Quasimodogeniti (12. April 2015)
Pfarrerin und Kirchenrätin Dr. Evelina Volkmann, Stuttgart [Evelina.Volkmann@elk-wue.de ]
Johannes 20, 19-29
I. Ostersonntag: Was Thomas nur vom Hörensagen weißLiebe Gemeinde!
Auf schreckliche und grausame Weise stirbt Jesus am Kreuz. Wenige nur halten dieses Sterben aus. Und dann legen sie ihn ins Grab. So, wie man es mit Toten macht. Sie nehmen von ihm Abschied. Tieftraurig sind sie. Aus und vorbei, so denken sie. Eine Welt ist zusammengebrochen. Jesus ist tot.
Zwei Tage später versammeln sie sich, die Jünger. Sie haben große Angst. Sie fühlen sich nicht sicher. Wer weiß, was die Obrigkeit mit ihnen vorhat. Darum haben sie sich eingeschlossen. Was Maria Magdalena gesagt hat, verunsichert sie doch sehr. „Jesus ist nicht tot!“, hat sie gesagt. „Jesus lebt!“ Sie hat ihn mit eigenen Augen gesehen. Nicht tot? Er lebt? Wie kann das sein?
Und auf einmal ist er da. Jesus. „Friede sei mit euch!“ Wie, er kann selbst durch verschlossene Türen kommen? Er weiß, wo sie sich aufhalten? Jesus steht vor ihnen und zeigt ihnen seine Wunden. Er zeigt die Nägelmale an seinen Händen. Und die Stelle an seiner Seite, in die der Soldat hineingestochen hat.
„Friede sei mit euch!“ Sie sehen den Verwundeten und sie hören ihn. Sie sehen mit ihren eigenen Augen: Hier hat einer Schlimmstes durchgemacht. Ein tief verletzter Mensch, ein geschundener Mensch steht vor ihnen. Er ist von tödlichen Wunden gezeichnet. Die Wunden sind nicht verheilt. Sie sind sichtbar. Und doch lebt er.
Nach und nach begreifen sie in ihrer Angst: Hier ist Gott selber am Werk. In diesen Wunden verbindet sich Gott mit ihnen, mit ihrem Schmerz, mit dem Schmerz der Menschen. Sie sehen, dass Gott mit den Menschen mitleidet. Ja, wer die Wunden sieht, merkt, dass Jesus keine heile Welt vorgaukelt. Hier ist das Leben, wie es ist! Verletzlich, ungerecht und oft zum Heulen. Gott selbst ist verletzt, mit Wundmalen gezeichnet.
Doch dieser geschundene Mensch Jesus von Nazareth wurde von Gott nicht im Stich gelassen! Selbst die schlimmsten Dinge erfahren in Gott eine kraftvolle Antwort. Der Glaube bewahrt nicht vor Verletzungen. Aber er hilft, mit Leid umzugehen. Gott selbst hilft. Weil er am eigenen Leib erfährt, was Leiden mit den Menschen macht.
Und so ändert sich die Stimmung. Die Trauer schwindet. Erleichterung macht sich breit. Die Jünger werden richtig froh.
Da bläst Jesus sie an. Den Heiligen Geist bläst er ihnen ins Gesicht. So wie Gott einst den Menschen erschaffen hat. Aus Erde hat er ihn gemacht. Verletzlich und vergänglich. Und dann hat er dem Menschen seinen Atem in die Nase geblasen. Damit er lebt. Damit er atmet. Der göttliche Wind erfasst die Jünger. Sie atmen frei und fassen wieder neuen Mut. Ja, Jesus lebt. Sie spüren es. Sie erleben es. Sie fühlen nun die Kraft, die von Jesus ausgeht. Sie fühlen, dass Jesus sie belebt.
Sie können jetzt gar nicht anders, als Ja zu sagen zu dem Auftrag, den der Auferstandene ihnen gibt. Ja, sie öffnen die Türen. Ja, sie gehen hinaus aus der verschlossenen Kammer. Ja, erzählen den Menschen von Gott. Von dem Gott, der Sünden vergibt. Der Lasten von uns nimmt. Gottes Atem belebt und nimmt die Angst.
Das ist der Osterglaube. Das haben die Jünger am Ostertag erlebt. Sie haben sich verändert und spüren und bekennen: Wir können weiter an Gott glauben, auch nach dem Tod des Freundes und Meisters. Denn er ist nicht tot. Er lebt. Genau wie Maria Magdalena es erlebt und verkündet hat.
II. Thomas kann noch nicht glaubenEiner aber war nicht dabei, als Jesus kam. Thomas hat gefehlt. Er hat Entscheidendes verpasst. Das wird ihm schmerzlich bewusst, als er den anderen Jüngern begegnet. Sie sind so fröhlich und erleichtert. Sie rufen ihm zu: „Wir haben den Herrn gesehen!“ Er ahnt, wie gut es der trauernden Seele tut, Jesus zu sehen. Er würde das auch gern erleben. So frei und fröhlich möchte er auch sein.
Doch es kommen ihm Zweifel. Nein, das kann nicht sein! Nach diesem furchtbaren Tod kann man Jesus nicht einfach so begegnen, als wäre nichts geschehen! Und so sagt er den so vertrauten Satz: „Ich glaube nur, was ich sehe.“
Damit sagt er etwas sehr Vernünftiges: Ich will genau wissen, was da passiert ist. Ich gebe mich nicht mit schnellen Antworten zufrieden. „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben.“ Thomas will sich nicht nur etwas einbilden. Er will nicht an Hirngespinste glauben. Er will mit eigenen Augen sehen, dass der Jesus, den er hat sterben sehen, auferweckt wurde. Er will spüren, dass es etwas gibt, das stärker ist als die grausame Kreuzigung.
Ja, zum Glauben gehören Sehen und Fühlen dazu. Zum Glauben gehört, dass ich mit Gott etwas erlebe. Dann ist es viel leichter, Zweifel zu besiegen. Darum widerspricht auch keiner der Jünger dem Thomas. Keiner sagt: Du irrst. Keiner redet auf ihn ein. Keiner sagt: Das musst du eben glauben! Die Jünger lassen Thomas’ Wunsch stehen. Und sie bleiben bei Thomas. Sie lassen ihn in seiner Sehnsucht und seinem Zweifel nicht allein. Thomas hat Menschen um sich, die ihn begleiten.
III. Thomas sieht und glaubtWieder ist es Sonntag. Es ist nun genau eine Woche her, dass Maria Magdalena und die anderen Jünger den auferweckten Jesus gesehen haben. Die Jünger sitzen wieder beieinander. Wieder in einem verschlossenen Raum. Dieses Mal aber ist Thomas mitten unter ihnen.
„Friede sei mit euch!“ Als Jesus jetzt erscheint, ist Thomas da. Der fragende Thomas. Der Thomas, der sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengibt. Der Thomas, für den Glauben, Sehen und Fühlen zusammengehören. Jesus kennt Thomas. Und so soll er das bekommen, was er zum Glauben braucht.
„Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite.“
Fass mich ruhig an, sagt Jesus. Fühle meine Wunden. Spüre meine Verletzungen. Und erlebe auch du, dass ich wirklich auferweckt bin. Ich, der ich grausam hingerichtet wurde. Begreife mich und glaube, dass Gott mich aus dem Tod wieder ins Leben geholt hat. Begreife mich mit deinen Händen. Begreife es in deinem Herzen. Hab Vertrauen!
Mit diesen Worten Jesu kommt der Geist Gottes auf Thomas. Thomas sieht. Thomas erlebt Jesus. Und vor allem: Er hört. Darauf wird Thomas vom Geist Gottes ergriffen und legt ein Glaubensbekenntnis ab: „Mein Herr und mein Gott!“ So spricht er den Auferweckten an. Thomas erkennt in Jesus Gott.
Thomas wollte es genau wissen. Und Jesus hat es ihn wissen lassen. Er kommt Thomas ganz nahe und gewinnt ihn damit. Jetzt fühlt er sich Jesus ganz tief verbunden. Durch Tod und Trauer hindurch. Sein Zweifel ist überwunden. Er hat Jesus verstanden. Durch Zweifel und Fragen hindurch ist sein Glaube gewachsen. Thomas vertraut.
Thomas erlebt seinen Glauben jetzt ganz neu. Er erlebt Jesus ganz neu. Thomas staunt, weil er in dieser verwundeten Person erkennt, dass auch schlimme Qualen den Glaubenden nicht von Gott trennen können. Nun ist auch Thomas erleichtert. Gott sei Dank, auch in Not und Qual ist Gott gegenwärtig. Er fühlt sich bestätigt: Sehen, fühlen und glauben gehören wirklich zusammen.
Thomas ist für viele ein Vorbild. „Thomas aber, der Zwilling genannt wird …“ – hören wir im Johannesevangelium. Thomas, der Zwilling! Mein Zwilling, Ihr Zwilling oder gar Doppelgänger?
Zwei Seiten, die nicht auseinanderzuhalten sind: Wir vertrauen Gott. Aber wir brauchen für unseren Glauben auch ganz handfeste Stützen. Stützen, die uns mit unseren Sinnen ansprechen. Jesus nimmt uns damit ernst, so wie Thomas. Skepsis gehört zum Glauben ebenso dazu wie Vertrauen. Blinden Glauben verlangt Gott von uns nicht. Er will, dass wir sehen. Dass wir verstehen und uns nicht mit schnellen, gar mit vorschnellen Antworten zufrieden geben.
Sehen, fühlen, schmecken. Das ist wichtig. Auch in unseren Gottesdiensten. In der Taufe spüren wir das nasse Wasser. Wer nicht als Säugling getauft wurde, wird sich daran erinnern. Ich bin getauft. Mein Kind ist getauft. Ich gehöre jetzt zu Jesus. Mein Kind ist ein Kind Gottes. Das ist wirklich spürbar. Oder in den Gaben von Brot und Wein spüren, sehen und schmecken wir, dass Christus gegenwärtig ist. Ja, Glauben ist nicht nur etwas für den Kopf. Wir glauben mit allen unseren Sinnen.
Vielleicht kennen Sie die Gottesdienste, die „Thomasmesse“ heißen? Die Thomasmessen heißen nach dem Jünger Thomas, der hören, sehen und fühlen muss, bevor er glauben kann. Thomasmessen sind Gottesdienste, die den Glauben fühlend erleben lassen: Menschen zünden während des Gottesdienstes eine Kerze an, stellen sie auf einen Altar und beten. Andere lassen sich im Gottesdienst die Hände auflegen und segnen. Wieder andere lassen sich mit Salböl salben.
Der Wunsch, vom Glauben nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen und zu spüren, ist völlig in Ordnung.
IV. Manche sehen nicht und glauben dochDennoch sagt Jesus: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“
Wie geht denn das? Erst macht Jesus es den Jüngern und dann speziell dem Thomas möglich, dass sie seine Wunden sehen, vielleicht sogar betasten. Das führt, wie gehört, dazu, dass die Jünger froh werden und dass Thomas ein Glaubensbekenntnis spricht. Und jetzt dieses so ganz andere Wort aus Jesu Mund?
Manche sagen: „Jetzt tadelt Jesus den Thomas. Jetzt wird Thomas der Vorwurf gemacht, er sei eben noch nicht wirklich reif im Glauben.“ So als wäre Thomas nur in der Lage, auf minderwertige Weise zu glauben. Und so hat sich die Tradition ausgebildet, Thomas sei ungläubig. „Der ungläubige Thomas“ ist – bedauerlicherweise – zu einem feststehenden Begriff geworden, um diesen besonderen Jünger zu bezeichnen, diesen Jünger, der gern und gründlich nachfragt, bevor er etwas glaubt.
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Um Jesus hier zu verstehen, können wir aber auch noch ein wenig weiterlesen, was da im Johannesevangelium steht. Da schreibt der Evangelist, warum er sein Evangelium überhaupt geschrieben hat: „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes“.
Damit ihr glaubt, ihr, die Leser und Leserinnen des Evangeliums! Ihr, die ihr hört, was ich aufgeschrieben habe. Ihr, die Leute damals in der Gemeinde des Evangelisten Johannes. Genauso wie wir, die Gemeindeglieder in unserer Kirchengemeinde.
Denn wir werden das nicht erleben, was die Jünger und was Thomas erlebt haben. Wir sehen den leibhaftigen Auferstandenen nicht zu uns durch geschlossene Türen kommen. Uns streckt er seine Wundmale nicht hin, damit wir glauben. Wir sind keine Augenzeugen. Wir sehen nicht, um mit den Worten des Evangelisten Johannes zu sprechen. „Selig sind, die nicht sehen…“
Was wird dann mit unserem Glauben? Wodurch nährt sich unser Glaube? Was hilft uns, wenn wir Gewalt und Qualen und Ungerechtigkeit erleben?
So fragen die Menschen schon seit langem: Die Christen zur Zeit des Evangelisten Johannes wie die Christen im Jahr 2015. Da ist kein Unterschied. Im Glauben fühlen wir uns tatsächlich oft „wie neugeborene Kinder“. Daran erinnert der heutige Sonntag Quasimodogeniti. Wir erleben uns wie Kinder, die Hilfe brauchen, um ihren Glauben in ihrem Alltag zu leben.
Uns helfen Menschen, die der Auferstandene gesandt hat. Menschen, die von Gott erzählen, von ihrem Glauben sprechen. Ganz sicher haben Sie solche Menschen schon getroffen und gehört. Wir hören ihnen zu und werden im Glauben gestärkt.
Unser Glaube nährt sich auch durch die Schrift, durch die Bibel. Er nährt sich durch Worte wie dieses Evangelium. Wir lesen vom Jünger Thomas. Wir merken auf einmal:
Ja, wir gehören zu denen, die manchmal die Möglichkeit haben, den eigenen Glauben auch zu fühlen (wie unser Zwilling, der Zweifler Thomas).
Manchmal aber reicht für unseren Glauben auch das Hören aus. Das Hören auf das Wort, das wir uns selber nicht sagen können. Gott sei Dank, dass er uns beides schenkt.
Amen.
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