Lätare / 4. Sonntag der Passionszeit (30. März 2014)
Jesaja 54, 7-10
Liebe Gemeinde !
„Es sollen wohl Berge weichen…“
Ja, das wünschen wir uns manchmal, wenn eine Sache wie ein großer Berg vor uns steht und wir nicht darüber hinaussehen.
Aber eigentlich weichen Berge nicht. Sie stehen für das Feste und Dauerhafte, für das Beständige und nicht Angreifbare, für das Bleibende im Wandel der Zeit.
Wie hören wir dann aber dieses vertraute Bibelwort?
„Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen.“
Manch einer und manch eine hat diesen Text als Denkspruch oder als Trautext bekommen. Wir hören diese Worte oft wie ein Versprechen: Mit Gott wird alles gut. Mir wird nur Gutes, nicht aber Schweres oder Böses widerfahren.
Das wünschen wir uns. Jeder und jede trägt die Sehnsucht nach Glück in sich. Und solange es gut geht, nehmen wir dies wie selbstverständlich.
Und wenn es anders kommt?
Doch was ist, wenn alles anders kommt?
Wenn man plötzlich und unerwartet einen geliebten Menschen verliert.
Wenn eine Liebesbeziehung oder gar eine Ehe in die Brüche geht.
Wenn man aus seiner Heimat vertrieben wird, so wie das die Menschen in Syrien in letzter Zeit erlebt haben.
Wenn wir tief enttäuscht werden?
In solchen Situationen ist man versucht, dem Glauben den Abschied zu geben.
Wäre es nicht einfacher, das, was wir erleiden, als eine Laune des Schicksals,
als Zufall zu nehmen? Dann müsste man sich nicht das Hirn zermartern mit der Frage nach dem Warum.
Weil wir als Glaubende unser menschliches Schicksal mit Gott in Verbindung bringen, darum fragen wir: Warum? Wir fühlen uns von Gott verlassen im Unglück, im Leiden und im Leid.
Das Volk Israel, das die Worte des Propheten zuerst gehört hat, hat es genauso empfunden. Jahrzehntelang saßen sie schon in der Gefangenschaft in Babylon und alle Hoffnung auf Heimkehr, alle Zuversicht des Anfangs hatte sich zerschlagen. Die Gefangenen glaubten sich von Gott vergessen und verlassen.
„Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber.“
Und: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. Gott hat uns seinen Bund gekündigt.“
So haben sie geklagt. Das war zu ihrem Bekenntnis geworden. Da stellt sich die Frage: Wie geht der Prophet, wie geht Gott selber mit diesen verzweifelten Menschen um?
Gott widerspricht nicht
Gott sagt nicht: Das stimmt doch alles gar nicht. Ihr müsst das alles ganz anders sehen. Ihr müsst einfach positiv denken und das Beste daraus machen. Es geht ja schließlich alles vorüber und alles vorbei, und auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai.
Nein, er nimmt die Klage seines Volkes ernst.
Und er gesteht es ein:
„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen.“
Ja, es stimmt: Gott hat sein Angesicht verborgen.
Gottes Angesicht ist in der Bibel die dem Menschen zugewandte Seite Gottes.
Wenn Gott sein Angesicht verbirgt, dann ist die Beziehung des Menschen zu Gott unterbrochen. Dann scheint der Mensch auf sich allein gestellt, allein in dieser Welt. Wenn Gott sich abwendet, dann spricht die Bibel von Gottes Zorn. Zorn ist nicht das Gegenteil von Liebe, das Gegenteil von Liebe wäre Gleichgültigkeit. Zorn ist verletzte Liebe.
Israel hat die Konsequenz dafür zu tragen, dass es sich von Gott abgewandt hat und seine eigenen Wege gegangen ist. Dieser Ungehorsam hat Israel in die Gefangenschaft nach Babylon gebracht. Darum erfährt Israel Gott als fernen und verborgenen Gott.
Ja, es stimmt: Gott hat sein Angesicht verborgen. Nur: Lassen sich auch unsere dunklen Erfahrungen so erklären? Leid und Unglück als Strafe Gottes?
So fragen Menschen ja manchmal: „Was habe ich getan, dass Gott mich so straft?“ Aber so einfach ist die Rechnung nicht. Nein, Leid und dunkle Wege lassen sich nicht erklären. Sie gehören zu unserem Leben und zu unserem Glauben und werden von uns als Anfechtung, als Krise erfahren. Gott erklärt uns die dunklen Wege nicht, Gott tut etwas anderes: Er sagt uns auch auf dunklen Wegen seine Liebe zu.
Gott zeigt sein wahres Gesicht
„…aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.“
„…aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.“
„…aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“
Gott setzt dreimal sein ABER gegen unsere dunklen Erfahrungen.
„Aber – mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln und heimbringen.“
Das heißt doch: Du bist nicht verloren, was auch geschehen mag, am Ende bist du doch bei mir in meinen guten Vaterarmen.
„Aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln“, sagt Gott seinem Volk.
Das zweite Aber: „…aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen.“
Gottes Haltung gegenüber seinem Volk wird als Erbarmen bezeichnet.
In der hebräischen Sprache ist Erbarmen dasselbe Wort wie Mutterschoß. Erbarmen ist das Urvermögen der Frau. Gott erbarmt sich. Er wendet sich uns in Liebe zu, so wie eine Mutter sich ihrem Kind in Liebe zuwendet.
In Jesus gewinnt dieses Erbarmen Gottes konkrete Gestalt. Wenn wir Jesus anschauen, dann sehen wir Gott mitten ins Herz.
„Es ist das ewige Erbarmen, das alles Denken übersteigt,
es sind die offnen Liebesarme des, der sich zu den Sündern neigt.“ –
So heißt es in einem Lied des Gesangbuchs.
Theophil Askani, dem verstorbenen Reutlinger Prälaten, war das Erbarmen Gottes besonders wichtig. Immer wieder kommt er in seinen Predigten darauf zu sprechen. Einmal schreibt er:
„Gott ist kein Rechner, Gott ist kein Rechthaber, er ist der Vater Jesu Christi, der sich unbegreiflicherweise bis in den Tod hinein eines Menschen erbarmt, der so unbedeutend und klein ist und verloren mit seinem brüchigen Schicksal wie ich und du.“
Im Erbarmen Gottes sind auch unsere Wege gut aufgehoben.
Und schließlich das dritte Aber: „…aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.“
Beim hebräischen Wort für Gnade haben die Israeliten einen Vorgang vor Augen: Wenn einem Paar ein Kind geschenkt wurde, dann nahm der Mann den neugeborenen Säugling auf den Arm und erklärte ihn zu seinem Kind. Für diese Erklärung benutzte er das Wort für Gnade. Gnade ist also, wenn man als Kind angenommen wird.
Gnade und Frieden kommen von Gott her in unser Leben.
Es sind die Gnade und der Friede, den Jesus durch seinen Tod am Kreuz für uns erworben hat. Wir gehören jetzt zu Gott, und auch Schuld und Versagen, auch Leid und schwere Wege können uns von ihm nicht mehr trennen. Er macht uns zu seinen Kindern. Das gilt, das gilt so fest wie jenes Bundesversprechen, das Gott nach der Sintflut dem Noah gegeben hat, dass er seine Menschheit nicht vernichten wird.
Und so, wie Gott den Regenbogen als Zeichen dieses Bundes gegeben hat, so steht das Kreuz in dieser Welt als Zeichen seines Friedens. Mag sein, dass alles schwankend wird in einem Menschenleben, aber die Gnade und der Friede Gottes fallen nicht dahin.
In einem anderen Lied unseres Gesangbuchs heißt es:
„Es mag sein, dass alles fällt,
dass die Burgen dieser Welt
um dich her in Trümmer brechen.
Halte du am Glauben fest,
dass dich Gott nicht fallen lässt:
Er hält sein Versprechen.“
Wenn das so ist, dann bekommt auch das Schwere und die Not in unserem Leben einen anderen Stellenwert:
Gott schenkt einen neuen Blick auf unsere Nöte
Wenn wir in Not sind, wenn Leiden und Leid uns bedrängen, dann sehen wir oft kein Licht am Horizont, dann erscheint uns das Dunkel unendlich, wie ein unendliches Meer, wie eine Ewigkeit.
Merkwürdig, von Gott her sieht es anders aus: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen.“
So sagt er es seinem Volk, so redet er uns an. Einen kleinen Augenblick. Jahrzehnte der Gefangenschaft in Babylon: ein Augenblick.
Diese Sicht der Dinge ist nur aus der Erfahrung des Erbarmens und der Liebe Gottes zu gewinnen. Sie wird uns wohl erst im Rückblick zuteil.
Israel bekennt in seinen Psalmen: „Denn sein Zorn währet einen Augenblick und lebenslang seine Gnade.“
Nur, es braucht oft lange Zeit, bis wir einen Weg, den Gott mit uns gegangen ist, so ansehen können: Gott hat sein Angesicht für einen Augenblick verborgen, aber in seinem ewigen Erbarmen liebt er uns und bringt uns zu seinem Ziel. Gewiss, die Wunden und die Narben eines Lebens bleiben, aber sie sind jetzt in seinen guten Händen. Und manchmal wird das finstere Tal zu einer Gotteserfahrung, die uns reifen lässt und im Glauben weiterbringt.
Theophil Askani hat dazu Folgendes geschrieben: „Keinen Mangel haben, kann auch ein Mangel sein. Und wenn einem alles gelingt, dann ist ihm merkwürdigerweise etwas ganz Wesentliches vorenthalten. Manchmal spüren wir es einem Gesicht an, oder den Worten oder der Art des Zuhörens...Denn wer nur Glück hat, kann ein harter Mann werden, und wem alles gelingt, bei dem ist wenig Raum für einen anderen.“
Im Rückblick erkennen wir erst: Wenn Gott uns in die Schule nimmt, dann macht er unser Leben brauchbar für ihn. Der Augenblick, in dem wir uns von Gott verlassen dachten, bekommt so ein anderes Gesicht.
Wie verträgt sich das nun mit unserer Sehnsucht nach Glück?
Mit dem Anspruch, dass uns bitteschön nur Gutes widerfährt?
Es ist schon so: Unsere Anspruchshaltung im Blick auf das Glück wird manchmal enttäuscht. Gott geht manchmal andere Wege mit uns, andere, als wir sie uns vorgestellt haben. Verletzungen und Leid sind darin inbegriffen. Aber alles Dunkle rückt in das Licht seines Erbarmens und in das Licht seiner Gnade.
So, in diesem Sinne gilt für unseren Weg als feste Zusage, als vertrauenswürdiges Versprechen:
„Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade soll nicht von dir weichen,
und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
spricht der Herr, dein Erbarmer.“
Amen.
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