4. Advent (20. Dezember 2015)
Philipper 4, 4-7
Liebe Gemeinde,
heute flattert uns Post von Paulus ins Haus. Das freut nicht jeden. Die Briefe des Apostels sind berüchtigt für ihre Länge. Paulus steht im Ruf, den Empfängern seiner Briefe mehr Kopfzerbrechen als Freude zu bereiten.
Wäre zum vierten Advent nicht eine Erzählung aus den Evangelien schöner? Eine der Engelsgeschichten zum Beispiel. Gabriel besucht Maria, kündigt ihr die Geburt Jesu an, tröstet sie – „Fürchte dich nicht, Maria!“ – spricht ihr die Kraft des Höchsten zu. Und Maria sagt am Ende: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Voller Freude sagt sie das. Sie singt es sogar: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.“ Eine wunderbare Geschichte. Wie gerne würden wir uns in dieser Adventsgeschichte wiederfinden. Gerne würden wir in Marias Antwort auf die bevorstehende Ankunft Gottes einstimmen: „Uns geschehe, wie du gesagt hast.“ Stattdessen: Post von Paulus heute.
Beim Öffnen des Briefs, der ursprünglich an die Christen in der Stadt Philippi gerichtet war, gibt es allerdings eine Überraschung. Das apostolische Schreiben ist erfreulich kurz. Kein Vergleich zu den langen Briefen, die nach Rom und Korinth ergangen sind. Auch der Tonfall ist ausgesucht freundlich.
Schon der Briefanfang geht weit hinaus über die üblichen Höflichkeitsfloskeln. Paulus trägt die Philipper im Herzen, er betet für sie, er würde sie am liebsten sofort besuchen. Staunend lese ich im Philipperbrief davon, was den Apostel alles freut. Kein Wort der Klage, dass er offensichtlich in einem römischen Gefängnis einsitzt. Die Fesseln geben ihm die Freiheit, so lässt er uns wissen, den anderen Gefangenen Jesus nahezubringen. Das freut ihn. Selbst jenen Predigern kann er etwas abgewinnen, die mehr aus Eigennutz denn aus Hingabe die Botschaft von Jesus verkündigen. „Was soll’s? Wenn nur Christus verkündigt wird … so freue ich mich darüber.“
Naiv ist er nicht, der Apostel. Auch nicht schmerzfrei. Er schreibt durchaus, was ihn umtreibt und müde macht. Und doch sieht er sein ganzes Leben in dem Licht, dass er erlöst ist und Gott gehört. In diesem Licht ist ihm sogar das bevorstehende Sterben ein Gewinn. Er spürt: Wenn er aus der Welt geht, geht er ganz ein in Jesus Christus. Das freut ihn.
Ist es nicht berührend: das Vertrauen, mit dem Paulus zu Jesus hin lebt? Die Freude, die ihm entsteht, weil er im Leben wie im Sterben Gottes Güte an sich wirken sieht – er als Instrument, auf dem die Botschaft von Jesus Christus zum Klingen kommt? Die Milde, zu der ihn die Mühle der Anfechtungen und Anfeindungen gemahlen hat? Die Innigkeit zu seinen Adressaten hin, denen er die Freude wünscht eines Lebens für Gott?
In keinem anderen Brief tritt mir Paulus so liebevoll vor Augen. Ein Mensch, der sich seinen Lesern von Herzen zuwendet und an sie denkt. Einer, der sich selbst ganz aus der Hand gibt in Gottes Hand. Einer, der sich dem Auftrag und der Bestimmung seines Lebens hingibt und darin Frieden findet. Aus den Zeilen dieses Briefes tritt uns Paulus als ein Mensch vor Augen, der sich als geliebt erkennt von Gott und der deshalb seinerseits zum Ausdruck der Liebe wird.
Das ist schon sehr erfreulich. Keine Bange vor der Post von Paulus. Heute rührt sie uns möglicherweise zur Freude. Da schreibt offensichtlich einer, der in jeder Lebenslage und sogar im Sterben in Gottes Vorhaben einstimmen könnte wie Maria: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Von dieser Möglichkeit der Einstimmung ins Leben und Sterben zu erfahren, macht mir Freude.
Von Freude angesteckt – durch die Nähe des HerrnEs liegt in der Natur der Sache, dass auch Paulus seine Freude nicht für sich behält. Er kann sich nur freuen, wenn sich andere mitfreuen. „Macht meine Freude vollkommen!“ teilt Paulus mit. „Freut euch in dem Herrn allewege!“
Ja, das darf er sagen. Seine Freude ist nämlich durch und durch ehrlich. Seine Aufforderung zur Mitfreude hat nichts Verzwungenes. Paulus zählt nicht zu den Animateuren der Spaßgesellschaft, die mit schwachen Pointen und großem Lärm das Publikum zur Schadenfreude nötigen. Die Freude bei Paulus ist anrührend durch seine Person. Und sie ist ansteckend durch ihren Grund.
Der Grund der Freude ist die Nähe des Herrn. Paulus wünscht sich unsere Mitfreude, weil Jesus Christus so entgegenkommend ist. Wo und wann aber begegnet uns Gott? Spielt sich die Ankunft Gottes räumlich und zeitlich fassbar ab? Und bewahrheitet sie sich letztlich?
In der Tat: Jesus begegnet uns zeitlich, räumlich und letztlich. Dazu zitiert Paulus im Philipperbrief ein uraltes christliches Lied. In diesem sogenannten „Philipperhymnus“ geht es um den entscheidenden Zug aller Advents- und Weihnachtsgeschichten: Gott, der über uns ist, lässt sich unter uns finden.
Das ist erst einmal verwirrend. Kein Mensch käme auf die Idee, Gott – den Höchsten – ganz unten zu suchen. Insofern bleibt uns der entgegenkommende Gott erst einmal verborgen. Natürlicherweise sucht man Gott in der Höhe, im Erhabenen und Überlegenen. Dort aber finden wir ihn nicht. Wie auch? Wie sollten wir zeitliche Menschen den Ewigen sehen? Wie sollte ich mit menschlichen Sinnen den Göttlichen erfassen und mit meinen Ausdrucksmöglichkeiten ihn beschreiben?
Wenn man aufgrund der eigenen Begrenztheit nun nicht sagt: Dann gibt es Gott eben nicht, stößt man auf das Geheimnis der Offenbarung. Gott entäußert sich selbst, nimmt die Gestalt eines Menschen an, er steigt in die Niederungen und ins größte Elend, das einen Menschen treffen kann. „Der Herr ist nahe!“
Theoretisch. Jetzt aber muss aus diesem wahren Gedanken, den Paulus im Philipperhymnus überliefert, eine Erfahrung werden. Sonst wird so recht nichts aus der Freude.
Manchmal kommt uns auf dem Weg zur Erfahrung mit Gott ein Engel zu Hilfe. Davon schreibt Paulus in seinen Briefen nichts, weil er es den Leuten bei der Gemeindegründung sicherlich schon alles erzählt hat. Der Engel Gabriel, der sich Maria zeigt, sagt ihr: „Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären.“ Der Engel sagt meistens „Siehe“. Und weil Maria genau hinsieht und hinhört, versteht sie es. Es ist der Heiland, den sie zur Welt bringt. Jetzt fürchtet sie sich nicht mehr. Jetzt freut sie sich.
Der andere Engel, der heute Morgen oder gestern Abend angerufen hat, hat vielleicht nicht „Siehe“ gesagt, sondern „Hör mal, gehst du auch in die Kirche?“ Und jetzt hören Sie und ich die Lieder, die uns ansprechen und noch viel mehr aussprechen, als wir von uns aus empfinden können. Manchen kommt der Herr in der Musik und in den Liedern nahe. Deshalb: Freut euch! Es gibt Grund genug. Es gibt sogar immer wieder einen Engel, der uns eine Möglichkeit zeigt zur Freude. Eine Möglichkeit, dass ich Mensch mich als geliebt erkenne. Eine Möglichkeit, Jesus für mich da sein zu lassen.
Vergessen wir dabei nicht: Gott, über uns, kommt unter uns. Will sagen: Liebe Mitmenschen, glaubt der Liebe in ihren kleinsten Andeutungen! Der Herr ist nahe, weil er sich ins kleinste Kind begibt unter jämmerlichsten Bedingungen. Der Herr ist nahe, weil er umherzieht mit ein paar seltsamen Gestalten. Der Herr ist nahe, weil er die Kinder zu sich lässt. Der Herr ist nahe, weil er sich am Brunnen aufs Gespräch mit der Ehebrecherin einlässt. Der Herr ist nahe, weil er an sich alles geschehen lassen muss, weil er körperlich hilflos ist, seelisch am Boden und vor aller Augen jeder Ehre beraubt. Hingerichtet. So nah ist er, wie kein Mensch einem anderen Menschen nahe sein kann.
Liebe Mitchristen, glaubt der Liebe in ihren kleinsten Andeutungen! Gerade dort, wo ihr im Leben nicht damit rechnet, weil es euch zu geringfügig erscheint, kommt euch der Herr nahe. Freut euch!
Außer sich vor Freude – im Handeln und BetenPaulus geht in seinem Brief fest davon aus, dass sich solche Erfahrungen von Freude einstellen. Wo nun Menschen von der Freude im Herrn angesteckt werden und sich mitfreuen, da stellt uns Paulus mit seinem Brief auch vor Augen, dass sie außer sich geraten vor Freude. Güte und Freundlichkeit zu den Mitmenschen gewinnen Raum. Außer mir vor Freude, bin ich so frei, Zeit zu schenken, gerne ein Opfer einzulegen, jedes selbstbezogene Berechnen und jedes Taxieren des Anderen nach meinem Nutzen abzulegen. Wer außer sich vor Freude ist, ist auch frei von der Not, die aus dem Vergleichen kommt. Freut euch, dass ihr dieses notvolle Vergleichen untereinander los habt, das Konkurrieren auch unter Christen. Es ist vorbei. Freut euch!
Wer außer sich vor Freude ist und schon war, der ist auch nicht mehr auf seine Sorgen festgelegt. Paulus hebt die Sorgennester in unseren Köpfen durch das Gebet aus. „In allen Dingen lasst eure Bitten … mit Danksagung vor Gott kundwerden.“ Die Sorge darf ich vor Gott ablegen. Beim Beten nenne ich die Dinge beim Namen, die mich bedrücken. Und schon weil die Sorge damit ausgesprochen ist, beherrscht sie mich nicht mehr.
Wer betet, nimmt Abstand von sich und dem, was einen bedrängt, und kommt doch gerade damit in Wahrheit zu sich und zu Gott. Nicht jede Bitte eines Gebets wird in Erfüllung gehen, aber jedes Gebet verändert mich als Betenden. Ein wenig zumindest. Und auch dies soll nicht gering geachtet werden. Freut euch!
Nichts als Freude – unter allen Umständen?Kann man sich aber unter allen Umständen freuen? Allewege? Zu allen Zeiten? Es gibt doch genug, was einem die Freude verdirbt.
Wahrscheinlich braucht die Freude im Herrn genauso wie der Glaube immer wieder die Vergewisserung. Mir steht besonders Paul Gerhardt vor Augen. Mit seinem Lied „Geh aus, mein Herz“ macht er sich ja auf die Suche nach der Freude. Und dann sehe ich: Ausgerechnet er, der im 30-jährigen Krieg gelebt hat und so viel Leid gesehen und erlitten hat – er wird mir zum Lehrmeister der christlichen Freude. Mit seinem Spaziergang durch die Natur, mit seinem Ausflug in Christi Garten, mit seiner lichten Sprache über den „Sommer deiner Gnad“.
Wenn er und viele andere, die von größeren Sorgen und Nöten bedrückt waren als ich, die Freude immer wieder gefunden haben, dann fühle ich mich ermutigt. „Ich singe mit, wenn alles singt“ und freue mich mit. Amen.
Liedvorschlag EG 34,1-3 „Freut euch, ihr Christen alle“ - ohne Halleluja
Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)