Trinitatis (31. Mai 2015)

Autorin / Autor:
Dekan i.R. Hans-Frieder Rabus, Stuttgart [hf.rabus@web.de]

Johannes 3, 1-8

Was die Nacht alles an den Tag bringt„Der kam zu Jesus bei Nacht“ – das geht manchen Menschen so. Wenn man bestimmte Dinge besprechen will, geht das leichter im Schutz der Dunkelheit. Zumal bei Führungskräften. Nikodemus, einer der religiös-politischen Verantwortungsträger in Jerusalem, sucht Seelsorge. Unser beauftragter Pfarrer am Landtag oder der EKD-Beauftragte in Berlin könnten erzählen von manchen Nachtgesprächen mit Abgeordneten. Am Tresen in der Bar. Oder zwischen Tür und Angel, im Stehen. Denn bei manchem, was dich bewegt, bist du so unsicher und scheu, dass du dir selber dabei nicht ins Gesicht sehen möchtest. Bei Nacht kommt Nikodemus. Damit man ihn nicht sieht. Und weil Dunkelheit hilft, das Herz zu öffnen.

Zu Jesus kommt er in der Nacht. Zu dem Menschen, dessen göttlich-liebender Blick bis in den Herzensgrund hinabreicht. Vielleicht kann der scheue Nikodemus uns mitnehmen? Vielleicht regt er an, das mit den Nächten in unserm Leben nicht einfach gering zu achten. Sondern als Raum zu sehen, der uns zu größerer Wahrheit führen mag. Nachts, da sind wir dem Unsicheren im Leben nahe. Unseren Ängsten auch. Nacht steht für die unbewusste Seite unserer Seele, für Sehnsüchte, die sich nicht trauen, für Wünsche und Begierden, die ich mir gar nicht alle eingestehen kann, weil sie sich nicht an meine moralischen Standards halten. Nachts kommen die Träume. Nicht nur die verwirrenden. Auch die erhellenden. Der Traum, was mein Leben eigentlich sein könnte, meldet sich in mancherlei Verkleidungen. Die Suchbewegung: Wohin geht es denn mit mir, wenn es Jahr um Jahr weitergeht und eines Tages zu Ende geht?

Wer bist du – wer bin ich?Der Mut des Nikodemus gefällt mir. Er weiß nämlich gar nicht, über was er mit Jesus sprechen will. Er kann es nicht auf den Punkt bringen, kann Jesus nicht sagen: das und das ist mein Problem, bitte hilf mir dabei. Sondern er spürt nur: Jesus ist ganz dran am Leben, an seinem Geheimnis, seiner Not und Verheißung. „Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen“, so eröffnet Nikodemus und sucht Kontakt. Für meine Ohren sagt er damit: Ich weiß gar nichts. Ich weiß nur: Jesus, du ziehst mich magnetisch an. Du lebst in Kraft, auch wo du schwach wirkst, arm bist, machtlos auftrittst. Vielleicht bist du ein Fachmann für Zeiten, wo einem das Leben brüchig wird? Wo die eigenen Kräfte und Anschauungen nicht mehr tragen? Wo auf der Höhe des Ansehens und Erfolgs die Frage lauert: Und wer bin ich ohne das alles, - wer bin ich vor mir selbst, vor meinem inneren Sollen, vor Gott?

Wie wird mein Leben neu?Jesus antwortete ihm: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Ans Licht bringt Jesus schlagartig, was für Nikodemus nur dunkel zu ahnen war. Es geht um klare Sicht. Und um Neugeburt. Darauf läuft das Tasten und Nichtwissen des Nikodemus in den Augen Jesu hinaus. Wenn du in der Krise bist, hilft es nicht, an Symptomen zu kurieren. Wenn du in der Lebensnacht steckst, hilft es nicht, dir eine rosa Brille aufzusetzen. Es geht ums Ganze deines Lebens. Dass es neu, verwandelt werden muss, willst du lebendig bleiben. Näher dran an dem, wie du von Gott gemeint bist. Denn du spürst: Immer wieder habe ich so viel übersehen, zu wenig geliebt, oft nicht das Rechte getan, trotz meinem Bemühen. In der Klarsicht des Reiches Gottes siehst du auch deine Schatten, das, wofür du dich schämst, nachträglich, das, wo du schuldig wurdest und vieles schuldig bliebst. Das wird hier bei Nikodemus nicht entfaltet, sondern schwingt unausgesprochen mit in der Nacht.

Doch – kennen Sie das auch? Die Erfahrung: Der, der ich bin, grüßt wehmütig den, der ich sein sollte. Die Erfahrung: Ich komm da nicht hin aus eigener Kraft. Ich kann nicht aus meiner Haut heraus. Ich kann nur entscheiden: Mag ich mein Leben ungeschminkt ansehen – oder eben nur geschönt? Traue ich dem Schmerz der Selbsterkenntnis zu, mich zu verwandeln? Oder verharre ich lieber in einer vertrauten Unzufriedenheit mit mir – Paul Gerhardt nennt das treffend „selbsteigene Pein“ (EG 361, 2). Aus Furcht vor den Schmerzen, wenn mein geistlicher Mensch zur Welt kommen will, verharre ich lieber im Geflecht meiner Lebensnarben. Bleibe rückwärtsgewandt in Sorgen oder Verletztheiten hängen. Nach dem Muster: Wenn ich nur das erst überwunden hätte, wenn mein Leben, meine Beziehungen anders gelaufen wären, wenn Gott mir dieses Trauma nehmen würde, – dann, ja dann…

Im geistlichen GeburtskanalNur wenn du von neuem geboren wirst, siehst du Gottes Reich und lebst in ihm. Jesus wiederholt das zweimal. Nikodemus sieht nur die absurde Vorstellung: Ich kann doch mein Geborensein nicht rückgängig machen als alter Mann und nochmals von vorn anfangen. Jesus nötigt ihn, trotzdem an diesem Bild zu bleiben. Weil es unser Verständnis von möglich und unmöglich weitet. Und weil es zeigt: Nicht aus eigener Vernunft noch Kraft schaffst du das. Nicht deine Aktivität und Frömmigkeit bringt dich hier voran, du respektabler geistlicher Verantwortungsträger. Ins Reich Gottes kommst du nur in höchster Passivität (das heißt nicht: in fauler Wurstigkeit). Wie ein Säugling im Geburtskanal beengt ist und in Nöten, es eben erleiden muss, bis er hindurchgepresst und hindurchgedrungen ist in unsere Welt, so ist es mit dem Neuwerden und Gottfinden überhaupt. Bedrängtheit, Schmerzen, Bangigkeit gehören dazu. Sind Anzeichen, dass an dir etwas geschieht. Johannes Tauler, der große Straßburger Gottesfreund, drückt das aus eigener Erfahrung so aus: „Es erhebt sich kein Gedränge im Menschen, Gott wolle denn eine neue Geburt in ihm vornehmen.“ Die Gottesgeburt in der Seele. Das ist keine kuschelige Innigkeit. Die Geburt Gottes in der Seele, die Neugeburt des Menschen in Gott ist gewaltig, – unwiderstehlich wie die erste Sekunde der Schöpfung, bezwingend wie die Liebe.

Aus Wasser und Geist werden wir zu neuen Menschen geboren. Man kann darin unser Doppelwesen sehen: Wir kommen aus dem Fruchtwasser der Kreatur und aus Gottes liebendem Geist. Sind vergänglich und für die Ewigkeit gewollt. Man kann Wasser und Geist auch deuten als Untergang und Neugeburt in der Taufe. So wie Jesus im Jordan untergetaucht wurde und Gottes liebende Kraft mit der Geistestaube über ihn kam. Dieser Gotteskraft will ich die Bruchzonen meines Lebens hinhalten. Krankheit, Sorgen, Schuld, die anhängt wie Teer. Gott hinhalten, wenn mein äußerer Mensch außer Tritt kam: die Arbeit verloren, die Partnerschaft zermürbt. Oder wenn mein innerer Mensch an Gitterstäben rüttelt: Unzufriedenheit, Depressionen, unerfüllte Sehnsüchte. Will mein Wesen, wie es gerade ist, Gott hinhalten und bitten: Zeig mir, wohin das alles mich führen soll. Das, was heil ist, und das, was bedrängt. Zeig mir in meinen Lebensnächten, inwiefern sie Anzeichen sind von Neugeburt. Und lass mich erkennen bei Tage, wie sehr du mich liebst, – unter allen Umständen meines Lebens mich schöpferisch liebst.

„Der Wind bläst, wo er will“, sagt Jesus, „und du hörst sein Sausen wohl.“ Manchmal sind das Stürme des Lebens, die uns unversehens packen. Und manchmal meint das schöne Lutherwort „Sausen“ die Stille, in der Gott gegenwärtig ist. Wie er beim Propheten Elia nicht im Sturmwind und nicht im Feuer war, sondern im stillen, sanften Sausen (1. Kön 19, 12). Da kommt es aufs Lauschen an. Hineinlauschen in die Lebensfreuden und Lebensrätsel: bist du da? Bist du wirklich in allem da? – Dann lässt es sich tragen. Dann wird es mich verwandeln, wie sehr es mich auch durchschütteln und bedrängen mag. „Leben heißt langsam geboren werden. Es wäre allzu bequem, wenn man sich fix und fertige Seelen kaufen könnte“ (Antoine de Saint-Exupéry). Darum geht es im heutigen Evangelium. Nicht bequem ist das, aber unvergleichlich groß: gerade mit unseren unfertigen Seelen in Gottes Armen anzukommen.


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