Michaelistag (29. September 2014)
Pfarrerin Annette Imkampe, Schwäbisch Hall [annetteimkampe@me.com]
Hebräer 1, 7; 1, 13-14
Liebe Gemeinde,
im Gesangbuch befindet sich ein bemerkenswerter Text zum heutigen Michaelistag.
Kein Gedicht und kein Gebet, sondern eine theologische These.
"Käme kein Engel mehr, dann ginge die Welt unter.
Solange Gott die Erde trägt, schickt er seine Engel.
Die Engel sind älter als alle Religionen und kommen
auch noch zu den Menschen, die von Religion nichts mehr wissen wollen."
Soweit Claus Westermann, evangelischer Pfarrer und Theologieprofessor, geschrieben vor ungefähr 25 Jahren.
Bemerkenswert, weil über Engel theologisch wenig gesprochen wird. Welche Bedeutung kommt ihnen zu.
Ginge die Welt unter - ohne sie?
Sind sie an unserer Seite? Mitten in dieser Welt?
Gibt es den persönlichen Schutzengel, an dem auch die oben zitierten Menschen festhalten, die mit Gott und Glauben nicht viel anfangen können?
Von Engeln wird viel geredet, vor allem außerhalb der Kirche. „Da hast du aber einen Schutzengel gehabt“ - so die Deutung, wenn gerade noch mal etwas gut ging. Vor allem unterwegs. Wäre der Autofahrer aus der anderen Richtung nur eine Sekunde früher gekommen, hätte es nicht mehr gereicht. Spielende Kinder auf der Spielstraße vor unserem Haus, sollte kein Problem sein - ist es aber, weil hier niemand Schrittgeschwindigkeit fährt. Hier gibt es täglich zahlreiche Schutzengeleinsätze.
Die vielen Urlauber, die weite Strecken über Nacht fahren. Auch unsere Nachbarn. Sekundenschlaf, an der Leitplanke entlang geschliddert. Glück gehabt. Schutzengel gehabt.
Und bei chrismon, einer evangelischen Monatszeitschrift, lassen sich Schmuck-Engel für verschiedene Lebensbereiche und Situationen bestellen. Es gibt dort zur Auswahl den Engel der Liebe, den Engel der Lebenskraft, den Engel des Geistes und den Engel für unterwegs. Alle sofort lieferbar und als Schmuckstück am Hals zu tragen, wahlweise mit Kette oder mit Lederbändchen. Nur der Engel für unterwegs ist in einem Döschen. Den will ich ja auch in die Tasche stecken. Mitnehmen. Meinen Schutzengel. Begleittext dazu:
"Jeder sollte einen Schutzengel haben. Jetzt können Sie einen verschenken. Ob im Büro, im Hotelzimmer oder auf dem Nachttisch stets entfaltet der Engel seinen leisen Charme. Unterwegs wird er einfach in der Holzdose verstaut."
Spätestens hier die Frage, von welcher Erscheinung wir reden.
Was oder wen wir brauchen in der Not, um getröstet und beschützt zu sein.
Unser Predigttext gibt Antwort, und er rückt zugleich verschiedene Vorstellungen zurecht.
"Von den Engeln heißt es: Gott macht seine Engel zu Sturmwinden, seine Diener zu Feuerflammen.
Und hat Gott je zu einem Engel gesagt: setze dich an meine rechte Seite, bis ich deine Feinde zum Schemel für deine Füße gemacht habe!?
Nein, die Engel sind alle nur Diener, Wesen der unsichtbaren Welt, die denen zu Hilfe geschickt werden, die am kommenden Heil teilhaben sollen, dem Erbe, das Gott uns schenkt." (Hebräer 1, 7.13-14 nach der neuen Genfer Übersetzung)
Der Verfasser des Hebräerbriefs stellt hier gleich zu Beginn seines Briefes etwas klar. Es gibt zweifellos Engel, niemand würde ihre Existenz je in Frage stellen, aber sie sind ganz klar und eindeutig einer anderen Größe zugeordnet.
Es gibt nirgends den Engel an sich, sondern immer nur den Engel Gottes.
Und er kommt zum Einsatz, zum Dienst, entfaltet seine Wirkung, wo Gott ihn einsetzt und schickt.
Einen Engel, der sich aus eigenem Antrieb mir persönlich zum Schutz an die Seite stellt, kennt die Bibel nicht.
Engel sind Diener.
"Dienstbare Geister", wie Luther übersetzt.
"Wesen der unsichtbaren Welt", wie es die neue Genfer Übersetzung verdeutlicht.
Und damit sind sie Gott, dem Schöpfer unterstellt, wie es in dem ausdrucksstarken Nicänischen Glaubensbekenntnis anklingt, das zwar in unserem Gesangbuch seinen Platz hat, aber nur selten im Gottesdienst gesprochen wird. „Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt.“
Als Wesen der unsichtbaren Welt gehören sie in Gottes Machtbereich und sind für uns weder anhand von Figürchen oder Bildern noch Aufklebern verfügbar.
Um dies zu veranschaulichen, zitiert der Hebräerbrief aus dem Schöpfungspsalm 104: Gott macht seine Engel zu Sturmwinden, seine Diener zu Feuerflammen.
Sturmwinde und Feuerflammen - in der biblischen Tradition immer wieder Bilder für Gottes Erscheinen, so zeigt er sich seinem Volk auf dem Weg durch die Wüste: als mächtige Naturgewalt, vor der der Mensch zunächst nicht anders als erschrecken kann. Eine Erscheinung, die aber auch Sicherheit gibt: Gott ist da. Er zieht vor uns her. Der große gewaltige Gott schafft Möglichkeiten, bei den Menschen zu sein. Und er zeigt sich. Ich bin bei euch. Hier, in Sturm und Feuer, damit ihr etwas seht, damit ihr ein Bild habt, das ihr mit euren begrenzten Möglichkeiten verstehen könnt. So ist Gott. Er gibt Verstehenshilfen, Anknüpfungspunkte, damit wir glauben und erkennen.
Die Engel helfen dabei. Nicht mehr und nicht weniger.
Das ist dem Autor des Hebräerbriefes wichtig. Nur ja die Engel nicht zu hoch schätzen, wie es wohl zur damaligen Zeit geschehen ist. Denn es gibt nur einen, der im Zentrum unseres Glaubens stehen kann, nur einen, der den Ehrenplatz im Himmel hat, der zur rechten Gottes sitzt, der zum Erben über alles eingesetzt ist, nur einen, der unser Herr und Heiland ist.
Zu ihm beten wir, ihn bitten wir.
Vielleicht schickt er dann seinen Engel.
Ich erinnere mich an einen Gesprächskreis im Krankenhaus. Eine Mitpatientin sagte, dass sie ihren Schutzengel nicht mehr wahrnehmen kann. Obwohl sie ihn über lange Strecken ihres Lebens als Begleiter kannte. „Er zeigt sich einfach nicht mehr“, und das, obwohl sie ihn dringend an der Seite gebraucht hätte. „In welche Richtung könnte es gehen mit meinem Leben, mit meiner Krankheit, mit meinen Sorgen um die Familie?“ Was sie wahrnahm, war Schweigen. Leere. Keine Botschaft. Die Gruppe überlegte. Was könnte helfen. „Du könntest doch darum bitten, dass er sich dir zeigt.“
Beten.
Nicht zum Engel.
Zum Herrn.
Zu dem, der über allem steht. Auch über den Engeln.
Eine Woche später wieder Gesprächskreis. Was hat sich ereignet in diesen langen sieben Tagen? Die Frau lachte und erzählte. Ihr Schutzengel hat nach wie vor geschwiegen. Er hat nicht zu ihr geredet, wie sie es erwartet und gewünscht hat. Aber sie hat andere Erfahrungen gemacht. Menschen haben sich bei ihr telefonisch gemeldet, mit denen sie nie gerechnet hatte. Überraschende Gespräche und Erkenntnisse, die sie mit Gott in Zusammenhang bringen konnte. Oder mit ihrem Schutzengel. Das war in diesem Moment nicht von Bedeutung. Wichtig war einzig und allein die Erfahrung, dass etwas von der anderen Welt hier in dieser irdischen Welt spürbar war. Für sie haben sich Himmel und Erde berührt, trotz aller Schwere und Not.
In den Grenzbereichen unseres Lebens sind wir offener für Botschaften aus einer anderen Welt. Wir sind durchlässiger auf die Engel hin. Empfänglicher für besondere Begegnungen. Wir hören anders, fühlen und empfinden anders.
Hören will ich, was Gott der Herr redet. So sagt der Psalmbeter. Hören will ich, was er durch seine Engel redet oder übermittelt, füge ich hinzu.
Engel sind Grenzgänger.
Bewegen sich zwischen den Welten.
Machen sich bemerkbar, wenn auch wir an einer Grenze stehen. An einem Übergang. Wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war. Wenn die Zukunft offen ist, und zugleich beängstigend.
Die Bibel berichtet von diesen Grenzerfahrungen.
Ein beeindruckendes Beispiel in den ersten Geschichten der Bibel.
Hagar in der Wüste. Sie verlässt ihre Dienstgeber Abraham und Sara und flieht, sieht kein Auskommen dort mehr, was nicht verwundert angesichts der vertrackten Situation. Schwanger von Abraham, in ständigem Konflikt mit Sara. In der Wüste, in der Nähe einer Wasserquelle, lässt sie sich nieder. Was könnte ihr nur helfen. Wie könnte ihr weiterer Weg aussehen? Wodurch könnte eine neue Perspektive entstehen?
In diesem Moment kommt der Engel. Nicht irgendeiner. Sondern der Engel des Herrn. Und redet mir ihr. Fragt erst einmal, wo sie herkommt und was sie vorhat. Erst dann gibt er seine Weisung, was sie tun soll. Zurückkehren, sich einfügen in dieses schwierige Beziehungsgeflecht. Ihr Lohn liegt in dem Kind, das sie bekommt: sein Name soll Ismael sein, das heißt übersetzt „Gott hat gehört“, und er fügt hinzu „Gott hat dein Elend erhört." Seine Nachkommenschaft wird unzählbar sein. Welch' eine Aussicht.
Für Hagar steht außer Frage, dass hier Gott selbst zu ihr geredet hat, und so formuliert sie ein Bekenntnis „du bist ein Gott, der mich sieht“. Aufatmen. Eine neue Richtung inmitten der Krise. In wenigen Sätzen wird hier und an anderen Stellen erzählt, wie ein Mensch durch die Begegnung mit dem Engel Wegweisung erhält. Und die tiefe Erkenntnis: Ich bin nicht allein. Gott ist einer, der mich sieht.
Krisen. Grenzerfahrungen. Übergänge.
Besondere Situationen in unserem Leben machen uns ansprechbar, durchlässig, empfänglich für Botschaften aus der anderen Welt. Für Gottes Wort in besonderer Gestalt. In Engelsgestalt. So, dass wir es hören und annehmen können.
Gott schickt seine Engel, seine Diener, Wesen der unsichtbaren Welt, uns zur Hilfe. Wir wissen aus den biblischen Geschichten und aus eigener Erfahrung, dass er dies auf verschiedenen Wegen tut. In Form von Träumen, Einfällen, Geistesblitzen und Begegnungen. In anderen Menschen, die überraschend in unser Leben treten. Die zu einem bestimmten Moment für uns zum Engel werden.
Auch der Hebräerbrief rechnet damit. Während im ersten Kapitel grundsätzlich die untergeordnete Stellung der Engel thematisiert wird, so betont das letzte Kapitel ausdrücklich die Möglichkeit der Engelbegegnung von Mensch zu Mensch. „Vergesst nicht gastfrei zu sein. Durch ihre Gastfreundlichkeit haben einige, ohne es zu wissen, Engel bei sich aufgenommen.“ Ich kann also doch etwas beitragen zu einer Engelbegegnung. Im ganz normalen Alltag. Nämlich offen sein für das, was ich nicht kenne. Für Fremdes, Ungewohntes. Aber auch offen sein für das, was ich schon längst kenne: die Nachbarn, die Kollegen, die entfernte Verwandtschaft.
Auf einmal bietet der Nachbar eine Hilfe an, an die ich nie gedacht hätte. Dringende kompetente Mitarbeit im Asylfreundeskreis. Genau zur richtigen Zeit. So ein Engel.
Ein anderer spricht zu dem Kranken das richtige Wort zur richtigen Zeit. Aufatmen. So ein Engel!
Zum Anfang zurück:
Solange Gott die Erde trägt, schickt er seine Engel.
Ja, das tut er.
Und zwar nicht, weil die Welt sonst untergehen würde, sondern weil wir Menschen mit unseren begrenzten Möglichkeiten angewiesen sind auf sichtbare und fühlbare Zeichen. Zeichen, die wir deuten können und mit dem Himmel in Verbindung bringen. Erlebnisse in unserem Alltag, Träume, Ideen, Gespräche und Begegnungen. Sie verändern uns, eröffnen Perspektiven, werfen ein anderes Licht auf unsere Weltsicht.
So dienen die Engel.
Amen.
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