3. Sonntag nach Epiphanias (22. Januar 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Jörg Bauer, Stuttgart [jo.bauer@klinikum-stuttgart.de]

Johannes 4, 46-54

Die Ohnmacht der MachtLiebe Gemeinde,
der sonst so mächtige Mann, der königliche Beamte: Jetzt kann er rein gar nichts mehr tun. Er ist am Ende. Sein Sohn, vielleicht acht Jahre alt, wird sterben: „denn er war todkrank“. Er liegt schon seit Tagen mit hohem Fieber im Bett. Kein Arzt kann mehr helfen, kein Gott. Kein Gebet hat geholfen. Wenn überhaupt, wird es sich jetzt nur noch um Stunden handeln, bis sein Kind stirbt. Und dann ist alles anders. Nichts mehr so, wie es war, weil das fröhliche Lachen seines Kindes für immer verklungen sein wird.

Wer je ein Kind vor der Zeit verloren oder auch nur um es gebangt hat, der kann mitfühlen, wie es diesem Vater jetzt geht. Da werden Ohnmacht, beißender Schmerz und Verzweiflung zu Dauergästen.

Der letzte StrohhalmDoch da: ein Lichtblick?! Vielleicht war es einer seiner Angestellten, der ihm von Jesus erzählt hat. Jesus, der Menschen, selbst die aussichtslosesten Fälle, schon geheilt haben soll. Der sei in Kana. Soll der Vater dorthin gehen und ihn aufsuchen? Kana ist nicht so weit weg von Kapernaum. Aber, immerhin 25 Kilometer Luftlinie sind es schon. Was, wenn sein Sohn stirbt, während er auf dem Weg ist? Dann sieht er sein Kind lebend nicht wieder. Kann er das wagen? Was, wenn das nur ein Gerücht ist? Wenn Jesus gar nicht in Kana ist, oder schon wieder weg ist? Das wäre besonders bitter.

Der Vater greift nach diesem letzten Strohhalm. Helf‘, was helfen mag. Vielleicht ist an diesem Gerücht vom Wunderheiler ja doch was dran? Er könnte es sich niemals verzeihen, nicht wirklich alles versucht zu haben. Seine Frau hält derweil am Bett des stöhnenden Kindes Wache. Sein Sohn darf auf keinen Fall ohne ein vertrautes Gesicht sterben.

Jesus hilft anders als erwartetJesus ist in Kana. Der Vater findet ihn. Er bittet, er bettelt, ohne große Höflichkeit. Not kennt kein Gebot: „Komm mit, komm mit mir nach Kapernaum. Schnell, schnell, sonst stirbt mein Sohn.“
Wie merkwürdig: Der Vater hält sich nicht nur an kein Gebot; er fragt sich in diesem Moment auch nicht, ob und wie denn dieser Jesus überhaupt helfen kann. Das ist ihm ganz egal: „Kannst du was, dann hilf mir!“

Noch merkwürdiger ist, wie Jesus reagiert: Der packt nicht sofort seine sieben Sachen; er beeilt sich nicht, wo es doch um Leben oder Tod geht.
Stattdessen sagt er schroff: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.“ Herrschaft, das ist doch jetzt wirklich nicht das Thema des Vaters! Was geht ihn das an, eine solche Frage? Er kann und will keine Diskussion über Zeichen und Wunder führen. Ihm ist nur wichtig, dass Jesus sofort mitkommt. Vielleicht kann der wirklich was?

„Schnell, schnell, Kyrie, Herr, komm mit mir und hilf meinem Kind! Ich brauche deine Hilfe. Jetzt. Es geht um jede Minute.“
Diese Verzweiflung des Vaters überwindet Jesus. Komplett. Sein Kyrie-eleison trifft Jesus ins Herz. Total. Er hilft. Aber, anders als der Vater erwartet hatte. Jesus kommt nicht mit nach Kapernaum, dort wo das sterbende Kind liegt. Oder schon gestorben ist? Dann wäre sowieso alles aus. Alle Kraft weg, auch der Mut der Verzweiflung, nur noch Leere.

Ein Wunder geschiehtJesus sagt nur fünf Worte: „Geh hin, dein Sohn lebt!“
Mehr bekommt der Vater nicht von Jesus, kein Medikament, keinen guten Ratschlag von wegen Fußwickel oder Kopfwickel. Er hat keinen Spatz in der Hand, geschweige denn die Taube auf dem Dach.
Nur diese Worte werden ihn auf der Rückreise begleiten.
Das Versprechen: „Geh hin, dein Sohn lebt!“

Genügt ihm das, dem verzweifelten Vater? Warum packt er Jesus denn nicht und schüttelt ihn: Du kommst jetzt mit, sofort!? Eine solche Reaktion wäre doch verständlich, sie wäre durchaus nachvollziehbar.
Das alles macht der Vater nicht. Er geht hin und glaubt. Er glaubt und geht, zurück nach Kapernaum. Ohne zu sehen, ohne sichtbares Zeichen im Reisegepäck. Er ist nicht wütend, er ist nicht verzweifelt, er ärgert sich nicht maßlos über diesen Wortemacher.
Er glaubt diesen fünf Worten. So schlicht geht Glaube, das Vertrauen auf die Worte Jesu: Geh hin, dein Sohn lebt. Dir sind deine Sünden vergeben. Ich bin bei dir. Ich lasse dich nicht fallen. Mein Erbarmen genügt; mehr brauchst du nicht.

Da gehen wir hin. Wir gehen mit, mit dem Vater hinunter nach Kapernaum, darauf vertrauend, dass alles schon gut ist und gut wird, mit seinem Sohn und dann auch mit uns, weil es Jesus sagt. So, wie der Vater – mit nichts in den Händen. Nur seine Worte im Ohr, die unser Herz aber eigentümlich tröstlich getroffen haben und den Glauben, das Vertrauen zum Klingen bringen.
Ich glaube, ich vertraue dir. Auf dein Wort hin, gehe ich. Kyrie-eleison. Geh hin.
Und dann mag es geschehen, dass auch das handfeste Wunder sichtbar wird, noch gar nicht zu Hause angekommen.

„Dein Kind lebt“, sagen die Diener. Dein Vertrauen war nicht vergeblich. Du hast dich nicht lächerlich gemacht, indem du seinen Worten ohne Zeichen und Wunder vertraut hast.
Du weißt, so wie der Vater in der Geschichte: Das war kein Zufall, als dein Kind gestern Mittag just zur siebten Stunde wieder genesen und eine große Ruhe und Gelassenheit in dein Leben eingekehrt ist. Du lebst auf, trotz dem, was dich erst noch bedrängt hat, wie groß der Berg auch war, der vor dir stand. Du glaubst und lebst, weil er es dir gesagt hat. Geh hin. Wunderbar.
Der Glaube – ein Wunder.

Das größte aller Wunder ist Jesus selbstAber, halt: Es geht ja noch weiter, das Wunder wird noch größer, wenn wir bedenken, was jetzt im Haus der Beamtenfamilie geschieht. Es ist sozusagen das Wunder aller Wunder: Er, der Vater und die Mutter, das ganze Haus, die Familie, glaubt.
Ja, was „glauben“ sie denn? Glaubte das Ehepaar, dass ihr Sohn jetzt nicht mehr sterben würde, weil von Jesus glücklich vor sicherem Tod gerettet?
Eines Tages wird der Sohn doch sterben müssen, so wie auch Lazarus, den Jesus bei anderer Gelegenheit sogar aus dem Tod herausgerufen hat, wieder gestorben ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das den glücklichen Eltern und dem „ganzen Haus“ nicht vollkommen klar war. Trotzdem glauben sie. Jesus.
Ihr Glaube muss folglich etwas anderes „geglaubt“ und verstanden haben.
Die Begegnung mit Jesus hat ihnen offensichtlich die Augen geöffnet. Ein neues Sehen. Er ist kein bloßer Wundertäter mit erstaunlichen Fähigkeiten, die sogar fern wirken. Das zuweilen sicher auch.

Der Familie und ihrem ganzen Haus muss da gestern, kurz nach 13 Uhr, aufgegangen sein, wer ihnen in diesem Wundertäter aus Judäa begegnet ist: Gott ganz nah in der Gestalt eines Menschen. Das Leben. Oder, wie es der Evangelist Johannes sonst auch noch sagen kann: „Das ewige Leben“. Schon jetzt und hier erhältlich, mitten im Leben: Die Erfahrung von tiefer Geborgenheit, unbändiger Freude und großer Gelassenheit in einer Welt, in der doch nichts sicher ist.
Das ewige Leben. Jesus. Ihm vertraut sich die Familie an: Vater und Mutter, das Kind, das ganze Haus. Wir.

Nicht zu erklären, mit unserer Vernunft, nicht zu deuten, wie dieses Vertrauen entsteht bei dem, der Jesus begegnet. Es entsteht und wird erfahrbar. Fast möchte man sagen: unweigerlich.
Ein Vertrauen, das dann sicher auch dem Tod standhält. Eines Tages müssen wir sterben. Leben hier in dieser Welt ist immer von Krankheit und Tod bedroht. Es ist die Krankheit, die zum Tod führt. Sie tragen der Vater, die Mutter und das Kind, alle, in sich.
Niemand muss sich aber vor dem Tod fürchten, weil Jesus durch den Tod hindurch ins Leben führt. Er sagt zu Martha, als sie um ihren toten Bruder Lazarus trauert: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“

Darauf vertraue ich, so wie der Vater in der Geschichte:
Geh hin, dein Sohn lebt, du lebst, auch wenn du stirbst. Dann erst recht.
Jesus, so schließt die Geschichte vom königlichen Beamten und seinem kranken und wieder gesund gewordenen Kind, ist das größte aller Wunder.
Heute sind wir ihm zusammen mit der Familie aus Kapernaum begegnet.
Amen.

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