3. Sonntag nach Epiphanias (22. Januar 2023)
Römer 1,13-17
IntentionScham ist ein grundlegendes menschliches Gefühl. In dieser Predigt soll die negative Seite der Scham als „ungnädiger Blick auf mir“ aufgezeigt werden. Das Evangelium wird als „gnädiger Blick“ und dadurch freimachende Kraft entgegengestellt. Die beispielhaften Teile (Szene 2) gewinnen an Anschaulichkeit und Prägnanz durch ein persönliches Beispiel des Predigers oder der Predigerin.
1,13 Ich will euch aber nicht verschweigen, Brüder und Schwestern, dass ich mir oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen – wurde aber bisher gehindert –, damit ich auch unter euch Frucht schaffe wie unter andern Heiden. 14 Griechen und Nichtgriechen, Weisen und Nichtweisen bin ich es schuldig; 15 darum, soviel an mir liegt, bin ich willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen. 16 Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. 17 Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«
Szene 1: PaulusPaulus schreibt an die Gemeinde in Rom. Freundschaftliche Worte findet er für die Menschen in der Welthauptstadt; dabei kennt er die Adressaten gar nicht persönlich. Vielmehr stellt dieser Brief erst den Anfang der Beziehung zwischen Paulus und den Christen in Rom dar. Ein „virtueller“ Anfang, fast ein bisschen wie bei manchem Kollegium, das sich in den letzten zwei Jahren nur digital, per Videokonferenz konstituieren konnte.
Dieser Mangel an „echter Begegnung“ oder „Präsenz“ hält Paulus aber nicht davon ab, ganz offen von sich zu erzählen. „Schamlos“, mag man sagen. Denn wann passiert es schon, dass uns eine Person, die wir nur vom Hörensagen kennen, in einem Brief von ihrem Persönlichsten, von ihrer Herzensüberzeugung schreibt? „Unverschämt“, mag man sagen.
Paulus ist bewusst, dass er hier nicht gewöhnlich vorgeht oder Alltägliches spricht. Er sagt ganz direkt: „Ich kenne euch zwar noch nicht, aber: Ich schäme mich nicht.“ Ein starker Satz, der in mir als Echo lange nachklingt. „Ich schäme mich nicht“, „Ich schäme mich (nicht)“, „Ich schäme mich.“
Szene 2: IchSzenenwechsel: Ich stehe mit einer kleinen Gruppe auf einem Platz in Bahnhofsnähe. „Der Kreuzweg der Jugend“. Doch man muss sagen: die meisten Teilnehmenden fassen den Begriff „Jugend“ sehr weit; viele Häupter sind bereits ergraut. Ich dazwischen; Konfirmandenalter. Wir beten, singen. Der Schall verfliegt kläglich in der spätwinterlichen Luft. Ich sehe zwei Jungen, etwas älter als ich. Sie sehen cool aus, machen irgendwie Eindruck auf mich. Sie kommen zufällig vorbei, schauen kurz auf unsere kleine christliche Gruppe. Dann zeigt einer mit dem Finger auf uns und beide brechen in schallendes Gelächter aus. „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ – in dem Moment fiel mir das ziemlich schwer.
Scham: errötenSolche Erfahrungen der Scham macht vermutlich jeder in seinem Leben. Wir kennen alle dieses unangenehme Gefühl; wie eine drückende Hitze aus meinem Inneren. Die Handflächen beginnen zu schwitzen und zu allem Überfluss erröte ich – ausgerechnet an Hals und Gesicht, wo man es unmöglich verstecken kann.
Scham fühlt sich nicht gut an. Wer sagt schon „Ich schäme mich gerne“? In aller Regel wollen wir uns nicht schämen. Mir fällt auf: Sobald ich mich schäme, fühle ich mich innerlich falsch, unangebracht, peinlich. Mein größter Wunsch ist dann, im Boden zu versinken oder auf der Stelle unsichtbar zu werden. Doch was passiert? Das genaue Gegenteil: Ich laufe rot an, so dass alle sehen, wie es mir gerade innerlich geht. Ich kann also noch nicht mal mein Inneres verstecken. Ein schreckliches Gefühl, wenn man zum Beispiel gerade vor der Klasse steht und den Blick der Mitschülerinnen und Mitschüler brennend auf sich spürt.
Scham: Der bewertende Blick auf michScham hat etwas mit dem Blick auf mich zu tun. Wenn es niemand sieht, kann ich mich auch nicht schämen. Oder? Erst wenn die Lehrerin einen beim Abschreiben erwischt, spürt man doch die Scham. Erst wenn das Handtuch in der Gruppenumkleide von der Hüfte rutscht, schäme ich mich für meinen Körper. Erst wenn der Partner etwas Unschönes über mich entdeckt, beginnen die Schamgefühle. So ist es – oder vielleicht doch nicht?
Irgendwie scheint es doch komplizierter zu sein. Denn wer hatte noch nie ein flaues Gefühl im Magen, obwohl niemand zugeschaut hat oder man bei etwas Verbotenem unentdeckt geblieben ist? Wir können als Menschen offenbar nicht anders, als – und sei es nur gelegentlich – einen Blick auf uns zu spüren.
So schrecklich sich der Blick eines anderen auf uns anfühlen kann, es ist doch auch unser eigener Blick auf uns selbst, der uns vor Scham vergehen lassen kann. Auch wenn es vielleicht nur die Angst ist, dass man später doch noch das Ticket für seine Unzulänglichkeit bekommt.
Scham ist wie ein Gefühl, dass jemand ungnädig auf mich sieht. Und neben den Augen unserer Mitmenschen scheint es so etwas wie ein unsichtbares Auge zu geben, das selbst in die dunkelsten Ecken blickt.
Vielleicht denken manche bei diesem „alles sehenden Auge“ an das berühmte Bild aus dem „Herrn der Ringe“. Dort wacht ein rot brennendes Auge über ein Land, in dem die Sonne nicht scheint. Kein Licht erhellt das Leben, nur der Blick des Auges strahlt wie ein Scheinwerferkegel auf die Machenschaften der elenden Bewohner. Durch diesen Blick geknechtet, vollbringen die Einwohner nur die dunklen, bösartigen Machenschaften, die das Auge wünscht. Ein überzeichnetes, doch eindrückliches Bild für die Macht des ungnädigen Blicks, die Macht der Scham. Man mag sagen: Unter einem ungnädigen Blick kann nur das Böse gedeihen.
Wie sieht Gott mich an?In welchem Licht erstrahlt dagegen der trotzig-zuversichtliche Satz des Paulus „Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“ Schamlosigkeit gegen die dunkle Herrschaft der Gnadenlosigkeit. Das, wofür Paulus sich nicht schämt, ist der Innbegriff von Schamlosigkeit, der Inbegriff der Freiheit von Scham: Es ist der gnadenvolle Blick Gottes. Gottes Blick nimmt uns nicht in unserer Schlechtigkeit und Schwachheit gefangen, sondern nimmt uns voll Liebe an. Wo wir vor Gott Angst haben und uns vor ihm verstecken wollen, da haben wir keine gute Gemeinschaft mit ihm. Gott macht uns nicht schwach, sondern stark. Paulus formuliert: Gottes Botschaft ist Kraft und Gerechtigkeit, aus der wir leben, wenn wir an ihn glauben. Wir schämen uns oft gerade „so wie Gott uns schuf“. Aber in seinen Augen sind wir gerade so „sehr gut“.
Drei Konsequenzen: Freundschaft mit sich selbst – andere nicht beschämen – Gott glaubenIch möchte drei Konsequenzen ziehen. Erstens: Ich kann nicht anders, als einen Blick auf mir zu spüren. Sei es der meiner Mitmenschen oder mein eigener. Wo ich mich daraufhin schäme, da bin ich aber nicht wirklich bei mir. Da stimmt etwas mit meinem Verhältnis zu mir selbst nicht. Wenn ich mich nur von meinen Fehlern und Schwächen her sehe, dann verliere ich aus dem Blick, wer ich wirklich bin und sein kann. Ich will mich darum nicht für meine Art zu leben und zu lieben schämen, sondern mutig und fröhlich zu mir selbst stehen. Der antike Philosoph Platon fand dafür den schönen Ausdruck: „Freundschaft mit sich selbst haben“.
Zweitens: Wenn ich mir bewusst mache, was für schlimme Folgen das Beschämen haben kann, möchte ich es mir mindestens zweimal überlegen, ehe ich andere mit meinem gnadenlosen Blick strafe. Auf die Frage: „Was ist dir das Menschlichste?“ antwortete Friedrich Nietzsche: „Jemandem Scham ersparen.“
Und drittens ergänze ich diesen Satz und formuliere ihn um: „Was ist dir das Göttlichste?“ „Jemandem Scham ersparen.“ Denn das, was dich von Scham freispricht, das ist dein Gott. Er schaut dich gnädig an. Amen.
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