3. Sonntag nach Epiphanias (24. Januar 2021)
Pfarrerin Christina Jeremias-Hofius, Oberndorf am Neckar [christina.jeremias-hofius@elkw.de]
Rut 1, 1-19
IntentionWenn wir von dem zugesagten guten Ende, im Bild: Sitzen am Tisch im Reich Gottes, ausgehen, dann lässt sich die Ambivalenz der jeweiligen Situation leichter aushalten, und wir sind eingeladen, die Spuren Gottes vom und für das gute Ende zu entdecken. Die Predigt möchte daher ermutigen, die derzeitige Ambivalenz auszuhalten im Wissen um ein Ende, für das wir nicht allein verantwortlich sind. Sie möchte befähigen, zuversichtlich zu agieren und Entscheidungen zu treffen.
1,1Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. 2 Der hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. 3 Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. 4 Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten, 5 starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann. 6 Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der HERR sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. 7 Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr. Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, 8 sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. 9 Der HERR gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten 10 und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. 11 Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? 12 Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, 13 wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des HERRN Hand hat mich getroffen.
14 Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließ nicht von ihr. 15 Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. 16 Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.
18 Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. 19 So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.
Wann fängt das Bessere endlich an, und wie kommt Bewegung in unsere Situation?Wann hört das endlich auf? Die Einschränkungen? Dieses Nicht-planen-Können? Wann fängt es an, wieder besser zu werden? Vor Silvester habe ich verschiedene Leute gefragt: Worauf freust Du Dich im neuen Jahr? Die Reaktionen waren oft genug: Schulterzucken. Und: „Ich weiß ja nicht, was möglich sein wird. Enttäuschungen gab es genug.“ Wie lässt sich das Gefühl der Lähmung überwinden? Wie können wir in die Gänge kommen und gerne vom Tisch aufstehen, weil wir uns auf das freuen, was kommt?
Unser Predigttext von heute erzählt aus dem Leben einer Frau. Auch ihr Leben wird unüberschaubar, sie verliert Perspektive um Perspektive. Und er erzählt, wie unbemerkt und im Mittendrin selbst unentdeckt Neues, Gutes, sich auftut. Nachlesen können Sie die Geschichte im 1. Kapitel des Buches Rut. Hier und jetzt erzähle ich den Predigttext: als „Kinderkirche für Erwachsene“:
Aufbruch mit Verlusten – und schließlich ein RestEin Mann tritt durch die Tür seines Hauses. Er schnuppert. Elimelech hat Hunger. Doch es riecht wie es schon die letzten Wochen roch: nach dünner Suppe. Wie er den Duft von frisch gebackenem Brot vermisst! Elimelech betrachtet den völlig vertrockneten Weizenhalm in seiner Hand. Er trägt ihn zu seiner Frau, legt ihn auf den Tisch und sagt: Sieh Dir das an. Der Weizen vertrocknet. Wir werden in absehbarer Zeit nicht genug zu essen haben. Entschlossen blickt er auf: Lass uns gehen. Auch wenn Bethlehem „Brothaus“ heißt: Hier gibt es kein Brot. Und ohne Brot Ist „Brothaus“ nicht mehr unser Zuhause.
Wenig später schließt Elimelech das Haus ab und zieht mit Noomi und den beiden Söhnen los. Lässt das Vertraute und die Toten zurück und die vier gehen in die Fremde. Dort finden sie genug. Sie bleiben. Es gibt Essen und einen überschaubaren Alltag. Doch dann stirbt Elimelech. Übrig bleiben Noomi als Witwe und zwei Halbwaisen. Und jetzt? Die Söhne treffen die Entscheidung: Sie heiraten in der Fremde. Man bleibt. Es geht ganz gut, Noomi ist versorgt, es gibt Essen und erneut einen überschaubaren Alltag. Schade, dass die Ehen kinderlos bleiben. Und dass Elimelech fehlt, schmerzt.
Doch dann sterben auch die beiden jungen Männer. Von der ursprünglichen Familie bleibt übrig: nur Noomi. Als Witwe in der Fremde. Die Verluste tun so weh. Und der Blick in die Zukunft auch: Wer wird für sie sorgen? Da gibt es kein Netzwerk für sie, die Übriggebliebene, für die Fremde in der Fremde. Und erneut und verschärft lautet die Frage: Bleiben mit nichts oder Zurückkehren mit nichts außer einer Geschichte von Verlust und Scheitern?
Erneuter Aufbruch aus Hunger – bitter und wie ein AlbtraumNoomi gibt sich einen Ruck und steht auf. Sie geht zurück. Den Ausschlag gibt ein Gerücht: Gott gibt wieder tägliches Brot – seinem Volk. Bethlehem ist wieder „Brothaus“. Bethlehem hat wieder Brot. Vielleicht auch für Noomi? Der Geruch von Brot und Heimat steigt Noomi in die Nase. Das Gerücht wird für Noomi zum lockenden Geruch. Sie macht sich auf, steht auf, wird aktiv, bricht auf, bricht ihre Situation auf.
Ihre Schwiegertöchter hat sie im Schlepptau. Unterwegs kommt Noomi ins Grübeln. Ja, sie stammt aus Bethlehem. Sie hat dort noch Verbindungen. Sie wird eine Chance haben. Doch die fremden Witfrauen? Sie werden dort so verloren sein wie Noomi es in der Fremde war. Noomi bleibt stehen. Sie muss die beiden Frauen wieder zurückschicken. Und das tut sie. Mit den besten Wünschen und einem Abschiedskuss. Doch die beiden jungen Frauen, Orpa und Rut, weigern sich. Sie beteuern lauthals: „Wir wollen bei Dir bleiben.“ Sie sind bereit, das Vertraute hinter sich zu lassen um der einen Vertrauten willen.
Doch Noomi widersetzt sich. Keine Zeit für Gefühle. Hier muss pragmatisch gedacht und gehandelt werden. Und so malt Noomi den Frauen klipp und klar vor Augen: Mit mir habt ihr keine Zukunft, kein Leben. Noomi unterstreicht: Mit ihr mitzugehen bedeutet, Gott gegen sich zu haben. Denn so erlebt Noomi ihre Situation, so deutet sie sie: Gott war gegen sie, sie musste scheitern. Kein Brot. Kein Mann. Keine Söhne. Keine Hoffnung. Keine Zukunft. Alles hat ihr Gott genommen. Bitter, hebräisch „mar“, ist ihr Leben. Wie wenn ein Mahr auf ihr säße: Zum Albtraum wurde ihr Dasein. Das ist nichts für die jungen Frauen!
Rut bindet sich fest an Noomi und begleitet sie nach BethlehemDiesmal gibt Orpa Noomi den Abschiedskuss zurück, dreht Noomi den Rücken zu und kehrt heim. Doch Rut erweist sich als Klette. Sie klammert. Sie hängt sich an Noomi. Ein drittes Mal schickt Noomi Rut weg: „Geh zurück, schnell, lauf Orpa nach!“ Doch Rut weigert sich.
Rut hat sich entschieden. Sie bleibt bei Noomi. Wie ernst es ihr ist, macht Rut mit einer großen Selbstverpflichtung deutlich:
„Wo du hingehst, da will ich auch hingehen;
wo du bleibst, da bleibe ich auch.
Dein Volk ist mein Volk,
und dein Gott ist mein Gott.
Wo du stirbst, da sterbe ich auch,
da will ich auch begraben werden.
Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.“
In großer Dichte bindet Rut ihr Leben an das von Noomi, hängt sich an sie, als wollte sie sagen: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Soll heißen, ich darf mitgehen, bei dir bleiben Tag und Nacht bis zum Ende.
Und Rut besiegelt ihre Entscheidung mit einem Schwur bei dem Gott, den Noomi als feindlich gesinnt erlebt. Rut weiß, was sie hinaufbeschwören könnte. Und sie tut’s trotzdem. Oder gerade deshalb. Es ist ihr bitterernst.
So kehrt Noomi als Witwe mit nichts außer einer Geschichte des Scheiterns und des Verlustes und einer fremden Frau, die selbst bereits Witwe ist, nach Bethlehem zurück. Mit nichts in den Händen außer der Hoffnung auf Brot und einem Netzwerk, das sie hoffentlich irgendwie tragen wird. Pläne? Ein Fremdwort. Leben von Tag zu Tag ist angesagt. Wann hört es endlich auf? Wann wird sie wieder gerne vom Tisch aufstehen?
Zwei NeuanfängeSo kehrt Noomi zurück: als „Rest“ ihrer ursprünglichen Familie. Mitten in ihrer Perspektivlosigkeit sieht sie nicht, was kommt. Und doch ist es längst angelegt: eine bessere Zeit. Denn immerhin: Ein Rest kehrt zurück. Und mit einem Rest hat Gott in seiner Geschichte mit Israel, mit den Menschen immer wieder etwas vor. Dem Rest gilt seine besondere Liebe. Der Rest bildet den Sauerteig für einen Neuanfang.
Und ein Zweites ist angelegt: Obgleich fremd, kommt Rut mit. Und diese Fremde wandert ein. Nach Bethlehem. In das Volk Gottes. In den Stammbaum Davids wandert sie ein und so in den Stammbaum Jesu. Es werden kommen vom Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes. Dies hat längst angefangen.
Noomi, Obed und die ZukunftAll das bekommt Noomi nicht mit. Wie auch? Sie steckt ja mittendrin. So wie wir. Noch ehe die nächsten 10 Jahre vergangen sind, am Ende des Buches Rut, wird erzählt, wie Noomi einen kleinen Jungen auf dem Schoss hält, Obed, den Sohn von Rut. Bestimmt hat Noomi dem Obed Geschichten erzählt. Von früher. Zum Beispiel wie sie nach Bethlehem zurückkam. Wir hören Noomi erzählen:
„Nur ich allein war übriggeblieben. Wozu?“ „Na um auf mich aufzupassen!“, ruft Obed begeistert. Noomi lacht. „Damals hab ich mir doch nicht vorstellen können, noch einmal einen solchen Schatz in den Händen zu haben! Jedenfalls habe ich unterwegs nachgedacht: Ich geh nach Hause, nach Bethlehem zurück. Allein.“ „Biste aber nicht!“, quakt Obed dazwischen. Noomi nickt versonnen. „Hast recht, bin ich nicht. Deine Mutter hing an mir wie eine Klette und wollte unbedingt bei mir bleiben. Unbedingt! Bei Gott hat sie es geschworen. Und dann blieb sie bei mir, bei Tag und bei Nacht.“ „Und bei mir und bei Papa und in Bethlehem und bei Gott.“, ergänzt Obed begeistert. Noomi nickt. „Es war so gut, dass sie ihren Sturkopf durchgesetzt hat! Sonst gäbe es dich nicht. Und mir ginge es bestimmt schlechter. Wer hätte das damals gedacht, dass alles so gut werden würde!“ In dem Moment tritt Obeds Mutter Rut vor die Tür und ruft: „Zu Tisch!“ Und aus dem Haus dringt der Duft von frischem Brot.
Das Besser hat längst angefangen. Unsichtbar, doch gegenwärtig.Tatsächlich: Es werden kommen vom Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes. Und es wird gut sein. Menschen werden gerne vom Tisch aufstehen, weil sie sich auf das freuen, was vor ihnen liegt. Wann wird das sein? Wann bekommen wir einen Vorgeschmack, wann wird es besser? Wenn ich von unserem Predigttext her denke: Das hat schon längst angefangen. Und das Gerücht, das gute Gerücht vom Brot, von Leben und Zukunft dringt auch uns entgegen. Der Geruch, der Duft von frischem Brot, weht hinein in unser Mittendrin mit all seinen Rückschlägen und Verlusten. Und dieser Duft lockt.
Von daher: Vielleicht ist es an der Zeit, sich aufzumachen. Mal sehen, was werden wird. Mal sehen, wen wir mitbringen werden dorthin, wo aller Hunger gesättigt wird. Mal sehen, wann er uns aufgeht, der Sauerteig von Gottes Güte, der Kern vom guten Ende. Denn der steckt unsichtbar, doch gegenwärtig auch in unserem Mittendrin. Amen.
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