Rogate (10. Mai 2015)
Pfarrer i.R. Eberhard Süße, Ohmden [Renate.kromer-suesse@arcor.de]
Johannes 16, 23-26; 16, 33
1. SignaleVor einiger Zeit war ich bei jungen Landwirten und Landfrauen zu einem Gesprächsabend eingeladen. Dabei kamen wir auf den Film Easy Rider aus den 70er Jahren zu sprechen, den einige gesehen hatten. Besonders bewegte sie eine Szene. Man sah da eine Kommune junger Leute, die ihr Land im amerikanischen Westen bestellte. Schweigend und mit bedeutsamen Gesten warfen sie Saatgut aus – aber auf reines Ödland. Nichts wurde beackert und gepflügt, nichts wurde gedüngt. Vielmehr betete die Kommune um Aufgehen der Saat auf dem steinigen Boden. Und das im technischen Zeitalter! Und das mitten in der Zeit der Rebellion und der Studentenunruhen, wo die Jugend in aller Welt zur Aktivität drängte, aber doch nicht zum Beten!
Ich dachte, die religiöse Zeit sei längst vorbei. Dietrich Bonhoeffer schrieb ja schon vor 70 Jahren aus der Berliner Haft an seinen Freund: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen. Die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein“ (Brief vom 30. 4. 1944 an Eberhard Bethge). Und das war an jenem Abend, ja auch mein persönlicher Eindruck von der Landjugend, die kaum Anzeichen einer spirituellen Regung erkennen ließ. Aber nun bewegte sie gerade diese Filmpassage! Sie hielten dieses Aussäen zwar für sinnlos. Aber ein Signal schien ihnen mit jener Szene gesetzt. Ein Signal wofür? Vielleicht für den Hintergrund.
Und ich habe oft das Empfinden, wir hielten es einfach nicht mehr aus mit unserem Kreisen um Couchgarnitur und Farbtapeten, Kreuzworträtseln und Computerspielen. Das alles ist doch purer Vordergrund! Aber nun kommt in solchem Vordergrund auf einmal ein kleines Kind zur Welt; mittendrin beginnt da eine herzige Lena oder ein munterer Marcel zu atmen. Unentfaltet und geheimnisvoll liegen sie noch in der Wiege – mitten zwischen Couchgarnitur, Farbtapeten und Computerspielen. Warum nehmen wir sie jetzt und tragen sie hinaus und in eine Kirche? Was für ein Tapetenwechsel! Treibt dazu nicht die Suche nach dem Hintergrund – hinter diesem kleinen Wesen.
Oder warum tauft man ein Schiff, ehe man's vom Stapel lässt und dem gefährlichen Meer übergibt? Oder warum feiert man den Wechsel eines Jahres, das am 31. Dezember aushaucht und nicht einfach in einen 32. Dezember mündet? Ist denn nicht gleichgültig, dass man wieder von vorn zu zählen beginnt? Oder warum unterschreibt ein Zeuge im Gerichtssaal nicht einfach seine Aussage, sondern bekräftigt dies oft mit einer seltsamen Ausformung von Finger und Hand durch einen Eid? Seltsame Ausformung nach oben! Sind das nicht alles Signale für die Suche nach dem Hintergrund? Mitten im Vordergrund?
Und entdeckt es eine Spürnase nicht überall? In der bewussten Art des Geburtstagfeiern, im religiösen Liedgut der Gesangvereine, im stillen Innehalten an Krankenbetten – und nun eben auch im ernsten Schweigen der säenden Kommune? Und ist der intensivste Vorstoß zum Hintergrund nicht das Beten? Denn das Gebet sucht keinen Hintergrund, der halt irgendwo und irgendwie west. Sondern einen, der in besonderer Weise hereinwirkt in den Vordergrund! Der einen zieht, einen trägt, einen fordert, einen korrigiert. Einen sehr persönlichen Hintergrund namens Gott ertasten wir. Darum wird alles so intensiv. Darum auch verklammern sich die Finger zur intensivsten Gebärde, die Händen möglich ist.
2. Die KluftNur, Beten weiß auch um eine Kluft, einen Abstand. Hintergrund ist nicht Vordergrund. Davon redet Jesus in einem seiner eigenartigsten Worte. „Ich habe zu euch in Bildern geredet“, sagt er in unserem Abschnitt aus den Abschiedsreden. „Es kommt aber die Zeit, dass ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde.“ Konfirmanden versuchte ich das so zu erklären:
Denkt euch einmal den Fall, es existieren irgendwo Wesen im Weltall, die umfassen 20 Dimensionen des Seins. Wir Erdbewohner aber erfassen alles nur in 3 Dimensionen; nämlich in der Länge können wir etwas denken, in der Höhe und in der Breite. Manche sagen, wir verfügen noch über eine 4. Dimension, nämlich über die Erfahrung von Zeit. Angenommen nun, ein solch 20-dimensionales Wesen würde auf unserer Erde landen. Wie sollte es sich dann verständlich machen? Es müsste wohl unsere Sprache erlernen und sich dann in unseren 3 oder 4 Dimensionen aussprechen. Aber von den 20 Dimensionen wollte es doch künden! Dann kann es eigentlich nur in Bildern reden, nämlich in den Bildern unserer Erde.
Von da her versuche ich Jesus zu verstehen. Er sagt, er sei Brot oder er sei Tür oder er sei Hirte oder er sei Licht – und meint doch immer viel, viel mehr. „Ich habe zu euch in Bildern geredet“, sagt er, in Erd-Bildern. „Es kommt aber die Zeit, dass ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde.“ Das kann dann aber eigentlich nur die Zeit sein, wo Vordergrund und Hintergrund zusammenfallen. Wo diese Zeit endet und wir ganz in seiner Dimension leben, loben, verstehen.
Bislang aber treiben wir unser Wesen in 3 oder 4 Dimensionen, und Jesus ist in seiner Dimension. Und dazwischen ist eine Kluft. Und ich frage mich: Will nicht gerade unser Gebet diese Kluft überbrücken? Soll unser Vordergrund von Couchgarnitur und Farbtapeten, von Kreuzworträtseln und Computerspielen sich nicht berühren mit seinem Hintergrund? So intensiv wie möglich? So wie bei der säenden Kommune vielleicht? Dann müsste Gebet aber wirklich in seinem Namen geschehen. Wie könnte das aussehen?
3. Die zwei SäckeIm indischen Christentum habe ich viel Weisheit kennengelernt. Beeindruckt hat mich folgende Erzählung:
Ein Handelsherr rief seine zwei Diener, wies auf das Gebirge vor ihnen und sagte: „Mein Freund wohnt dort in den Bergen. Ich will ihm zwei Säcke Reis schicken. Jeder von euch soll einen Sack nehmen. Seid vorsichtig, wenn ihr den Dschungel durchquert. In einer Stunde könnt ihr euch aufmachen.“ Der eine Diener ging in seine Hütte, schloss die Tür, kniete nieder und betete. Ebenso tat der andere. Danach holte der erste seinen Sack Reis und machte sich auf den Weg. Wenig später wollte auch der zweite seinen Sack auf die Schulter heben. Der Handelsherr aber sagte: „Es ist genug, wenn du nur einen halben Sack trägst. Fülle das übrige um.“ Der Diener war froh und lächelte.
Nach einigen Stunden kamen beide oben in der Berghütte an und der Freund nahm die Säcke mit großer Freude entgegen. Auf dem Heimweg erzählte der eine Diener dem anderen, was er gebetet hatte: „Ich klagte Gott“, so sagte er, „dass ich körperlich so schwach sei und unfähig, einen ganzen Sack zu tragen. So bat ich Gott um Erleichterung. Und er hat mein Gebet erhört. Ich musste nur einen halben Sack tragen.“ Der andere Diener erwiderte: „Auch ich klagte Gott, dass ich zu schwach sei, um einen ganzen Sack zu tragen. So bat ich Gott, mich zu stärken. Und er hat mein Gebet erhört. Er gab mir Kraft und so trug ich den ganzen Sack leichter.“Eine tiefsinnige Geschichte. Gott nimmt keinem die Last ab, sondern mutet wohl jedem so viel zu, wie er gerade noch tragen kann. Um es in unserem geliebten Schwäbisch zu sagen: „Jeder hat sei Päckle z'traga.“ Aber eben „sei Päckle.“ Sein ihm zugemutetes; der eine ein ganzes, der andere ein halbes. Und es nimmt wunder, dass die zwei Diener darüber nicht in Zwist und Gehässigkeit geraten, dass es der eine leichter habe; der andere schwerer. Können wir auch einfach still die Last akzeptieren, die uns nun halt einmal in Gottes Namen aufgebürdet ist? Ohne Seitenblick? Aber wer von den zweien hat es denn schwerer? Der eine bittet um äußere Erleichterung, der andere um innere Stärke. Der eine erhält den halben Sack, der andere die doppelte Kraft. Trägt da zuletzt nicht jeder ähnlich schwer? Eine seltsame Bet-Geschichte.
Ich meine, sie sollte uns in Bewegung bringen. Weg vom einen Diener. Hin zum anderen Diener. Denn Jesus sagt hier im Text etwas vorwurfsvoll: „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen.“ Das heißt doch wohl: Bisher habt ihr immer gebetet in eurem Namen, um euer Ergehen, um eure Genesung, um eure Erleichterung, um eine halbe Last oder gar keine Last. „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen.“ Müssten wir aber nicht von Ihm lernen? Nicht die Last wegbeten, nicht ein Kreuz wegbeten, sondern bitten ums Durchhaltenkönnen. Ich glaube uns tut not eine Art Kreuz-Gebet. Eines, das gegen sich selbst anbetet und das Kreuz nicht fortwünscht, sondern annimmt. Das wäre wohl Gebet im Namen Jesu.
Zwei Diener sind immer unterwegs. Einer, der um den halben Sack bittet; und einer, der um die Kraft für den ganzen Sack bittet. Bewegen wir uns vom einen Diener zum andern! Ich glaube eben, das Kreuz-Gebet hat die Gewissheit der Erhörung, wie es Jesus hier ausspricht: „Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet, so wird er's euch geben.“ Aber er fügt hinzu: „in meinem Namen.“
4. Die AngstMeine Großmutter fuhr mit Pferd und Wagen, hatte aber Angst, im Auto zu fahren. Meine Mutter fuhr im Auto, hatte aber Angst zu fliegen. Ich fliege in Düsenmaschinen, habe aber Angst vor Atomflugzeugen. Mein Sohn wird vielleicht fliegen in Atomflugzeugen, hat aber Angst, mit Pferd und Wagen zu fahren – wie doch Großmutter es tat. Das Karussell der Angst dreht sich von Großmutter bis Urenkel.
Jesus gibt keine Philosophie von sich. Nur einen Satz: „In der Welt habt ihr Angst.“ Welch bewegender Schlusssatz zu seiner Rede vom Gebet. „In der Welt habt ihr Angst.“ Knapp und präzis steht das da, und Psychologen buchstabieren's mühsam nach, indem sie den ersten Angstmoment bei der Geburt eines Kindes annehmen. Schon wenn der Kopf geboren werde, sei der schützende Schoß verlassen. Man werde ausgestoßen, von der Nabelschnur getrennt, beklemmend sei die Enge des Geburtskanals. Angst von der ersten Lebensminute an in diesem großen Wohnhaus Welt. Ab da wird sie unser Lebenshintergrund sein. Und aller Vordergrund von Pferd und Wagen, Düsenmaschine und atomarer Gefahr geschieht vor diesem Angsthintergrund bis zur letzten Lebensminute.
Doch nun sagt Jesus nicht: In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Angst überwunden! Nein, die Angst belässt er uns; vielleicht als eine Art geheimes Frühwarnsystem – bei drohender Gefährdung. Er lenkt unser Augenmerk aber in eine andere Richtung und gibt uns zu verstehen: Ihr müsst euch umorientieren! Ihr müsst euch auf einen anderen Hintergrund einlassen: Nicht auf die Angst, sondern auf mich! Denn: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Dieses ganze Beklemmend-Enge vom engen Geburtskanal an habe ich durchlaufen bis zur Engführung im dunklen Grab. Und habe es überwunden. Auf diese Weite lasst euch ein! Mitten in der Angst. Auf diesen weiten Hintergrund polt um! Und wo könnte dies intensiver geschehen als nun eben im Gebet – im Namen Jesu. Und so mag uns dies Christuswort in die Engführungen unseres jungen oder alten Lebens begleiten: „In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
Amen.
Vorbemerkung: Um der Klarheit des Gedankengangs willen habe ich den Text um die Verse 26 b – 28 gekürzt.
Predigtsituation: Eine überwiegend dörfliche Gemeinde; zwar längst auswärtig erwerbstätig, aber noch von landwirtschaftlichen Vorstellungen geprägt.
Gliederung: Unter vier Leitworten möchte ich diese Jesusworte mit Ihnen bedenken: (s. Gliederung der Predigt).
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