich. Zum Guten hin.
Und so soll dieses Lied der Maria durch uns hinausziehen in die Welt. Es soll Hoffnung bringen. Und wer immer es hört, der versteht dann auch, um was es geht.

Der Friede Gottes der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen uns Sinne in Christus Jesus. Amen.


Anregung zur Gestaltung des Gottesdienstes: Je nach Gemeindesituation könnte es belebend sein, nur die Melodie des Schlagers: „Ein Lied zieht hinaus in die Welt“ nach der Lesung des Predigttextes kurz einzuspielen. Also nur anklingen zu lassen.
Wer die Predigt noch mit einem literarischen Text ausschmücken möchte, der könnte zu der Kurzgeschichte „Das Gottschauen“ von Leo Tolstoi greifen.



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