Invocavit / 1. Sonntag der Passionszeit (09. März 2014)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Eberhard Grötzinger, Stuttgart-Weilimdorf [e.groetzinger@vodafone.de]

Jakobus 1, 12-18

Liebe Gemeinde!

Das Wort „Anfechtung“ ist aus unserer Alltagssprache fast völlig verschwunden. „Wie geht’s?“ fragen wir alte Bekannte, die wir schon länger nicht mehr gesehen haben. Meist ist die Antwort nicht sehr ergiebig: „Na ja, es geht so. Es muss!“ Die Kürze der Antwort sollte uns nicht wundern. Schließlich empfinden wir doch auch selbst eine gewisse Scheu, die eigenen Sorgen und Probleme jedermann zu erzählen, vor allem dann, wenn es sich nicht um Bagatellen handelt, sondern um tief gehende Schwierigkeiten, die uns ernsthaft zu schaffen machen. Mag sein, wir haben gerade eine herbe Enttäuschung erlebt oder den Verlust eines Menschen, der uns viel bedeutet, dann sind das schmerzhafte Erfahrungen, die uns jäh aus unserem seelischen Gleichgewicht katapultieren können. Sie stecken wir nicht einfach weg. Deshalb reden wir nur ungern darüber, und wenn, dann nur mit Menschen, zu denen wir volles Vertrauen haben. Solche Erfahrungen stellen einen Angriff auf unser Selbstwertgefühl und auch auf unseren bisherigen Glauben dar. Das könnte gemeint sein mit dem alten biblischen Wort „Anfechtung“, aber wenn wir davon reden, dann sagen wir lieber konkret, worum es sich handelt.

Anfechtung und Versuchung

Im Griechischen und auch im Hebräischen steht für die Bedeutung „Anfechtung“ und „Versuchung“ dasselbe Wort. Dabei ist Anfechtung und Versuchung nicht dasselbe. Eine Versuchung besteht in der Verlockung, etwas zu tun, das verboten ist beziehungsweise das einem nicht bekommt. Die Anfechtung hingegen ist ein Zustand, in den man gerät, indem einem Böses widerfährt. Gemeinsam ist in beiden Fällen, dass wir dabei auf die Probe gestellt werden. In der nun beginnenden Fastenzeit kann sich jeder selber testen, ob er den selbst gewählten Verzicht auf Alkohol, Süßigkeiten oder leckere Fleischspeisen mehrere Wochen durchhalten kann. Eine Lebenskrise dagegen kann man sich nicht aussuchen. In sie gerät man, ohne dass man es will. Aber auch sie ist ein Test. Auch sie zeigt uns, ob wir genug Kraft haben, die Krise durchzustehen und ihre negativen Auswirkungen zu ertragen.

Anfechtung erdulden

„Selig ist der Mann, der die Anfechtungen erduldet“, lesen wir heute im Brief des Jakobus, „denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben.“ Stimmt das? Ich denke an die Frau, deren Sehbehinderung im Alter zur völligen Erblindung geführt hat. Das war für sie ein Schock, der ihren Glauben an Gottes Fürsorge ins Wanken gebracht hat. Ich denke an Eltern, die sich große Sorgen machen um ihre Tochter, weil sie befürchten, sie könne magersüchtig werden. Auch sie sind alles andere als glücklich. Sie sind verzweifelt. Sie wissen nicht, was sie falsch gemacht haben. Sie wissen nicht, wie sie sich am besten angesichts dieser Notlage verhalten sollen. Und sie wissen vor allem auch nicht, ob sie die Kraft haben werden, was ihnen so große Not bereitet, geduldig zu ertragen. Aber dann kommt mir auch Nelson Mandela in den Sinn, dieser gütige, stets freundlich lächelnde alte Mann, der im Dezember letzten Jahres verstarb. 27 Jahre seines Lebens war er als politischer Gefangener eingesperrt und setzte sich nach seiner Freilassung für die Versöhnung mit den Vertretern des Apartheid–Regimes ein, das ihm und der schwarzen Bevölkerung Südafrikas so viel Leid zugefügt hatte. Diese endlosen Jahre in der Haft müssen für ihn furchtbar gewesen sein. Aber er hat sich dabei nicht verführen lassen zu Hass und Vergeltung. Er hat seine noble Haltung, die stets darauf aus war, den Gegner zu respektieren und ihn nicht zu verachten, auch in den Jahren der Feindschaft und der Verfolgung behalten. Offenbar macht es doch einen großen Unterschied, ob man noch mitten in einer Krise steckt oder ob man nach Jahren des Kampfes trotz allem, was einem widerfuhr, seinen inneren Frieden gefunden hat. Vielleicht können wir, was der Jakobusbrief meint, so umschreiben: „Bewundernswert der Mensch, der die Widrigkeiten des Lebens geduldig erträgt!“ Denn selbstverständlich ist das ja nicht. Es ist ein absoluter Glücksfall, wenn es geschieht, nicht einfach erwartbar, auch nicht erlernbar, sondern geradezu ein Geschenk des Himmels, mit dem Gott ein durch schweres Leid belastetes Leben am Ende krönt.

Das Böse – kommt es von Gott?

Fromme Juden haben sich immer schon gefragt: „Wie kann es sein, dass, wie es so oft geschieht, guten Menschen Böses widerfährt?“ Und sie gaben sich selbst die Antwort: „Vielleicht ist es deshalb, weil Gott ihren Glauben testen will.“ So hat er den Glauben Abrahams geprüft, indem er von ihm verlangte, er solle Isaak, seinen geliebten Sohn, opfern. So hat er dem Teufel gestattet, den Glauben des frommen Hiob zu prüfen, indem er ihm alles nehmen durfte, was bislang das Glück seines Lebens ausmachte. Der Verfasser des Jakobusbriefes war da anderer Meinung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Gott so grausam sein sollte, dass er absichtlich Unglück über die Menschen bringt, um ihren Glauben zu testen. „Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Gott versucht niemanden.“ Wohl muss sich der Glaube bewähren, und er bewährt sich am Widerstand, an Schwierigkeiten, an den Turbulenzen, in die auch der frömmste Mensch geraten kann. Aber Gott selber, so meint der Jakobusbrief, ist doch nicht die Ursache des Bösen, das wir erleiden müssen. Er versorgt uns doch nur mit guten Gaben.

Der Zwiespalt zwischen gewünschtem Leben und der Realität

Auf die Frage, woher das Böse kommt und weshalb es die Macht hat, auch vielen völlig unschuldigen Menschen unsägliches Leid zuzuführen, gibt es keine Antwort. Auch der Jakobusbrief kennt sie nicht. Er kennt nur den Zwiespalt, der entsteht zwischen den eigenen Zielen, Plänen und Wünschen und der harten Realität, die diesen Wünschen entgegensteht. „Begierde“ nennt es die Bibel hier mit einem etwas missverständlichen Wort. „Ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt.“ Das leuchtet sofort ein, wenn man an die Askese denkt, zu der sich viele von uns in diesen Wochen vor Ostern entschließen. Da habe ich mir doch fest vorgenommen, für sieben Wochen ohne einen Tropfen Alkohol auszukommen. Aber dann kommt mir diese gemütliche Runde bei Freunden dazwischen, wo man gemeinsam auf das Geburtstagskind anstoßen möchte, und schon werde ich schwach, vergesse meinen heroisch gefassten Vorsatz und sage nicht nein zu dem mir so verlockend angebotenen guten Gläschen Wein. Wenn ich ehrlich bin, habe ich die Prüfung nicht bestanden, auch wenn ich mich darauf berufen kann, dass es ja doch keine Sünde sei, ein Gläschen Wein zu trinken. Denn darauf zu verzichten war ja mein in aller Freiheit selbst gewählter Entschluss.
Die menschliche Begierde mag tatsächlich die Ursache für manches Unglück sein, wenn sie maßlos wird und keine Rücksicht nimmt auf den anderen, der nicht mithalten kann. Wir reden dann von Gier: von der Gier nach Macht und grenzenlosem Reichtum, vom Verlangen nach berauschenden Essenzen, von einer Sucht, die Glück verspricht und am Ende ins Unglück führt. Aber das Begehren, das in einer tiefen Lebenskrise gegen die harte Realität steht, ist doch legitim: In Bedrängnis geraten, wollen wir nichts anderes als wieder zur Ruhe kommen, getröstet werden, inneren und äußeren Frieden finden. Das Wort „Begierde“ passt da nicht, das eigene Wünschen und Wollen viel eher.

Jesus schaut in seinem Zwiespalt auf Gott

Da ist Jesus im Garten Gethsemane. Er weiß genau, dass seine Verhaftung bevorsteht. Und er weiß, was eine Verhaftung für ihn bedeuten würde. Noch wäre Zeit zu fliehen. Was will Gott von ihm? Soll er den Dingen ihren Lauf lassen? Hat er nicht auch ein Recht zu leben? Wer könnte es ihm verübeln, wenn er Gott bittet, ihm den sicheren Weg in den Tod zu ersparen: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“. In dieser Situation größter Anfechtung ist Jesus schwach, hilflos, er braucht jetzt seine Jünger. Er braucht sie dringend. Sie sollen ihm beistehen. Aber sie können ihm nicht helfen. Was hätten sie denn tun sollen? Wenigstens wachen, wenigstens dabei sein und den Schmerz mit aushalten. Doch Jesus ist ganz auf sich allein gestellt. Was ihm allein helfen kann, ist der unbeirrte Blick auf den himmlischen Vater. Gott bleibt für ihn die Quelle des Lichts auch in dieser Finsternis. Und so gelingt es ihm, den eigenen Willen, die eigenen Wünsche und Ziele zurückzunehmen und zu beten: „doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst“.
So zu beten, wie Jesus es im Garten Gethsemane konnte, ist viel verlangt. Niemand kann es verlangen. Und doch hat der Jakobusbrief ja völlig Recht, wenn er sagt, alles Licht in der Dunkelheit einer schwierigen Lebenssituation sei Licht von oben, Licht von Gott, von dem Vater des Lichts. Gott ist nicht ambivalent. Er will, dass wir leben und dass wir uns am Licht seiner Güte freuen, auch wenn sich das Vertrauen auf diese Güte in schwierigen Zeiten erst bewähren muss. „Es werde Licht!“, hieß das Wort, das diese Welt ins Leben rief. Es bleibt auch – trotz aller Dunkelheit, die in dieser Welt existiert – sein letztes Wort. Und wir sind dazu berufen, in unserem Leben diesem Licht, so gut es geht, zu entsprechen.
Amen.

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