21. Sonntag nach Trinitatis (20. Oktober 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs, Bad Teinach-Zavelstein [gerhard.schaeberle-koenigs@web.de]

Matthäus 5,38-48

IntentionDie Predigt zielt darauf, dass wir die Würde, die uns von Gott geschenkt ist, bewahren – und sie nicht etwa geringachten, indem wir denen, die uns Böses wollen oder antun, gleich werden.

Meine Würde lass ich nicht beschmutzenLiebe Gemeinde, Martin Luther King, der afroamerikanische Pastor und Bürgerrechtler erzählt in seiner Lebensgeschichte ein Erlebnis aus seinem Alltag. Er war in der Stadt unterwegs. Da kommt ein gutgekleideter Herr auf ihn zu und spricht ihn an: „Sind Sie Martin Luther King?“ „Ja, Sir“, antwortet er. Und daraufhin spuckt ihn der gutgekleidete Mann an.
Und was macht Martin Luther King? Er nimmt sein blütenweißes Taschentuch, wischt sich die Spucke vom Anzug und hält dem Anderen das Taschentuch hin: „Ich glaube, das gehört Ihnen, Sir! Ich gebe es Ihnen zurück.“
Was ihn beschmutzt und beleidigt hatte, war nicht seines. Würdevoll grenzt er sich ab.

„Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt …“In seiner Bibel war ihm die Bergpredigt Jesu besonders wertvoll. Hören Sie zwei Abschnitte daraus:
Jesus sagt den vielen Menschen, die zu ihm gekommen waren:

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist 2. Mose 21,24: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben‘ 3. Mose 19,18 und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“(Matthäus 5, 38-48)

Menschen geschieht Böses. Noch viel Schlimmeres als Martin Luther King an jenem Tag geschah. Nicht nur in der fernen Vergangenheit, sondern Tag für Tag auch heute. Nicht nur in fernen Ländern, sondern auch hier, mitten unter uns.
Gibt es keine Liebe unter den Menschen mehr?

Ist Rache nicht süß?Jesus war durchdrungen von der Liebe Gottes. Und er war überzeugt, dass Gott, den er „mein Vater“ nannte, auch all die anderen Menschen liebt, nicht nur ihn, seinen Sohn. Auch wenn Gott immer wieder viel Grund hat, traurig zu sein über seine Menschen. Er ist traurig, manchmal sogar zornig darüber, wie die Menschen mit ihrem Leben umgehen und wie sie miteinander umgehen. Sie achten es gering: das eigene Leben und das ihrer Mitmenschen. Er hat ihnen das Leben geschenkt. Und sie achten es gering.

Jesus tut das auch weh. Er versucht alles, um die Menschen, die auf ihn hören, einen besseren Weg zu bahnen, einen Weg, der Gott gefällt.

Die zwei Stücke aus seiner Bergpredigt, die ich Ihnen vorgelesen habe, sind so ein Versuch.

Wenn er die Menschen vor sich sieht, dann sieht er auch, was in den Tiefen ihrer Seele verborgen ist und immer wieder hochkommt. Da liegen Erfahrungen von Gewalt, von Unrecht, Übervorteilung. Da liegen Erinnerungen daran, wie sie betrogen wurden. Da liegen bittere Enttäuschungen, auch über sich selbst. Da liegt das beschämende Gefühl, sich nicht wehren zu können gegen Unrecht.
Und wenn etwas aus dieser Suppe von bitteren Erfahrungen mal wieder hochkommt, dann ist es durchsetzt mit einem kaum zähmbaren Verlangen. Es ist das Verlangen, es dem, der mir das angetan hat, mal so richtig heimzuzahlen, doppelt und dreifach, ihm also eine Retourkutsche verpassen, die es in sich hat.
Erinnerung an schlimme Erfahrungen von Gewalt und Unrecht ist bitter. Rache aber, schon der Gedanke daran, ist süß, sagt ein Sprichwort.

Jesus sieht die Menschen vor sich. Er kennt ihre Gefühle. Er macht ihnen keinen Vorwurf. Sie können nichts dafür, dass sie so übel behandelt worden sind. Er will ihnen einen besseren Weg zeigen als den, nach dem ihnen manchmal gelüstet.

„Ihr habt gehört, dass gesagt wird“, fängt er an. Also vom Hörensagen glaubt ihr, dass man Gleiches mit Gleichem vergelten soll. Denn in der Bibel steht ja: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“
Ja, das steht da. Und viele haben es für sich so verstanden: Wenn dich einer schlägt, dann schlag zurück. Lass dir nichts gefallen. Wenn dich einer schief anschaut, dann denk dir was aus, dass ihn in Verruf bringt. Wenn dich einer beleidigt, dann stopf ihm das Maul.
Gerade das steht so nicht in der Bibel. Sondern gemeint ist: Wenn du jemandem einen Schaden angerichtet hast, dann musst du diesen Schaden ersetzen oder wenigstens ausgleichen. Und zwar entsprechend der Größe des Schadens. Mehr nicht. Diese Regel wurde gefasst, um zu einem einigermaßen friedlichen Zusammenleben zu kommen. Sie wurde formuliert, um den Kreislauf von Wut und Gewalt einzudämmen. Wir kennen das als Selbstverständlichkeit in unserem Alltag. Wenn ich mit meinem Auto einen Unfall verursacht habe und Schaden entstanden ist, dann muss ich dafür einstehen, dass der Schaden ersetzt wird.

Schadenersatzregelungen sind für die Erhaltung und die Wiederherstellung von Frieden wichtig. Jesus geht aber noch weiter. Er will dem Übel an die Wurzel gehen. Er sagt: Wenn dir jemand etwas Böses angetan hat, dann schlag nicht zurück, sondern nimm es auf dich, dass der andere dir noch mehr weh tut.
Kann man diesen Rat Jesu wirklich ernst nehmen? Wäre es klug von Martin Luther King gewesen, wenn er zu dem Mann gesagt hätte: „Spuck ruhig weiter.“
Müssen wir nicht zu Jesus sagen: Das kannst du uns nicht zumuten. Das Böse muss doch eingedämmt werden. Wenn niemand sich gegen Gewalttäter wehrt, dann sind die Guten bald ausgerottet.

Vielleicht verstehen wir Jesus noch etwas besser, wenn wir hören, was er als zweites sagt: „Ihr habt gehört, das gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ Jesus weiß, dass die Leute auch diesen Spruch vom Hörensagen kennen. Doch er steht nicht in der Bibel. Es ist kein von Gott gegebenes Gebot. Der zweite Teil, „den Feind hassen“, ist hinzugedichtet. Von Menschen, die gar nichts auf Gottes Gebot geben, sondern die diejenigen, gegen die sie etwas haben, am liebsten vernichten möchten. Und dafür befeuern sie die übelsten Instinkte in den Menschen. Und lügen ihnen vor: Das ist Gottes Wille. Furchtbar ist das.
Auch dem stellt Jesus ein starkes Nein entgegen. „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde. Und bittet für die, die euch verfolgen.“
„Unmöglich“, sagen wir. Wenn wir behaupten, wir könnten dem nachkommen, würden wir heucheln. Wir kennen doch die Stimmen in uns, die uns sagen: „Lass dir nichts gefallen. Wehr dich! Gib’s ihm zurück. Doppelt und dreifach.“ Diese Stimmen sind sehr stark. Sie sind laut. Sie sind schrill.

Die Stimme Jesu ist leiserDie Stimme Jesu ist leiser. Sie fragt mich: Willst du wirklich so grausam, so verachtend, so fies und hinterhältig sein wie der, der dich piesackt und dein Leben zerstören will? Willst du zulassen, dass er bestimmt, was für ein Mensch du bist? Das kannst du nicht wollen. Gib deine Würde, deine Achtung vor dir selbst, nicht auf.
Jesu Stimme spricht den Kern unserer Persönlichkeit an, mein Ich. Das darf ich nicht aufs Spiel setzen, indem ich dem, der mir Böses will, gleich werde.
Darum sagt Jesus: „Verzichte darauf, so zu werden wie dein Feind. Dafür bist du zu schade. Lass das Böse sich nicht in dich hineinfressen.“

Die Stimme Jesu ist leiser als die schrillen Schreie nach Rache und Vergeltung. Sie ist leiser, weil er im Grunde von und zu sich selbst spricht. Er weiß, auf was für einen Weg er sich begibt. Viel Böses wird ihm entgegenschallen. Und noch Schlimmeres wird ihm angetan werden. Er wird bloßgestellt und verhöhnt. Er wird verspottet. Er wird geschlagen. Und er wehrt sich nicht. Er schlägt nicht zurück. Man wird ihm seine Kleider nehmen. Und dann wird man ihn in aller Öffentlichkeit sterben lassen. Und auch dabei verhöhnen ihn noch die Gaffer.

Der Weg der GerechtigkeitSollen wir ihm auf diesem Weg nachfolgen? Wir können es nicht von uns selbst noch von anderen verlangen. Es wäre vermessen, wenn jemand von sich sagen würde: „Ich kann das.“

Nur einer konnte es. Und der war eins mit Gott seinem Vater. Er war geborgen in dessen Händen. Über den Tod hinaus. Er hat es für uns getan, weil wir es nicht können. Wenn wir auf ihn sehen, dann sehen wir vielleicht als erstes das große Meer des Bösen in seiner schlimmsten Gestalt. Doch darüber geht bereits ein Licht auf. Es strahlt hell. Es verwandelt uns. Und wir können sehen, was wir in den Augen Gottes wirklich sind: Geliebte Geschöpfe Gottes. Und unsere Nachbarn auch.

Von Gott geliebt, darin wurzelt unsere Würde, unser Menschsein. Auf sie achten wir. Ob es uns im Fall des Falles gelingt, uns gegenüber dem, der uns Böses antut, so würdevoll abzugrenzen, wie es Martin Luther King konnte, das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Wenn es uns doch gelingt, dann wird es ein Geschenk sein, eine göttliche Eingebung, nicht aber unser Verdienst. Sie wird uns davor bewahren, denen gleich zu werden, die Böses wollen und tun.
Nicht mehr gilt: Wie du mir, so ich dir. Sondern: Wie Gott mir, so ich dir. Amen.


Lied nach der Predigt:
O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens EG 416

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