3. Sonntag nach Trinitatis (17. Juni 2018)
Pfarrerin Gertraude Kühnle-Hahn, Stuttgart [Gertraude.Kuehnle-Hahn@elk-wue.de]
1. Johannes 1, 5-9; 2, 1-6
Liebe Gemeinde,
wie es Ihnen wohl geht nach dem Hören des Predigttextes für den heutigen Sonntag?
Manchen unter uns werden die darin enthaltenen Bilder – Licht und Finsternis – vertraut sein, oder auch die Sätze, dass das Blut Jesu uns rein macht von aller Sünde. Etwas eigenartiger erscheint der Satz, man würde Gott zum Lügner machen, wenn man von sich behauptet, man habe nicht gesündigt.
Manchen unter uns wird der Bibeltext eher fremd erscheinen, wie eine Botschaft aus einer anderen Welt, die fern der unsrigen ist.
Allerdings, die Frage nach Sünde und Schuld, oder – anders gesagt – die Frage, ob man sich selbst so sehen kann, wie man ist, auch mit seinen Schattenseiten, oder ob man sie verbergen und in den Mitmenschen bekämpfen muss – das scheinen mir damals wie heute wichtige Fragen zu sein, Lebensfragen, die sich in ihrer Ausdrucksweise unterscheiden, aber in ihrem Inhalt kaum.
Deshalb möchte ich diesen Briefabschnitt aus dem Neuen Testament mit unserer Zeit in Verbindung bringen in der Hoffnung, dass auch aus ihm das „Wort des Lebens“ spricht, wie es ganz am Anfang des 1. Johannesbriefes heißt.
Dieser Brief hat übrigens ganz konkrete Probleme im Blick – und die möchte ich Ihnen kurz schildern, damit Sie verstehen, auf welchem Hintergrund diese Worte geschrieben wurden:
Vom Bemühen, sündlos zu sein – damalsGegen Ende des 1. Jahrhunderts wurde eine Gruppe von christlichen Gemeinden gefährdet durch eine Gruppe Andersgläubiger. Sie vertraten bewusst eine andere Lehre, behaupteten, intensive Gemeinschaft mit Gott zu haben und von daher zur Sünde nicht fähig zu sein. Konsequenterweise brauchten sie auch nicht die durch Jesus Christus bewirkte Erlösung. Und offensichtlich fühlten sich diese Leute auch nicht den Geboten, an denen Jesus festhielt, verpflichtet. Wer sich für sündlos hält, ist ja auch über Gebote erhaben.
All diese Behauptungen der Andersgläubigen greift also der Briefeschreiber auf – und zwar immer wieder mit der Formulierung „Wenn wir sagen...“ Dabei geht er ausführlich auf den Umgang mit Sünde und Schuld im Leben der Christen ein. Für ihn gilt: Wer als Christ in der Wahrheit lebt, der braucht nichts zu beschönigen und zu verherrlichen. Der nimmt wahr, dass jeder Mensch, auch der frömmste, schuldig wird. Vollkommen ist niemand, das ist allein Gott.
Nun kann man sagen, so war das eben damals. Aber was ist heute? Da behauptet doch niemand, er sei in solcher Gemeinschaft mit Gott, dass er sündlos sei, jeglichem menschlichen Versagen enthoben.
Vom Bemühen, sündlos zu sein – heuteSicher, in dieser Reinkultur finden wir diese Behauptung wohl kaum.
Aber wenn man genau hinschaut, dann findet man durchaus Ansichten, Einstellungen, die in diese Richtung gehen.
Und die kommen aus ganz verschiedenen Ecken.
Drei verschiedene Weisen sind mir beim Nachdenken aufgefallen, drei verschiedene Weisen, wie wir Menschen oft versuchen, uns von unseren Sünden reinzuwaschen und ins rechte Licht zu stellen. Das heißt, dass wir nicht wahrhaben wollen, dass es auch in uns Dunkelheiten gibt, die umso schwerer wiegen je weniger wir sie erkennen wollen.
Die erste Weise ist die Einstellung: Schuld und Versagen liegen immer woanders:
in der Vergangenheit, die auf einem lastet,
in der Veranlagung, die man hat,
im Milieu, in dem man aufgewachsen ist,
in der Gesellschaft, in der man lebt.
Nun möchte ich nicht behaupten, dass dies alles keine Auswirkungen auf ein Menschenleben hätte. Gewiss hat es das, oft in hohem Maße.
Dennoch liegt eine Gefahr in diesem Denken, die Gefahr, dass man die Verantwortung komplett abgibt, dass man einem Kind ähnelt, das sagt: Der Papa oder die Mama ist böse. Deshalb geht es mir nicht gut.
Die zweite Weise, sich ins rechte Licht zu stellen, ist eine ganz andere.
Ich meine die Haltung, die mir immer wieder in Gesprächen begegnet, dass Menschen sagen: Ich bin anständig. Ich habe immer gut und richtig gelebt. Ich habe niemand etwas Böses getan. Ich lüge nicht. Ich stehle nicht. Ich trinke nicht und zahle anständig meine Steuern.
Was will man dieser Rechtschaffenheit entgegensetzen?
Soll man so jemandem nachweisen, dass es in seinem Leben auch Sünde gibt?
Der Verfasser des 1. Johannesbriefes jedenfalls würde eine solche Haltung unverblümt als Lebenslüge bezeichnen.
Und die dritte Weise, sich ins rechte Licht zu stellen? Die sehe ich in einer Haltung, die auch unter uns Christinnen und Christen verbreitet ist:
Ich meine die Neigung, eine solche Vollkommenheit anzustreben, dass jede Möglichkeit des Schuldigwerdens – scheinbar – ausgeklammert wird. Statt frei, gelöst und im Vertrauen auf die vergebende Treue Christi zu leben, achtet man streng und ängstlich bei sich und bei den anderen darauf, dass man sich ja nichts leistet, was falsch oder verwerflich sein könnte.
Das führt dann nicht selten zu einem Rückzug aus der Welt und aus der gesellschaftlichen Verantwortung, zu einem Abschotten in den vertrauten Kreisen. Dort fühlt man sich geschützt und geborgen.
Die Ansicht, dass Politik ein dreckiges Geschäft sei, die gehört für mich in diese Ecke. Wie leicht sagt sich das, wie wenig muss man sich die Hände schmutzig machen, wenn man dieses Geschäft anderen überlässt. Aber wie sehr sind wir auch darauf angewiesen, dass Männer und Frauen bereit sind, öffentlich Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu fällen, ja auch Schuld auf sich zu nehmen. Denn es gibt eben selten nur die guten, richtigen Lösungen.
Auch zu dieser Art, sich einen möglichst schuldfreien Raum zu schaffen, hätte der Verfasser des 1. Johannesbriefes ein klares Wort: „Lebenslüge“.
Liebe Gemeinde, vielleicht habe ich jetzt in der Kürze manches etwas überzeichnet, aber ich denke, es ist klar geworden, dass es durchaus Parallelen gibt zu dem Denken der Andersgläubigen damals am Ende des 1. Jahrhunderts.
Dabei geht es jetzt nicht darum, mit dem Finger zu zeigen und zu überlegen, wer denkt jetzt so und wer so. Vielmehr möchte ich uns, die wir hier versammelt sind, aufmerksam machen für solche Tendenzen in uns selbst, für unsere Versuche, unsere Schattenseiten zu leugnen, uns gut zu machen, auch voreinander.
Von der Freiheit, nicht sündlos sein zu müssenSo wie es der Verfasser des 1. Johannesbriefes ausdrückt, klingt das wie ein Paradox: Gerade der lebt in der Finsternis, der sagt, er habe keine Sünde. Oder etwas umgangssprachlicher ausgedrückt: der vorgibt: Bei mir ist alles in Ordnung.
Denn wer das von sich behauptet, der leugnet, dass wir angewiesen sind auf die Liebe Gottes, die sich zeigt in Jesus Christus, in seinem heilenden und vergebenden Handeln für uns.
Wenn ich das nicht anerkennen kann, dass ich angewiesen bin auf Liebe, auf Vergebung, auf Bereitschaft zum Neuanfang, dann kann ich das ja auch nicht anderen entgegenbringen. Dann laufe ich Gefahr, hartherzig zu werden. Was ich mir selbst nicht schenken lassen kann, kann ich anderen nicht geben.
Und es ist so, wie es im Predigttext heißt: Jesus Christus befreit uns. Er gibt uns die Versöhnung für unsere Sünden. Aber das bedeutet nicht, dass er uns vor dem Schuldigwerden bewahrt. Er nimmt uns auch nicht die Arbeit ab, uns immer wieder zu erkennen, zu erkennen z.B., dass das, was wir bei anderen Menschen anprangern, oft Seiten sind, die wir auch in uns haben.
Und gerade diese – zugegebenermaßen immer wieder auch beschwerliche – Erkenntnis „ich bin nicht vollkommen“, die kann uns vor Überheblichkeit bewahren, die kann uns immer wieder auf den Boden bringen, auf dem wir Menschen alle stehen.
Deshalb gilt: Christen müssen nicht vorgeben, bessere Menschen zu sein, vielmehr ist es unser „Privileg“, dass wir uns sehen können, wie wir sind.
Wir können uns sehen im Licht, in Gott, der Licht ist:
„Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.“
Was ist das für ein Licht?
Zwei Missverständnissen ist vorzubeugen:
Es ist kein gleißendes Licht, keines, das wie ein Scheinwerfer auf uns gerichtet ist und uns unbarmherzig in Augenschein nimmt. Ich möchte das sehr betonen, denn ich erlebe es, dass in vielen Menschen immer noch eine solche Vorstellung von Gott lebt, dass er einen gnadenlos ausforscht, jeden Fehltritt peinlich genau registriert wie ein Polizeicomputer.
Das andere Missverständnis wäre, dass man dieses Licht abdunkeln könnte wie mit einem Dimmer, damit manche Ecken im Dunkel bleiben können oder zumindest im nebulösen Grau.
Gott ist Licht.
Und dieses Licht bedeutet Klarheit, Wahrheit und Liebe.
Drei große Worte, zugegeben, aber doch nicht zu groß, um diese Erfahrung zu beschreiben, dass dieses Licht uns einen Raum eröffnet, wo wir uns nicht verstecken müssen, wo wir sein können, wo wir sehen können, was es ist mit unserem Leben, auch mit dem Unfertigen, Unerledigten und Friedlosen in uns.
Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.
Er verurteilt uns nicht.
Und er bietet uns einen Raum der Freiheit. Den brauchen wir, um uns zu verändern und zu wachsen.
Wenn ich, ohne verurteilt zu werden, erkennen kann, was nicht gut ist in meinem Leben, habe ich die Freiheit, etwas daran zu ändern.
Manchmal ist es gar nicht so leicht zu sehen, was alles unaufgeräumt in einem ist, was man vielleicht immer wieder hintenan geschoben und verdrängt hat.
In dem Raum, den Gott uns bietet, können wir das anschauen, ohne dass wir uns selbst fertigmachen und verurteilen müssen. Im Licht Gottes können wir sehen, was zu ändern ist. Vielleicht haben wir bisher gedacht: Das kann ich nie. Ich bin halt so. Und erleben, dass in uns viel mehr Möglichkeiten sind, als wir je meinten.
Gott ist Licht. An diesem Licht dürfen wir teilhaben, unser eigenes flackerndes Lebenslicht stärken.
Dieses Licht leuchtet in die Dunkelheiten unseres Lebens.
Liebe Gemeinde, „das Wort des Lebens“ verheißt der 1. Johannesbrief ganz am Anfang.
Es begegnet uns auch in diesem Bibeltext.
Es begegnet uns im Geschenk der Versöhnung durch Jesus Christus.
Es begegnet uns im Angebot, uns im Licht Gottes zu sehen, unverstellt und unverbogen.
Und es begegnet uns im Raum der Freiheit, der uns dadurch eröffnet wird.
Amen.
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