Trinitatis (15. Juni 2014)
Pfarrer Christoph Doll, Stuttgart [Christoph.Doll@elk-wue.de]
2. Korinther 13, 11-13
Briefschlüsse als Beziehungsbarometer
Liebe Gemeinde!
Briefschlüsse erscheinen manchmal formelhaft und unpersönlich. Gleichwohl verraten sie oft sehr genau, wie es um die Beziehung zwischen Absender und Empfänger bestellt ist. Welten liegen zum Beispiel zwischen der Standardfloskel „Mit freundlichen Grüßen“ und der schwärmerischen Formulierung: „In Liebe und mit 1000 Küssen Deine Mausi – P.S: Kann es kaum erwarten, Dich wieder in meine Arme zu schließen!“
Um die besondere Note der Schlussverse im 2. Korinther-Brief zu erfassen, bedarf es allerdings einer sehr genauen Lektüre, nicht nur dieser letzten Worte, sondern des ganzen Briefes. Der freundliche und wohlmeinende Ton, den Paulus hier am Schluss anschlägt, steht nämlich in großer Spannung zu den scharfen Tönen in anderen Passagen des Briefes. Paulus sieht sich herausgefordert, die von ihm selbst um das Jahr 50 gegründete Gemeinde in Korinth harsch zu kritisieren. Zustände herrschen dort inzwischen, die ihn fassungslos machen. Er erfährt, dass sein Christuszeugnis in der multireligiösen Handelsstadt Konkurrenz bekommen hat. Die sorgt für heftige Turbulenzen in der Gemeinde. Andere Lehrer, die apostolische Vollmacht für sich beanspruchten, waren aufgetaucht und hatten sich effektvoll in Szene gesetzt. Möglichst viele Leute sollten mitbekommen, dass sie über besondere Gaben des Heiligen Geistes verfügten. In der Absicht, ihr eigenes Licht noch heller erstrahlen zu lassen, scheuten sie offenbar nicht davor zurück, den Gemeindegründer Paulus zu demontieren. Vermutlich unterstellten sie ihm, sich zu Unrecht Apostel zu nennen. Angekreidet wurde ihm anscheinend auch, dass er als Redner eine schwache Figur abgab und darauf verzichtete, sich mit spektakulären Zeichen einen Namen zu machen. Es kommt, wie es unter diesen Umständen kommen muss. Die Christen in Korinth geraten in Streit. Gruppen bilden sich. Gräben tun sich zwischen ihnen auf. Paulus kann derlei nicht auf sich beruhen lassen. Er ändert seine Reisepläne und entschließt sich zu einer spontanen Visite bei den Streitenden. Vor Ort will er sich selbst ein Bild verschaffen und den Verirrungen entgegenwirken. Doch seine Bemühungen gehen bei diesem Besuch ins Leere. Eisiger Wind bläst ihm entgegen. Öffentlich wird er angegriffen und seine Autorität in Frage gestellt. Im Innersten verletzt reist er nach Ephesus weiter.
Wenn Gefährten und Geschwister zu Widersachern werden
So getroffen zu werden, zumal an einem Ort, wo man sich umgeben von vertrauten Menschen wähnt, ist eine bittere Erfahrung. Und sie ist leider zeitlos. Bereits der Beter des 55. Psalms klagt: „Wenn mein Feind mich schmähte, wollte ich es ertragen; […]. Aber nun bist du es mein Gefährte, mein Freund und mein Vertrauter, die wir freundlich miteinander waren, die wir in Gottes Haus gingen inmitten der Menge!“
Freunde, die zu Feinden werden, Vertraute, die einander herabsetzen und verraten – leider keine seltene Erfahrung, auch in unseren Tagen.
Da muss zum Beispiel eine Schülerin erleben, dass im Internet üble Gerüchte über sie verbreitet werden, „garniert“ mit zweifelhaften Fotos. In der großen Pause tuschelt man, wenn sie auftaucht, oder grinst ihr vielsagend ins Gesicht. Andere ignorieren ihren Gruß und gehen ihr demonstrativ aus dem Weg.
Erfahrungen dieser Art können einen binnen kurzer Zeit aus der Bahn schleudern, krank machen und zwingen, Schule oder Arbeitsplatz zu wechseln oder gar an einen anderen Ort zu ziehen.
Als ungemein belastend erleben viele auch Konflikte im Geschwisterkreis. Etwa wenn eines Tages der Erbfall eintritt und urplötzlich Missgunst den Familienfrieden untergräbt; wenn das Gefühl, zu kurz zu kommen, Geschwister dazu bringt, vor Gericht zu ziehen und der Schwester oder dem Bruder unlautere Machenschaften zu unterstellen. Bisweilen enden solche gerichtlichen Klärungen damit, dass Familienbande für immer zerreißen und der eine zur anderen sagt: „Lass mich in Ruhe! Ich will nie mehr etwas mit dir zu tun haben!“
Trotz verletzender Erfahrungen: Paulus bleibt in Kontakt mit den Christen in Korinth
Paulus hätte nach den Herabsetzungen und Schmähungen in Korinth genau so auch reagieren können. Das wäre in seinem Fall durchaus nachvollziehbar gewesen! Doch er erhält den Kontakt aufrecht. Er mutet sich der Gemeinde weiter zu, mit der er so Grässliches erlebt hat. Er gibt die Beziehung zu diesen Menschen nicht auf, auch wenn sie sich verändert haben inzwischen. Er lässt weiter von sich hören. Er diktiert Briefe und schickt seinen Mitarbeiter Titus nach Korinth, um die Entwicklungen im Auge zu behalten. Trotz aller Verhärtungen im Konflikt hält er an der Hoffnung fest, den Gemeindespaltungstendenzen doch noch entgegenwirken zu können. Seine Vorgehensweise ist sehr erhellend, auch für die Konfliktgeschichten, in die wir heute verwickelt sind.
Zunächst schlüpft er ins Berater-Gewand und stellt einen Katalog mit ganz knappen Handlungsempfehlungen zusammen: „... freut euch, lasst euch zurechtbringen, lasst euch mahnen, habt einerlei Sinn, haltet Frieden!“ Als Auflistung von Zielen, die noch längst nicht erreicht sind, kann man diesen Katalog lesen, und damit auch als deutliche Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen. Die scheinen geprägt zu sein von Sturheit, Mangel an Selbstkritik und von widerstreitenden Gruppeninteressen. Freude kann da keine aufkommen! Umso erstaunlicher deshalb, dass Paulus den Aufruf „Freut euch!“ an den Anfang setzt.
Kann man Freude verordnen?
Doch kann man Freude einfach auf Zuruf anknipsen wie ein Licht im dunklen Zimmer? Was Paulus vor Augen steht, formuliert er in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi noch plastischer. Dort nämlich schreibt er: „Freut euch in dem Herrn allewege und abermals sage ich: Freut euch! Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe!“ (Phil 4, 4f). Freude ist für Paulus also ein Beziehungsgeschehen. Freude stellt sich dort ein, wo die Gegenwart des lebendigen Christus Freude in die Herzen und auf die Gesichter legt. Dort, wo ich nicht in eitler Nabelschau und Selbstdarstellung um mich selbst kreise, sondern mich von ihm begleitet weiß, egal ob ich gerade Talsohlen durchmesse oder Gipfel erklimme. Freude indes, wenn sie von uns Besitz ergreift, strahlt aus. Sie blitzt uns aus den Augen, entfaltet Charme in feinen Lachfältchen und gibt unseren Stimmen einen hellen Klang. Freude steckt an und breitet sich aus. Freude kann man nicht nicht kommunizieren. Freude wirft ein Beziehungsnetz über uns, das uns oftmals überraschende Kontakte beschert. Da sehe ich zum Beispiel eine beneidenswert gut gelaunte Frau in die Straßenbahn einsteigen. Und rasch merke ich, wie sie die Blicke auf sich zieht und wie manch müdes Gesicht plötzlich frischer wird. In Situationen wie dieser entspinnt sich manchmal sogar ein Gespräch. Denn vor Freude strahlende Menschen machen neugierig und befreien aus stummer Miesepetrigkeit. In einem Pflegeheim konnte ich das unlängst auch beobachten, als ein ausgesprochen fröhlicher und freundlicher Pfleger einer Bewohnerin zum Geburtstag gratulierte und die ringsum Versammelten dazu brachte, ihr ein herzerfrischendes Ständchen zu singen, mit brüchigen Stimmen zwar, aber ungemein anrührend.
Der heilige Kuss – mehr als eine flüchtige Berührungsgeste
Freude bringt in Kontakt, Freude schafft Nähe – das findet in der Gottesdienstliturgie seit frühesten Zeiten seinen Ausdruck in der liturgischen Geste des heiligen Kusses vor der Abendmahlsfeier. Selbst in unserer eher schlichten württembergischen Liturgie lebt diese Geste noch weiter im sogenannten Friedensgruß vor dem Abendmahl.
Paulus scheint um die besondere Kraft des Rituals gewusst zu haben, als er der Korinther Gemeinde gerade den liturgischen Kuss nachdrücklich ans Herz legte. Gedeihliches Miteinander – so scheint er erkannt zu haben – bedarf stetiger wechselseitiger Kontaktaufnahme und Zuwendung. Nur wenn Menschen sich angesehen und wahrgenommen fühlen, entsteht Gemeinschaft und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Besonders augenfällig hat diesen Zusammenhang mit künstlerischen Mitteln der österreichische Jugendstil-Maler Gustav Klimt zum Ausdruck gebracht. Sein berühmtes Gemälde „Der Kuss“ zeigt ein Liebespaar, das eben im Begriff ist, einen Kuss zu tauschen. Die Gewänder der beiden sind durch unterschiedliche Musterung deutlich voneinander abgehoben. Zugleich verschwimmen sie aber durch die dominierenden Goldtöne im Kleid der Frau und im Umhang des Mannes zu einem einzigen Kraftfeld, dessen Leuchten über das Paar selbst hinausweist. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch den dunklen Hintergrund, der mit goldenen Partikeln gesprenkelt ist, so wie das Schwarz des Nachthimmels von funkelnden Sternen durchbrochen wird.
Wechselseitige Zuwendung im Kuss ist auch für Paulus ein Zeichen, das über sich selbst hinausweist. Es gewinnt seine Kraft aus Gottes segensreicher Gegenwart, die quicklebendig macht und uns verwickelt in wunderbare und bereichernde Beziehungen. Gott selbst können wir dabei immer wieder neu auf die Spur kommen. Er selbst nämlich ist immer schon in Bewegung und bewegt sich auf uns zu: in Jesus Christus, in schöpferischer Liebe und als Heiliger Geist, der unablässig Beziehungen stiftet. Diese wunderbare Lebendigkeit Gottes ist es, die wir heute am Dreieinigkeitsfest feiern. Sie befreit uns aus Engstirnigkeit und Egoismus, heilt unsere beschädigten Beziehungen und sorgt dafür, dass frischer Wind unserer Hoffnung Auftrieb gibt.
Amen.
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