Quasimodogeniti (27. April 2014)
Pfarrer i.R. Dr. Werner Grimm, Tübingen [werner-grimm.verlag@t-online.de]
Jesaja 40, 26-31
Liebe Gemeinde!
„Ich würde so gerne Kraft kaufen“, flüsterte Sven. Er lag da, abgemagert, mit spindeldürren Armen und Beinen. Die Ärzte hatten den Versuch, den Tumor einzudämmen, für gescheitert erklärt. Als wir ins Zimmer traten, waren seine Augen wie gebannt auf James Bond gerichtet, den Kraftprotzen. Welch ein Gegensatz: dort auf dem Bildschirm der über die je erforderliche Kraft souverän verfügende Leinwandheld, hier der Bub, der alle seine Kräfte aufbieten musste, um mit den Lippen ein paar leise Worte zu formen! Und das in einem Alter, in dem sich seine Kameraden täglich wachsender Kräfte erfreuen, ja manchmal nicht wissen, wohin damit. (Mitteilung der Klinik-Pfarrerin Roswitha Bernius-Grimm.)
Ich würde so gerne Kraft kaufen – ein erschütternder Wunsch. Denn im gesunden Alltag halten wir physische und psychische Kraft für trainierbar. Und wenn wir uns in Situationen der Schwäche raten, Kräfte jetzt zu schonen, oder, durch ausgiebigen Schlaf wieder zu Kräften zu kommen, so rechnen wir offensichtlich mit einem Kraft-Depot, von dem man zehren, das man aber auch wieder nachfüllen kann. Auch die oft zu hörende Formulierung, der oder die habe viel zu „verkraften“, weiß etwas von Kraftreserven, auf die Menschen im Leid gegebenenfalls zurückgreifen können.
Ich würde so gerne Kraft kaufen – ein doch auch irgendwie verständlicher Wunsch: Wo in unserer Welt fast alles machbar und käuflich ist, da müsste doch unter den wohlfeilen Dingen eigentlich auch das Elementarste zu erwerben sein: die Kraft zum Leben!
Jedenfalls: Sven erinnert uns daran, dass die tägliche Kraft eines Menschen ähnlich wie die Liebe oder die Glaubenszuversicht etwas Elementares ist: Erstens, wir sind auf sie angewiesen; zweitens, sie ist nicht käuflich; drittens, wir sollten sie wohl als nicht ganz so „selbst-verständlich“ nehmen, wie wir das für gewöhnlich tun.
Wie dann? Folgen Sie mir auf eine Zeitreise in die Vergangenheit.
Anteilnehmende Warum-Frage
Im Jahr 587 v. Chr. haben Truppen des babylonischen Großkönigs Jerusalem und sein Herz, den Tempel, zerstört und Israels politische Selbstständigkeit beendet. Eine große Zahl Jerusalemer wird nach Babylon verschleppt. Mit entwürdigender Härte demonstrieren die fremden Herren den Deportierten ihre Niederlage. Einige Jahre sind so über Babylonien hinweggezogen, ohne dass sich ein Silberstreif am Horizont gezeigt hätte. Vergebliches Warten auf die Erlaubnis zur Heimkehr hat sie zermürbt. Sie sind müde geworden zu hoffen, müde zu glauben, müde zu lieben. Am Rande der Depression, vermögen diese von ihren Wurzeln abgeschnittenen Exilanten nur eben noch ihre Klage vorzubringen: Gott? Wenn es ihn gibt, hat er sich von uns abgewandt; und wir hatten geglaubt, wir hätten ein Recht darauf, dass er seine großen Versprechen wahr macht. Aber ihn kümmert unser Schicksal nicht. Mit solchen Gedanken sitzen sie da, an den Wassern Babylons, und weinen. Verdi hat es in „Nabucco“ musikalisch nachgezeichnet.
Ein Prophet, der unter und mit ihnen lebt, geht auf diese Leute zu. Eine Weile schon hat er in ihren Gesichtern gelesen, nun spricht er sie an – er, der so große Hoffnungen in ihnen, den Jakobskindern, wie er sie nennt, geweckt hatte – durch seine Visionen und Verheißungen. Jetzt freilich spricht er ganz schlicht, ganz menschlich, wie ein Seelsorger, der gerade mal ein bisschen gefestigter ist als seine Freunde:
„Warum sagst du, Jakob, und warum sprichst du, Israel: ‚Verborgen ist mein Weg vor dem Herrn, und an meinem Gott geht mein Recht vorbei?‘“
Warum sagst du, Jakob? Überlegen wir, was eine solche Warum-Frage will. Warum weinst du? Warum isst du nichts? Warum bist du so still und schaust so traurig aus? Wenn ich so von einem Menschen gefragt werde, dann ist das wie ein Signal, dass er die Veränderungen an mir wahrgenommen hat, dass mein Kummer ihm nicht gleichgültig ist. Ich erlebe, wie er Anteil nimmt an dem, was mich bedrückt. Aber mehr noch. Warum klagst du? Da möchte einer ein bisschen genauer hinter meinem Äußeren den Grund, die Ursache meines Unglücklich-Seins wissen. Er möchte verhindern, dass ich mich in ein verschwommenes, unfruchtbares Gejammere verliere, in dem ich mich im Kreis drehe und nichts ändert sich. – Der Prophet will, dass seine Landsleute es benennen, was sie so deprimiert. Manchmal kommt ja allein schon dadurch Abhilfe in Sicht, dass ein Mensch die Ursache seiner Misere endlich einmal genauer in Augenschein nimmt. Nur so kann eventuell auch das in der entsprechenden Lage Tröstende, Weiterhelfende gefunden werden.
Ob sie ihm daraufhin die Gründe ihrer seelischen Energiekrise genau dargelegt haben, das wurde damals allerdings nicht mit aufgezeichnet. Es ist wohl für die Späteren nicht so wichtig, zumal keine Müdigkeit einer anderen aufs I-Tüpfelchen gleicht.
Was wären unsere Gründe für unsere Müdigkeit? Spielen wir einiges Mögliche aus unserer Alltagswelt in die biblische Szene ein.
Merkt denn keiner, wie mir die Puste ausgeht? Die Arbeit und die vielen Verpflichtungen, wenn eigentlich Feierabend wäre – das alles wächst mir über den Kopf. Ich komme einfach nicht mehr nach bei allem, was sie von mir erwarten. Aber ich kann sie doch nicht enttäuschen. Und wehe, wenn ich schlapp mache, dann bin ich den Arbeitsplatz los.
Die Pflege eines Angehörigen – ob ich das morgen noch schaffe? Springt denn niemand bei von denen, die eigentlich genau so in Pflicht sind? Aber ich darf die Mutter doch nicht …
Die Lähmung im Tal einer Trauer, wenn man die Welt nur noch wie durch einen Tränenschleier sieht ...
Manchmal steigert sich eine Erschöpfung zum Vorwurf an Gott: Siehst du denn nicht, dass das jetzt zu viel Bürde ist auf einmal? Zusammengebrochen mein Glück, mein Lebensplan, meine Gesundheit ramponiert. Wie soll ich jetzt noch einmal…
Sanfter Weckruf: das biblische halo`
Der Prophet hört geduldig zu. Freilich, nach einer längeren Zeit stellt er nun doch eine zweite Frage: „Ist es denn nicht so, weißt du denn nicht…?“, hebräisch klingt das Wort übrigens wie das deutsche „hallo“. Wer so fragt, klopft ans Fenster eines Menschen, der sich in seine Trostlosigkeit eingeschlossen hat. Wer so fragt, möchte die Fixierung des Trostlosen aufbrechen, der nur noch auf sein Elend starrt. Möchte bei diesem verschüttetes Wissen ins Bewusstsein zurückrufen. So wie man ein Kind sanft am Köpfchen fasst und es sachte dreht, dass es etwas sehen kann, was es sonst nicht sehen würde – so will der Seelsorger dem Niedergeschlagenen dessen Lebenssituation aus einer etwas anderen Perspektive und in freundlicherem Licht zeigen.
„Ist es nicht so?“ ist also keine rechthaberische, sondern eine vorsichtig helfende Frage. Der so Angesprochene wird nicht überrumpelt; es wird ihm nicht eine fremde Meinung übergestülpt! Er kann sagen: Ja, eigentlich ist es so; er kann aber auch sagen: Nein, für mich ist es nicht so; ich kann es leider ganz und gar nicht so sehen.
Die beiden aufeinander folgenden Fragen – das anteilnehmende „Warum …?“ und das behutsam auf Trost zeigende „Ist es nicht so...?“ – sie begegnen in der Bibel öfters so. Sie sind also offenbar ein Muster mit Wert für ein seelsorgerliches aufeinander Achten - zu allen Zeiten.
Aber hören wir nun die zweite Frage des Propheten, hören wir, was er damals Tröstendes ins Spiel gebracht hat.
„Weißt du denn nicht, hast du’s denn nicht gehört? Ewiger Gott ist der Herr, Schöpfer der Enden der Erde. Er wird nicht müd, er wird nicht matt, unerforschlich ist seine Weisheit; er gibt dem Müden Kraft, und dem Erschöpften schafft er große Stärke. Und mögen selbst Jünglinge müde werden und matt und Mannen stolpern und stürzen – die auf den Herrn harren, bekommen wieder und wieder die Kraft; sie fahren auf mit Flügeln wie Adler; sie laufen und ermatten nicht; sie gehen und werden nicht müde“ (Jes 40, 28-31).
Schöpfungsgewissheit
Die psychische Stabilität des Seelsorge-Propheten beruht also auf einer Art Urvertrauen, das wir auch ‚Schöpfungsgewissheit‘ nennen können. Und genau die war offenbar bei seinen Landsleuten verschüttet - der tiefe Grund ihrer Lebensmüdigkeit. Und deshalb erinnert er sie an jene Urkraft, die den Anstoß für das Universum und das Leben auf der Erde gab; jene Urkraft, die aber seit jenem Urknall weiterhin in jeder Sekunde unermüdlich wirkt – nicht nur, wenn sich beim Volksfest das Riesenrad dreht; jene Urkraft, aus der alle Lebewesen ihre Vitalität empfangen. Jene Urkraft, aus der ein Ariel Robben Kraft nimmt zu seinem fulminanten Antritt und dem wie ein Strich unter die Latte gehämmerten Schuss. Jene Urkraft, aus der die Kehlen der Menschen und Vögel ihre Lieder formen. Jene Kraft des Schöpfers, aus dessen Reservoir wir täglich unsere kleine Kraft schöpfen.
Mit den Worten eines Naturwissenschaftlers gesagt, für den Evolutionstheorie und der Glaube an den Schöpfer keinen Widerspruch bilden (Hansjörg und Wolfgang Hemminger, Jenseits der Weltbilder, 1991, S.253): Der Schöpfer dankt nicht ab, nachdem er die Welt ins Rollen gebracht hat; das Leben ist, jeden Augenblick, das Wunder, das Unwahrscheinliche, das durch Gottes Schöpferkraft über dem Nichts, dem Tod erhalten wird. Ebbe und Flut sind von Ihm bewirkt; Wasserstoff und Sauerstoff ergeben nicht von selbst Wasser, sondern weil Gott es so fügt, weil Er die Welt der Moleküle nach solchen – von uns ausschnittsweise verstandenen – Regeln regiert. – Das ist die Weltanschauung der Bibel, spräche sie in unseren chemischen Begriffen. Und jedes einzelne Geschöpf weiß sie von Gott erschaffen nicht nur, sondern auch ernährt und beatmet – jede Sekunde, bis Er den Odem wegnimmt und es sterben lässt. Solange verdankt jedes Geschöpf Ihm das Leben: seine Lebenskraft und seine Lebensfreude.
„Weißt du, wieviel Mücklein spielen in der heißen Sonnenglut? Wieviel Fischlein auch sich kühlen in der Wasserflut? Gott, der Herr, rief sie mit Namen, dass sie all ins Leben kamen, dass sie nun so fröhlich sind.“
Das haben wir Kinder sofort beim ersten Mitsingen begriffen, dass das Wahrheit ist. Denn die Schöpfungsgewissheit ist nicht etwas, was wir mühsam lernen mussten. Sie ist von Gott jedem Menschenkind in die Wiege gelegt. Sie konnte uns freilich verloren gehen, wenn wir in der Faszination vom Diesseitig-Materiellen immer öfter vergessen haben, unseren Blick zum Himmel zu heben. Denn wie sagte unser Prophet eingangs?
„Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer, die Sterne, vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlet“ (V.26).
Und manchmal ist’s uns auch irgendwie ganz evident, dass Gottes Kraft am Wirken ist; so etwa, wenn wir dem Wunder begegnen, wie frisches Grün Beton, Steinplatten und Mauerwerke auf eine schier unfassbare Weise durchstößt, als ob das Leben stärker sei als der Tod. Oder denken wir an die mehr inwendige Erfahrung, von der mancher erzählen kann: Der Genesende, den eine schwere Krankheit aus ihrer tödlichen Umklammerung freigegeben hat, der sich zum ersten Mal wieder erheben kann, die Sonne sieht, die Stimmen des Lebens draußen vor dem Fenster hört, mit Genuss seine Mahlzeit wieder zu sich nehmen kann, wieder Herr seiner Glieder wird; er entdeckt, wie süß und schön das Leben ist, ein einziges Wunder (Beispiel aus: Hans Lachenmann, Das Wort in der Welt, 1987, S.57).
Und er hat sie am eigenen Leib erlebt – die Urkraft des Schöpfers, die aus dem Nichts, die aus dem Tod Leben schafft – und dies ist dann auch eine Hoffnung, wenn wir unseren Tod sterben müssen: „So tritt du dann herfür“, du, mein Schöpfer, in deiner Kraft!
Die auf den Herrn harren, bekommen wieder und wieder die Kraft. Es ist wichtig, dass wir den hebräischen Satz so und nicht anders übersetzen: „wieder und wieder“. Denn in unseren psychischen Energiekrisen hat die Angst doch oft folgendes Gesicht, ich vereinfache: Wir sehen die vielen Anforderungen und was sonst noch alles künftig auf uns zukommen könnte – wir sehen das auf dem inneren Bildschirm unserer Vorstellung alles auf einem einzigen Bild. Und zwar so, als ob uns nur ein einziger Tag für die Bewältigung alles dessen zur Verfügung stünde – und das erzeugt einen übermächtigen Druck auf unser Herz und lässt alle Kräfte im Ansatz erlahmen: wir werden mutlos und todmüde. Es bräuchte eine ganz andere Haltung, eine andere innere Einstellung, eine andere Vorstellung. Welche? Eine literarische Figur, Beppo, der Straßenkehrer, mag sie uns demonstrieren; es ist etwas eigentlich ganz Einfaches und doch so Schwieriges:
„Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig: Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. ‚Siehst du‘, sagte er dann, ‚es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen. Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man aus der Puste und kann nicht mehr, und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.‘ Er dachte einige Zeit nach. ‚Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und wieder nur an den nächsten.‘ Wieder hielt er inne: ‚Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut.‘ Und abermals nach einer Pause: ‚Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste‘“ (Michael Ende, Momo, 1973, S.36f).
„Und man ist nicht außer Puste…“ Ich wiederhole den ewigen Grund: „Er wird nicht müd, Er wird nicht matt. Er schafft dem Erschöpften große Stärke.“ Tag für Tag werden wir, wieder und wieder, das nötige Quäntchen Kraft empfangen aus der Urkraft des Schöpfers. All Morgen ist ganz frisch und neu. Und morgen ist ein neuer Tag. „Die auf den Herrn harren, bekommen wieder und wieder die Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler“. Amen.
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