3. Advent (12. Dezember 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Dieter Koch, Künzell [koch.korb@web.de]

1. Korinther 4,1-5

IntentionRichtet nicht! Richtet nicht vor der Zeit! Bleibt Menschen, die von der göttlichen Güte berührt einander barmherzig und vernünftig das Leben erschließen.

4,1 Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. 2 Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden. 3 Mir aber ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. 4 Ich bin mir zwar keiner Schuld bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet. 5 Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und das Trachten der Herzen offenbar machen wird. Dann wird auch einem jeden von Gott Lob zuteilwerden.

Liebe Gemeinde, die gehörten Worte klingen in unseren Ohren nach: Richtet nicht! Richtet nicht vor der Zeit. Aber bleibt treu in eurem Werk, bleibt Menschen, die von der göttlichen Güte berührt einander barmherzig und vernünftig das Leben erschließen.
Richtet nicht! Richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt. Er allein wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, was sich unserem Durchblick und unserer Einsicht entzieht. All unser Wissen, all unser Urteilen, ist und bleibt Stückwerk. Was uns als richtig erscheint, wie wir meinen, das Leben ordnen zu müssen, all unser Entscheiden, ist zutiefst vorläufig, fragmentarisch, der Veränderung bedürftig. Sind wir uns dessen wirklich bewusst? Wie stellen wir uns darauf ein, ohne zu resignieren, weil wir am Ende gar nichts wissen??

Eine Legende: Die Schaulustigen und der ElefantEine Legende geht durch die Zeiten: „Man hatte einen Elefanten zur Ausstellung bei Nacht in einen dunklen Raum gebracht. Die Menschen strömten in Scharen herbei. Da es dunkel war, konnten die Besucher den Elefanten nicht sehen, und so versuchten sie, seine Gestalt durch Betasten zu erfassen. Da der Elefant groß war, konnte jeder Besucher nur einen Teil des Tieres greifen und es nach seinem Tastbefund beschreiben. Einer der Besucher, der ein Bein des Elefanten erwischt hatte, erklärte, dass der Elefant wie eine starke Säule sei; ein zweiter, der die Stoßzähne berührte, beschrieb den Elefanten als spitzen Gegenstand; ein dritter, der das Ohr des Tieres ergriff, meinte, er sei einem Fächer nicht unähnlich; der vierte, der über den Rücken des Elefanten strich, behauptete, dass der Elefant so gerade und flach sei wie eine Liege“ (zitiert nach N. Peseschkian, Der Kaufmann und der Papagei, Frankfurt 1979, S.73f).
Vier Blickweisen auf den Elefanten werden hier erzählt, vier Perspektiven, das Leben zu sehen, stehen nebeneinander. Stehen sie auch gegeneinander? Prallen die Urteile aufeinander oder gibt es einen Geist, eine Kultur, eine Umgangsform, mit diesen verschiedenen Entdeckungen geschwisterlich umzugehen, sie stehen zu lassen, sodass sie einander bereichern? Wir wissen, alle haben etwas Wahres an diesem Elefanten entdeckt. Aber wissen die Besucher in dieser Geschichte es auch und könnten sie ihre ersten Beschreibungen und Urteile sich gegenseitig überlappen lassen? Ja, aber nur, wenn sie sich ihrer bruchstückhaften Zugangsweisen zu diesem unbekannten Objekt, Elefant genannt, bewusst wären.
Das Problem: Wir schauen jetzt von außen darauf. Wir sehen, als die, die den Durchblick haben, dass es ein Elefant ist. Wir können alle vier Perspektiven miteinander ins Gespräch, miteinander ins Lot zu bringen, weil klar ist, wo sie jeweils wahr und wo sie jeweils falsch sind. Aber ist das so einfach möglich, wenn man - wie die Leute aus der Geschichte – mittendrin steckt? Was wissen wir denn tatsächlich über die Wirklichkeit und das, was die Welt im Innersten zusammenhält?
Was viele heute erleben und wirklich schmerzt, sind die immer neuen Wellen der Rechthaberei, die unser Land durchziehen. Die Wirklichkeit wird zurechtgebastelt, wie es einem gerade passt. Andere Sichtweisen werden verunglimpft. Sich der Beschränktheit seiner Einsicht bewusst zu sein, kann kaum einer aushalten. Der Beitrag der Wissenschaften wird lächerlich gemacht. Was wir deshalb gerade heute brauchen, ist eine Kultur der Fehlbarkeit und die Zurücknahme des Richtgeistes.

Paulus in Korinth wider die Sophisten in GlaubensdingenIn dieser Situation hören wir die Worte des Apostels Paulus, neu hellhörig geworden. Da ist einer, der den Richtgeist in seine Schranken weist. Was war geschehen? Vom Geist Berührte meinten, in die volle Erkenntnis Gottes vorgedrungen zu sein. Sie erhoben den Anspruch, dass sie allein über den vollen Durchblick der himmlischen Welten verfügten. Meinungen prallten aufeinander. Ein Glaubenskrieg stand im Raum. Wer hat die alleinige Lehrgewalt über die rechte Auslegung der Worte des Herrn?
Da schreitet Paulus ein und macht klar: Nicht du, nicht ich sind die Meister des Evangeliums. Wir alle sind Schülerinnen und Schüler des großen Lehrers. Wir empfangen und wir teilen, was uns zum Wort des Lebens wird. Aber wir verfügen nicht darüber. Allein Christus selbst kann uns in die volle Erkenntnis führen am Tag seiner Wiederkunft. Jetzt können wir nur – und das gerade ist gut – Hörer des Wortes sein und treue Vermittler dessen, wo und wie uns das Evangelium zum Licht des Lebens wird. Wir sind auf Entdeckungsreise. Ein jeder schöpft aus Jesu Werk. Trost kommt und geht. Wahres leuchtet auf und wird wieder verdeckt. Versucht deshalb bei aufbrechendem Widerspruch euch klar zu machen: „Wir erkennen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; einst aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen wie ich erkannt bin“ (1. Korinther 13,12).
Was uns allen bleibt, was uns alle verbindet, ist unterwegs zu bleiben, gemeinsam unserem Vertrauen in Gott, unserer Bereitschaft zur geschwisterlichen Liebe Raum zu lassen, einander das Hoffnungslicht nicht zu verweigern. Darum die überaus scharfe apostolische Weisung gegen die allzu Klugen in Korinth: Keiner richte vor der Stunde der Vollendung. Keiner von uns setze sich auf den Richterstuhl Christi. Angesichts seines Urteils sind und bleiben alle unsere Urteile im wahrsten Sinne des Worts Vor-Urteile. Keiner rühme sich vor Gott. Keiner täusche sich über sich selbst. Keiner erhebe sich über den anderen. Seid vielmehr Bannerträger der göttlichen Herrlichkeit, die sich euch schenkt, bruchstückhaft hier, in der Stunde der Vollendung ganz. Was soll dann all das Richten, all das einander zersetzende Reden, Tratschen, Abwatschen, Beleidigen und Argwöhnen? Gewissenhaftigkeit zählt, auch in Glaubensdingen, aber nicht das oft so kleingeistige, erst innere, dann aber auch gewaltig nach außen tretende Aburteilen Anderer. Rechenschaft werden wir nur IHM zu geben haben, unserem Heiland Jesus Christus. Was aber heißt es dann, in seinem Urteil zu stehen? Was, dass uns Lob dargereicht wird von Gott?
Vor allem: Kennen wir uns denn selbst? Wissen wir hinreichend über unsere Motive und untergründigen Gedanken Bescheid? Was Paulus den Korinthern zumutete und uns zum Nachdenken aufträgt, ist, dass er nicht nur das Urteilen und Richten anderer stark in seine Schranken weist. Auch Paulus selbst ist sich in der Tiefe seines Wesens entzogen, auch er kann seine Handlungsgründe nicht völlig durchschauen, niemand kann dies. Selbst das Gewissenszeugnis ist trügerisch und so ist all unser Wissen, Entscheiden und Urteilen zutiefst vorläufig, fragmentarisch, der Veränderung bedürftig.

Was zählt!Gott allein durchschaut die Herzen. Sein Geist wohnt in uns. Lob kommt uns von ihm entgegen. Inmitten der zugemuteten Ernüchterung, dass unser Wissen Stückwerk bleibt, klopft eine Hoffnung an, die tröstet, beglückt, aufatmen lässt. Richtet nicht! Bleibt Menschen, die von der göttlichen Güte berührt einander barmherzig und vernünftig das Leben erschließen.
Amen.

Die Predigt basiert auf der vom selben Verfasser vorgelegten Predigtmeditation in der Zeitschrift „Für Arbeit und Besinnung“ 21/2021.

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)