3. Sonntag nach Trinitatis (16. Juni 2024)
Lukas 15,1–3.11b–32
IntentionDieser vielleicht bekannteste Text der Bibel wurde in Predigten, aber auch in der Literatur schon von so vielen Perspektiven her erzählt und so originell gedeutet, dass es mir ein Bedürfnis war, einmal wieder nach dem ursprünglichen Zentrum des Gleichnisses zu fragen. Und das ist m.E. der den gescheiterten Söhnen entgegenlaufende Vater. Dieses Bild zu bezeugen, ist nach der Auffassung von Auslegern das Zentrum der Christologie des Lukas. Ich wollte weg von der Übertreibung der „Sündigkeit“ des jüngeren Sohnes, die bis in die Übersetzungen hineinreicht. Statt uns von seiner phantasierten Liederlichkeit zu distanzieren, können wir unser eigenes Scheitern, unsere individuelle und gesellschaftliche Verlorenheit in ihm erkennen. Gerade denen, die Scheitern und Verlorenheit eingestehen, stürzt der Vater entgegen. Es scheint mir für die Aufmerksamkeit und das Nachvollziehen der Dramatik notwendig, den langen Text in Abschnitten zu lesen.
Der entgegenlaufende Vater„Der entgegenlaufende Vater“, so könnte die spannende Geschichte heißen, um die es heute geht. Und bitte, hören Sie nicht weg, wenn Sie merken: Es ist ja die altbekannte Geschichte vom „Verlorenen Sohn“! Nein, hören Sie noch einmal genau hin! Denn diese wichtige und wunderbare Geschichte ist noch lange nicht zu Ende erzählt.
Und bitte, nehmen Sie nicht gleich Ihre gewohnte Perspektive ein! Stellen Sie sich beispielsweise nicht gleich zum älteren Sohn, der sich über die verwöhnten jüngeren Geschwister ärgert! Ja, Jesus erzählt so lebensnah, dass wir unsere Geschichten von Geschwisterneid, Erbstreitigkeiten und vielem mehr gleich mithören. Dennoch ist es wichtig, sich auf die Bewegung der ganzen Geschichte einzulassen. Ich lese abschnittweise.
Drei Gleichnisse vom Verlorenen15,1–3: „Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach…“
Allen, die sich bis heute von Jesus provoziert fühlen, erzählt er drei Gleichnisse vom Verlorenen. Alle können die Freude nachempfinden, wenn das Schaf und die verlorene Münze wieder gefunden werden. So führt Jesus zum Ernstfall hin: Wieder ist etwas verloren, aber es ist kein Etwas, sondern ein Mensch. Da ist es komplizierter: Was heißt da „verloren“? Lukas gebraucht gerne da, wo andere von „sündig“ sprechen, dieses Wort. Es klingt nicht so moralisch; lässt offen, wie es dazu kommt, dass ein Mensch verloren geht. Auch mit der Freude über das Finden ist es nicht so einfach wie bei einer Münze.
Der verlorene Mensch: Mitgefühl für einen Gescheiterten15,11–16: „Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie. Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen (wörtlich: verstreute er seinen Besitz, lebte heil-los). Als er aber alles verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.“
Gerne erzählt Jesus Geschichten, in denen zwei Personen sich in Bezug auf eine dritte Person völlig verschieden verhalten. Und immer kommt am Ende derjenige besser weg, von dem wir es nicht erwarten.
Schauen wir zuerst auf den jüngeren Sohn Was steht da wirklich?
Seine Bitte um das Erbe war damals völlig im Rahmen, war nicht unverschämt. Der Vater kann das Erbe schon zu Lebzeiten aufteilen und so dem Jüngeren eine Existenz in der Diaspora ermöglichen: Ist es eine von beiden Seiten her gelungene Ablösung vom „Hotel Mama“? Der Jüngere packt bald alles zusammen und geht in ein fernes Land.
Was ist dann passiert? Der Text verrät sehr wenig. Er beschreibt zügig und nüchtern eine Spirale nach unten. Zunächst erfolgt die Gegenbewegung zum „Einpacken“: Er verstreut, was er hat. Der Lebensstil wird durch ein einziges Wort, das nur an dieser Stelle vorkommt, gekennzeichnet: asōtōs. Das Wort sōzō (retten) steckt verneint darin: ein Leben ohne Rettung, ohne Heil, ohne Gelingen. Gescheitert. Die gängigen „Übersetzungen“ sind Interpretationen, alle mit einer bestimmten Tendenz: „liederlich“ „haltlos“, „in Saus und Braus“. Wir wissen aber nur: Er hat alles aufgebraucht und hat es nicht geschafft. Sein Bruder hat die böse missgünstige Fantasie, er habe alles mit Huren verprasst und gefeiert. Dass er viel gefeiert hat, halte ich für wenig wahrscheinlich. Denn Feiern ist bei Lukas immer etwas Gutes.
Vielleicht wird die Liederlichkeit des jungen Mannes so ausgemalt, um ihn möglichst weit von uns weg zu halten: Nein, so ein Leben würden wir nie führen! Das kann uns ja nicht passieren! Die sparsamen Formulierungen lassen offen, was geschehen ist. Vielleicht hat er sich mit ehrgeizigen Plänen für seine Karriere verzettelt. Vielleicht hat er nur auf das gesetzt, was er selbst hat und kann und wollte ganz allein seines Glückes Schmied sein. Spätestens in der Krise – hier ist es eine Hungersnot – zeigt sich, dass das nicht reicht, dass alles aufgebraucht ist, was er selbst hat und kann.
Passt das nicht auch zu unserer Situation heute? Haben wir nicht in vieler Hinsicht alles heillos aufgebraucht? In vielen Bereichen, auch in der Kirche, kommen Ressourcen und alte Modelle an Grenzen, stehen wir ratlos da; besonders, wenn noch eine Krise von außen kommt.
Äußerlich abgebrannt und innerlich ausgebrannt gerät der junge Mann in unheilvolle Abhängigkeit von einem Mann, dessen Schweine, unreine Tiere, er hüten muss; schlimmer geht es nicht. Keiner gibt ihm etwas zu essen. Nun erfährt er auf schmerzlichste Weise, was es heißt, auf andere angewiesen zu sein.
An dieser Stelle wird die gerafft erzählte Geschichte eines Misserfolgs unterbrochen. Die Zeit wird angehalten, und wir werden hineingenommen in ein Selbstgespräch. Mitfühlen sollen wir mit dem, von dem wir uns so gerne distanzieren. Dabei geraten wir alle einmal in eine Situation der Verlorenheit. Entscheidend ist nicht, wie es dazu kommt, sondern, wie es dann weitergeht.
Handlungsstarre überwinden15,17–20: „Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich einem deiner Tagelöhner gleich! Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater.“
Dreierlei sehen wir:
1. Er „geht in sich“, erkennt seine Situation schonungslos: Er ist gescheitert. Wieviel Elend wird fortgesetzt, im Großen und Kleinen, wenn Menschen ihr Scheitern nicht eingestehen, es schönreden, aus Scham verstecken oder sich zu Opfern stilisieren.
2. Er erinnert sich. Er hat nicht nur Materielles von zuhause mitgenommen. Da war auch die Erfahrung von Heimat und Fürsorge. In der Krise erinnert er sich, dass da ein Vater war und eine Gemeinschaft, in der für alle gesorgt war. Er findet in sich das Vertrauen auf einen Grund, der trägt, selbst wenn man versagt hat und keine Ansprüche mehr stellen kann. Das Urvertrauen ist stärker als Stolz und Scham.
3. Er überwindet die Handlungsstarre. Sitzen bleiben, jammern und schimpfen wäre viel einfacher, aber heil-los. „Ich will aufstehen…und er stand auf“.
So schön und fröhlich kann die schlimmste Geschichte ausgehen15,21–24: „Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.“
Noch einmal nimmt die Erzählung an Fahrt auf. Die Eile geht vom Vater aus. Er sieht den Sohn von weitem. So, als hätte er die ganze Zeit nach ihm Ausschau gehalten. Das mit „jammern“ übersetzte Wort meint das geradezu körperliche Hingezogen-Sein zum „Verlorenen“. Dieses Hingezogen-Sein ist der Motor des Geschehens und kommt allen Reuebekenntnissen zuvor. Der Würde eines Familienvaters völlig unangemessen stürzt der Vater dem Sohn entgegen, nimmt ihn mit Umarmung und Kuss als Familienmitglied auf, noch ehe dieser etwas sagen kann. Sein Verzicht auf die Sohnschaft ist damit schon überholt. So dringlich und bedingungslos ist das Erbarmen, dass große Eile herrscht: Der Sohn wird schnell eingekleidet, das Kalb geschlachtet, sofort muss gefeiert werden. Das Fest ist bei Lukas das Bild für ein mit Gott versöhntes, gelingendes Leben; für Leben, das diesen Namen verdient.
Hier ist das Zentrum: Ein entgegenstürzender Vater, der im Übereifer ein rauschendes Fest arrangiert – alles ist gut! Dieses Bild soll uns in auswegloser Situation vor Augen stehen. Jesus wendet sich nicht an unseren Verstand, nicht an unser moralisches Empfinden, sondern an unsere Einbildungskraft: Schau dir das an! So kann es kommen, so schön und fröhlich kann die schlimmste Geschichte ausgehen.
Verloren und wiedergefundenDie Festfreude wird freilich getrübt durch das Fehlen eines Gastes.
15,25–32: „Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn(wörtlich: Kind), du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.“
In Gestalt des Bruders meldet sich noch einmal die Stimme der Logik, der Moral, des Realismus: Pflichterfüllung gehört belohnt, Strafe muss sein, geschenkt wird einem nichts.
Auch dieser Sohn ist verloren, tot, lebt ein heil-loses Leben. Er erfüllt nur Pflichten und hätte selbst zum Feiern eine Anweisung gebraucht. Er redet verächtlich über „diesen deinen Sohn“, verweigert die Anrede an den Vater und den Brudertitel. Hinter seinem angeblichen Gerechtigkeitssinn verbergen sich – wie so oft – Neid und Missgunst.
Ist dem Vater die stille Art der Verlorenheit entgangen? Ist ihm entgangen, dass sein „Kind“ nicht wirklich „allezeit bei ihm“ war? Dass er sich aus dieser heilsamen Gemeinschaft ausgeschlossen hat, in der es nicht um Pflicht und Leistung geht? Auch diesem Sohn läuft der Vater entgegen. Er geht hinaus zu ihm in die Kälte. Auch hier, ohne auf seine Würde zu achten. Er spricht kein Machtwort, kann nur ohnmächtig bitten. Liebe und Güte lassen sich nicht logisch begründen, man kann nur darum werben. Aber: Wieviel schwerer ist es, einen zu „retten“, der in seiner Rechthaberei gar nicht spürt, dass er gescheitert ist! Ob auch diese „Rettung“ gelingt?
In Jesus läuft der Vater uns entgegenIndem wir das Gleichnis aus dem Mund Jesu hören, läuft uns dieser Vater entgegen. „Jesus ist das Entgegenlaufen des Vaters“, so sagt der Theologe Helmut Gollwitzer. Für dieses Bild von Gott hat Jesus gelebt, dafür ist er gestorben und auferstanden. Das ist noch kein konkretes Rezept für die Sackgassen, in die wir uns verirrt haben. Aber mit diesem Bild vor Augen können wir aufstehen, losgehen; im Vertrauen darauf, dass uns da Einer von weitem sieht und uns entgegenläuft. Amen.
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