Exaudi (01. Juni 2014)
Pfarrer Dr. Reiner Strunk, Denkendorf [Reiner.Strunk@gmx.de]
Römer 8, 26-30
Liebe Gemeinde,
der Geist hilft unserer Schwachheit auf, sagt Paulus. Das ist für mich der Hauptsatz und der Kernsatz im ganzen Predigttext, und wenn wir den verstanden haben, dann haben wir verstanden, was wichtig ist.
Schwachheit. Keiner will sie, aber irgendwann kommt sie doch über uns wie eine schwarze Nacht, der man nicht entrinnen kann. Zur Schwachheit gehört, dass man nicht weiter kann und nicht weiter weiß. Es ist die Sackgasse. Der moorige Untergrund, der nicht mehr trägt und in dem es anscheinend nur ein Versinken gibt.
Aber der Apostel erwähnt ja nicht bloß diese Möglichkeit, dass wir schwach werden und auch merken, wie schwach wir geworden sind. Er redet von solcher Schwachheit, aber er behauptet nicht, dass sie aussichtslos sei. Ein Loch ganz ohne Boden. Denn er weiß von der Kraft des Geistes, von Gottes Geist und seiner Lebenskraft. Aber wie nun? Wie mag es denn geschehen, dass der Geist Gottes uns aufhilft in unserer Schwachheit?
Ein Gedicht von Schwachheit und Beten
Es gibt ein Gedicht von Carl Zuckmayer, das ich sehr mag. Zuckmayer, das war der, der den „Hauptmann von Köpenick“ geschrieben hat. Dieses köstliche Stück von einem armen Schlucker in Berlin, der das ganze preußische Militär zum Narren hält. Es ist einmal mit Heinz Rühmann verfilmt worden. Zuckmayer war ein beliebter Autor und er hatte viel Sinn für Humor. Aber er hatte auch Sinn für das Ernsthafte, für menschliche Not und Angst und für das Erleben von Schwachheit. Das Gedicht, das ich meine, hat er mit dem Titel „Nachtgebet“ überschrieben. Und darin heißt es:
„Alte Leute werden manchmal wach
Und wissen, dass sie sterben müssen.
Dann wird ihr Herz bang.
Denn sie haben gelernt,
Dass niemand weiß, wie Sterben ist.
Dass keiner wiederkam, davon zu künden.
Dass sie allein sind, wenn das Letzte kommt.
Und wenn sie weise sind,
Dann beten sie. Und schlummern weiter.“
Gehen wir diese einfachen und doch so intensiven Verse des Dichters noch einmal durch miteinander. Im Blick sind „alte Leute“. Aber es müssen nicht unbedingt alte Leute sein. Es können auch Kranke sein, schwer Erkrankte, die nicht wissen, was mit ihnen wird, weil die Ärzte strenge Mienen aufsetzen und drum herum reden, wenn man sie fragt. Alte Menschen oder kranke oder in ihrem Leben plötzlich schwer gebeutelte und enttäuschte Menschen. Sie liegen nachts im Bett und sollten ruhen. Aber es ist nicht ruhig in ihnen. Und darum werden sie wach mitten in der Nacht und wälzen sich herum, und es beschleicht sie ganz nah die schlimme Ahnung, dass sie sterben müssen. Das ist Schwachheit in höchster Potenz. Das Gefühl, keinen Grund mehr zu haben unter den Füßen und bloß noch zu fallen, tiefer und tiefer zu fallen, ohne Licht und ohne Wiederkehr. Und so wird ihr „Herz bang“, sagt Zuckmayer. Ein banges Herz ist ein Herz ohne Kraft. Es kann sich nicht wehren gegen die Angst, und die eigene Schwachheit überwinden kann es schon gar nicht.
Eine verzweifelte Lage, so da zu liegen in der Nacht?
Man möchte es meinen.
Aber in dem Gedicht von Zuckmayer folgt nun am Ende eine ganz überraschende Wendung. Denn dort heißt es:
„Und wenn sie weise sind,
Dann beten sie. Und schlummern weiter.“
Weise, so betont der Dichter; es kann ausgesprochen weise sein zu beten. Im Allgemeinen heißt es: Not lehrt beten. Als wäre das Beten ein Notbehelf. Und noch einen Tick salopper sagt man heute gern in schwierigen Situationen, in die einer hineingeraten ist: „Jetzt hilft bloß noch beten!“ Wenn sich einer total verzockt hat mit seinen Aktien: „Jetzt hilft bloß noch beten!“ Und wenn beim Fußball-Endspiel die eigene Mannschaft auch fünf Minuten vor Schluss noch im Rückstand ist: Jetzt hilft bloß noch beten! – Ach ja, hilft es denn wirklich? Und glauben die, die so reden, im Ernst etwa selber daran, dass es helfen könnte?
Nein, die Not ist es nicht, die zu beten lehrt, und ein Ende der Not wird damit auch nicht herbeigeführt.
Bereitschaft, sich fallen zu lassen
Was Zuckmayer in seinem Gedicht anspricht, ist etwas anderes. Es ist das Wahrnehmen, das Erleben eigener Schwachheit, das tatsächlich bang machen kann – und jetzt kein Trick mit dem Beten, um da wieder herauszukommen. Sondern es ist die Bereitschaft, sich ganz und gar fallen zu lassen. Beten bedeutet: sich fallen lassen. Hinein in die eigene Schwachheit, die körperliche und seelische Ohnmacht – und sozusagen noch tiefer darunter – hinein in die Arme Gottes. Interessant ist, dass der Dichter nicht sagt, was die Menschen da beten, als sie des Nachts aufwachen und ihnen auf einmal gewiss wird, dass sie sterben müssen. Er sagt nicht, sie beten ein Vaterunser. Oder sie wenden sich an Gott mit der Bitte, ihnen zu helfen in der Not. Gar nichts davon. Es heißt bloß: „Dann beten sie.“ Und ich verstehe das so: Sie klammern sich nicht an irgendwelche Dinge, die Aussicht auf Besserung ihrer Lage versprechen könnten. Nicht einmal an Gott klammern sie sich, wie es ein Hiob z.B. tat. Sie lassen sich fallen – das ist ihr Gebet! Und indem sie sich derart fallen lassen, wissen sie tief in ihrem Herzen, dass sie nicht ins Bodenlose fallen werden, sondern in die Arme Gottes. So sich fallen lassen, das heißt beten. Und beten heißt: so sich fallen lassen.
Haben Sie’s noch im Ohr? Zuckmayer nennt das ausdrücklich „weise“. Nicht verrückt oder religiös benebelt, sondern weise. Solche Weisheit wünsche ich mir und Ihnen, für die guten Stunden des Lebens und erst recht für die schweren.
Der letzte Vers in Zuckmayers Gedicht besteht aus zwei kurzen Sätzen mit jeweils drei Worten: „Dann beten sie. – Und schlummern weiter.“ Das Schlummern steht am Ende. An einem guten Ende. Die Unruhe, die einem den Schlaf raubt; das nächtliche Erschrecken in und vor der eigenen Schwachheit und vor dem Menetekel des Sterbenmüssens, - es kann schwinden, wie eine Nacht schwindet vor der aufgehenden Sonne. Weiter schlafen zu können, das ist schon ein Geschenk in solcher Lage, schon ein Moment von erlebter Gnade. Man ist dann nicht völlig und fein heraus aus den Tiefen der Schwachheit, aber man bleibt auch nicht allein darin. Nicht allein und nicht verlassen.
Von der Lebenskraft des Geistes
Der Apostel Paulus nennt das den Beistand des Geistes. Gottes Geist hilft unserer Schwachheit auf. Er tritt auch ein für uns, wenn wir anfangen zu beten und wenn wir diesen innerlichen Schritt tun, uns fallen zu lassen in die Arme Gottes. Wenn wir uns fallen lassen auf ihn zu, wird er uns nicht fallen lassen ins Leere.
Bloß – wie kommt der Apostel darauf, auf solche Weise vom Geist Gottes zu reden und zu erwarten, dass er uns helfen könne in unserer Schwachheit?
Die Antwort darauf gibt er im selben 8. Kapitel seines Römerbriefes, wo er vom Geist Gottes spricht, der Christus von den Toten auferweckt habe (Vs 11). Und da haben wir sie wieder, die Erfahrung von Schwachheit bis zum Tode und die Weisheit zu beten in diesem Augenblick und die Bereitschaft, sich fallen zu lassen in die Arme Gottes. Alles im unmittelbaren Zusammenhang mit der Geschichte Jesu Christi! Er sah sich ausgeliefert in die Hände seiner Gegner und erkannte, dass er sterben musste. Im Garten Gethsemane zieht er sich zurück und wacht in seiner Schwachheit, während Jünger, die ihn begleiten, ahnungslos schlafen. Und dann wendet er sich an Gott, durchaus in Ängsten zunächst, aber dann auch in dieser Bereitschaft, sich fallen zu lassen; denn er betet: „nicht wie ich will, sondern wie du willst“. Das ist betendes Sichfallenlassen in der Gewissheit, dass es ein Fallen in Gottes Arme sein wird. – Entsprechend bei der Kreuzigung: die letzten Worte Jesu, Worte auf dem Tiefpunkt seiner Schwachheit, direkt im Angesicht seines Todes, - es sind Gebetsworte, die eigentlich nichts anderes enthalten als diese eine Kraft, sich fallen zu lassen: „In deine Hände befehle ich meinen Geist“, sagt er.
Eine Kraft, sich fallen zu lassen, habe ich gesagt. Und das ist kein Widerspruch zu der erlebten Schwachheit, worin sie wirksam werden kann. Sich wirklich ganz und gar fallen zu lassen, dazu braucht es allerdings auch eine Kraft, - und zwar eine besondere. Keine Kraft, die wir selber (und ausgerechnet in solcher Situation!) aufzubringen vermöchten. Aber eine, die uns zuwachsen kann in Augenblicken einer tief erlebten Schwachheit. Eine Kraft, die gerade in den Schwachen mächtig wird, wie der Apostel an anderer Stelle betont. Eine Kraft, die nicht aus uns kommt, sondern die in uns hineinkommen will von Gott. Diese Kraft nennt Paulus den Geist, Geist Gottes, Leben schaffende und zum Leben erweckende Kraft. Sie war in Jesus lebendig und sie hat den gestorbenen Jesus zum neuen Leben auferweckt. Sie ist also buchstäblich Lebenskraft. Gottes Geist - das ist Gottes Lebenskraft, und auf die dürfen wir hoffen, in den starken Stunden unseres Lebens und mehr noch in den schwachen. Und dann kann es geschehen, dass uns „alle Dinge“ – wirklich alle, nicht nur die schönen und angenehmen und leichten Dinge – „zum Besten dienen“.
Ausblick auf Pfingsten
Ja, und in einer Woche, am kommenden Sonntag, da ist Pfingsten. Das Fest des Geistes, mit dem Gott in die Welt kommt und Leben schafft. Dieses Jahr liegt Pfingsten ziemlich spät im Kalender. Da ist der Frühling bereits sehr fortgeschritten. In anderen Jahren passt das deutlicher zueinander: die Lebenskraft des Gottesgeistes und das Aufblühen und Wachsen in der Natur. Wir wissen, dass beides nicht einfach dasselbe ist. Aber wir dürfen uns am Frühling freuen, der die langen Nächte beendet und kahle Bäume und Zweige begrünt und Blumen auf die Wiesen zaubert und alles aufatmen lässt, was lebt. Nehmen wir das Ganze doch einfach wie ein schönes Zeichen, das uns vor Augen führt, wie das Licht über die Nacht, die Lebenskraft über die Schwachheit, das Leben über den Tod triumphieren kann. Pfingsten, denke ich, ist ein heiteres Fest und es ist ein Fest der Dankbarkeit. Wir danken Gott und dem Beistand seines Geistes. Gott schenkt Leben, und sein Geist hilft uns in unserer Schwachheit. Und wo er hilft, kann nichts verloren sein. Amen.
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