17. Sonntag nach Trinitatis (12. Oktober 2014)
Pfarrer i.R. Dr. Karl-Theodor Kleinknecht, Tübingen [Karl.Kleinknecht@web.de ]
Epheser 4, 1-6
Der heutige Predigttext steht im Brief an die Epheser, einem Schreiben also, das unter dem Namen des Apostels Paulus überliefert ist als Vermächtnis aus der Haft vor seinem Märtyrertod, obwohl es nicht von ihm und wohl auch erst nach seinem Tod geschrieben wurde. Hören Sie die ersten 6 Verse des 4. Kapitels:
„Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid: in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe, und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens:
Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung;
ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.“
Spontan begeisternd wirkt er nicht gerade, dieser Text aus alten Zeiten. Auf den schicken Flyern und Internetauftritten einer „Kirche der Zukunft“ wird er kaum zu finden sein, und auch für uns heute ist er eher befremdlich: Schon der Anfang: „Ich ermahne euch...“: Wer mag das hören? „Demut, Sanftmut, Geduld“ sind auch nicht gerade im Trend, so wenig wie „Ertragt einer den anderen in Liebe“. Und schon gar das Hauptthema. Dieser Appell zur Einheit mit seinen plakativen Parolen: „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ – wem käme da nicht „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ in den Sinn und brächte die entsprechenden Warnleuchten zum Blinken? Und wie weltfremd ist das, weit weg von der Wirklichkeit kirchlicher Uneinigkeit, wohin man schaut, und der in tausende von Konfessionen und Gemeinschaften gespaltenen und zerfaserten Christenheit!
Auf den ersten Blick scheint klar: Diese Botschaft wird uns kaum überzeugen.
Die von Gott selbst gestiftete Einheit
Auf den zweiten Blick freilich lässt sich schon etwas mehr erkennen:
Etwa wenn wir nach Ephesus schauen und fragen, warum dieser Brief damals geschrieben wurde.
Sie erinnern sich: Rund ums Ägäische Meer hatte Paulus zahlreiche Gemeinden gegründet und durch Briefe und Besuche regen Kontakt gehalten. Als Gemeindegründer besaß er große Autorität. Entsprechend bedeutete sein Tod eine gewaltige Zäsur. Das einigende Band fehlte. Hatten schon zu Lebzeiten rivalisierende Gruppen das Zusammenleben der Gemeinden belastet und von außen sich einmischende Gegner dem Paulus das Leben schwer gemacht, so droht die über den Mittelmeerraum verstreute Kirche nun erst recht in Grüppchen zu zerfallen. Dagegen setzt der Epheserbrief den Gedanken einer Universalkirche als einer von Gott selbst gestifteten Einheit, die alle Gemeinden des Erdkreises zusammenschließt und in allen Ortsgemeinden präsent ist.
Von Gott selbst gestiftet? Ja, das hatten sie erfahren, in Ephesus noch deutlicher als anderswo. Hier, wo Menschen aus aller Herren und Frauen Länder zusammenströmten, in diesem Schmelztiegel der Völker, Religionen, Traditionen und Riten, da war passiert, was sie nur als ein Wunder begreifen konnten: Eine Gemeinde war entstanden aus Juden und unterschiedlichsten Heiden, religiös und sozial total inhomogen, doch geeint in einem Glauben. Unvorstellbar und doch wahr! Das war der Herr selbst, der das vollbracht hat. Er, Christus, hatte den trennenden Zaun niedergerissen und die Menschen zusammen gebracht. Mit den Worten des 2. Kapitels: „Er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart (den Heiden), und Frieden denen, die nahe waren (den Juden also).“ Jesus, der Friedensbringer. Die Gemeinde als Raum, wo von Haus aus einander feindliche Menschengruppen zusammenfinden und eins werden: Diesen Frieden, dieses Wunder nicht zu zerstören und wieder preiszugeben, dafür wirbt der Epheserbrief mit aller Leidenschaft.
Und mit aller rhetorischen Kraft. Denn Parolen sind es tatsächlich, diese drei Verse da:
„ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung,
ein Herr, ein Glaube, eine Taufe,
ein Gott und Vater, der da ist über allen und in allen und durch alle.“
Parolen, mustergültig formuliert, wie sie in griechischen Volksversammlungen vorkamen: Da gab es die Sitte, dass Einzelne mit lauter Stimme solche eingängigen Schlagworte ausriefen, die eine Sache auf den Punkt brachten. Der Redner griff sie auf und die Volksmenge skandierte sie im Chor. So flogen die Worte hin und her, es waren putzmuntere Versammlungen. Gut möglich, dass auch die Gemeinde in Ephesus diesen Brauch aufgenommen hat, als ihnen der Brief vorgelesen wurde, der in diesen Sätzen Kirche und Glaube so eingängig auf den Punkt brachte.
Wir glauben an die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche …
So eingängig, dass der Epheserbrief bis heute die meistzitierte Schrift in ökumenischen Verlautbarungen ist, die ja alle das Ziel der einen Kirche Jesu Christi als Wunsch im Blick haben.
So wie es ja auch im Nizänischen Glaubensbekenntnis (EG 687) steht: „Wir glauben an den einen Gott, den einen Herrn Jesus Christus, die eine, heilige, allgemeine apostolische Kirche...“ Obwohl wir wissen: diese Einheit ist schon seit den altkirchlichen Kirchenspaltungen zerbrochen, spätestens aber seit der nun bald tausend Jahre zurückliegenden von orthodoxer Ost- und katholischer Westkirche und erst recht seit der Reformation. Und gewiss ist sie auch nicht wieder herstellbar im Sinne einer einzigen einheitlichen weltweiten Großkirche.
Und trotzdem: „Wir glauben an die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche...“
Aber geht das? Das war natürlich auch die große Frage an die Reformatoren, die sie – wieder im Rückgriff auf unseren Predigttext – zu beantworten versuchten, indem sie die „eine Kirche“ durch-aus bejahten, aber nicht als einheitliche Organisation definierten, sondern als die „Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (CA 7). Das genügt. „Zur wahren Einheit der christlichen Kirche, schreibt Melanchthon, ist es nicht nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden. Vielmehr gilt: Ein Leib und ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. (Eph 4,4-5).“
Auf dieser Linie haben sich auch 1948 in Amsterdam bei der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen immerhin 147 Kirchen aus 44 Ländern geeinigt auf die Bildung einer „Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus als Gott und Heiland bekennen“ – inzwischen sind es 345 Mitgliedkirchen aus 110 Ländern. Wobei die römisch-katholische Kirche nach wie vor nicht dazugehört. Weil sie nach wie vor für sich in Anspruch nimmt, in ihr sei die eine Kirche bereits verwirklicht und der Papst „das immerwährende und sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit sowohl von Bischöfen als auch von Gläubigen“. Und sich auch dazu auf das „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ unseres Predigttextes beruft.
Sie merken: Auch dieser zweite Blick auf unseren Text, der seinen geschichtlichen Ort und seine große Bedeutung für die ökumenischen Bemühungen um die Einheit der Kirche mit einbezieht, lässt uns immer noch nicht glücklich werden mit unserem Predigttext.
Ob wir noch einen dritten Blick riskieren?
Die Ermahnungen sind Ermutigungen
Am Anfang des Abschnitts stehen ja nicht die starken Parolen von der Einheit, sondern die Ermahnung, Sie können auch sagen: die Ermutigung an die Christen von Ephesus, in ihrem Lebensvollzug, also in ihrer Haltung und ihrem Tun und Engagement, dem zu entsprechen, wozu sie von Gott berufen sind. Nämlich – und da stehen nun die Worte, die uns vorhin schon irritierten: in Demut, Sanftmut, Geduld, einander in Liebe ertragend. Wie gesagt: Das sind aus der Mode gekommene Begriffe. Die aber andererseits durchweg auf Jesus zurückverweisen: Auf ihn selbst: „Kommet her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,28), aber auch auf den Kern seiner Verkündigung: „Selig sind die Sanftmütigen...“ Natürlich kann man sagen: all das ist furchtbar dazu missbraucht worden, Menschen ihr Rückgrat und ihr Selbstbewusstsein zu nehmen, sie zu demütigen, unfähig zu machen zum Nein, zu Widerspruch und Widerstand. Erziehung zu „christlicher Demut“: zurecht sind wir da hellhörig und vorsichtig. Aber was Jesus und der Epheserbrief mit Demut, Sanftmut, Geduld meinten, war natürlich nicht dieser Missbrauch, sondern ein Lebensmuster, auf das sich zu besinnen vielleicht gerade uns Heutigen ausgesprochen gut tun könnte.
Die Kirche der Demut
Denn Demut, wie Jesus und die Bibel sie verstehen, meint ja die Haltung des Menschen, der um die Grenzen weiß. Man könnte auch sagen: um den Unterschied zwischen Gott und mir selbst. „Erkennen und anerkennen, dass in diesem Leben alles Stückwerk und nichts perfekt ist“, so hat’s eine Kollegin zu übersetzen versucht. Nicht immer vergessen, dass ich, so großartig ich sein mag, doch begrenzt, endlich bin, von relativer Größe. Dass auch mein Lebensentwurf, oder auch: unser Entwurf von Kirche, so sehr ich dahinterstehe, nicht der einzig mögliche und absolut richtige ist.
Demut steht so dem Machbarkeits- und Allmachtswahn gegenüber, der unsere Zeit kennzeichnet und sich immer stärker zum Perfektionsterror entwickelt. Demgegenüber hier die Einladung zu Demut, Sanftmut, Geduld, einander in Liebe ertragen. Was keineswegs heißt: alles schlucken, aber doch: mit Fehlern, mit Fragmenten, mit Stückwerk zu leben und umzugehen bereit sein, dessen eingedenk, dass auch ich nur Stückwerk bin und zustande bringe.
Demut, so verstanden, hat etwas Befreiendes: Wir müssen nicht immer die größten, die bedeutsamsten, die einzig Wahren sein oder zumindest so tun, als wären wir’s. Wir müssen das nicht, weil unser Wert davon nicht abhängt. Wir sind wertvoll, weil Gott, der allein wirklich groß, bedeutsam und der einzig Wahre ist, uns wert achtet und liebt.
Das ruft unser Brief den Ephesern ins Gedächtnis, und von hier aus kommt er auf die „Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“ zu sprechen, womit er sie ja an jenes Wunder erinnert, das Gott unter ihnen gewirkt hat, als er sie aus Juden und Heiden zu einer Gemeinde werden ließ, die Mauer niederriss, die sie zuvor als Feinde voneinander getrennt hatte.
Dem sollen sie in ihrem Leben Rechnung tragen. Dazu sind sie berufen. Und das heißt: zur Liebe.
Von hier aus kommt die eine Kirche in den Blick.
Was das bedeutet? „Die Grundgefahr religiöser Systeme, lese ich bei Fulbert Steffensky, die Grundgefahr religiöser Systeme ist, dass sie sich nicht endlich denken können. Sie sind immer in der Gefahr, sich selber Gottesprädikate beizulegen: sie sind die allein seligmachenden, außerhalb von ihnen gibt es kein Heil, sie sind die Wahren, und außerhalb von ihnen ist nur Lüge und Abfall. Ihre Gefahr ist, die Welt zu säubern von den Andersheiten. Der Zwang zur Einstimmigkeit lässt sie nur schwer Fremdheiten denken und dulden. Der Verlust der Endlichkeit aber ist der Verlust der Geschwisterlichkeit. Nur endliche Wesen sind geschwisterliche Wesen. Sich für den einzig Wahren zu halten, heißt immer bereit sein zum Eliminieren.“ (Mit Hannah Arendt gesprochen: Die Anerkennung von Pluralität ist die Grundbedingung menschlicher Existenz.)
„Ich wünsche mir, so Steffensky weiter, ich wünsche mir eine Kirche (…) von radikaler Deutlichkeit, die ihre eigenen Traditionen, Geschichten und Lieder kennt und nicht verschweigt. Ich wünsche mir einen Glauben, der Gott unendlich sein lässt und auf seine eigene Unendlichkeit verzichtet. Erst er ist fähig zum Zwiegespräch. Ich wünsche uns die Gnade der Endlichkeit. Sie erleichtert uns das Leben. Wir als Einzelne, als religiöse Gruppe, als Kirche, sind nicht die Garanten der Welt. Wir sind nicht der Grund des Lebens, das ist Gott, in ihm sind das Leben und die Wahrheit begründet. So können wir Fragment sein(…). Welche Lebensleichtigkeit, dass wir nicht alles sein müssen. In uns muss nicht die ganze Wahrheit zu finden sein.“
Soweit Steffensky. Ob ich ihm in allem recht geben möchte, weiß ich nicht einmal. Aber im Blick auf die von unserem Predigttext angeregte „Kirche der Demut“ scheinen mir seine Gedanken hilfreich, richtungs-, ja zukunftweisend.
Weil der Blick auf die Begrenztheit unseres Lebens, aber auch unserer Erkenntnis, uns gleichzeitig die Augen und das Herz dafür öffnet, wie sehr alles Leben aufeinander angewiesen ist, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Darauf, dass wir uns einander zu-muten können. Darauf, dass wir einander zur Hilfe kommen. Wir sind immer nur Teil eines Ganzen.
Die „eine heilige, allgemeine apostolische Kirche“ wäre dann die Summe der Kirchen in ihrer ganzen Vielfalt, wie sie sich aus den neutestamentlichen Anfängen entwickelt hat, eine Vielzahl mit je eigenem Profil, von denen indes keine das Ganze ist. Auch meine nicht. Das bedeutet nicht Beliebigkeit, das eigene Profil ist durchaus zu begründen, zu vertreten, selbstbewusst zu verteidigen. Dem als falsch Erkannten ist zu widersprechen, da gibt es Kriterien: Ein Herr, ein Glaube, eine Hoffnung, aber eben nicht mit der Verbissenheit, ja Militanz eines Alleinvertretungsanspruchs. Sondern im Wissen um die Vorläufigkeit und den Fragmentcharakter auch meiner Glaubenserkenntnis. Und in der Offenheit für den Reichtum der anderen, der Bereitschaft sich beschenken zu lassen und von-einander zu lernen, auch ich von den anderen.
Das gilt vor Ort in der Vielfalt der verschiedenen Gemeinden. Und das gilt für die Ökumene in der ganzen bunten Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsformen (und – wenn auch nicht einfach in gleicher Weise, so doch im Blick auf die Richtung – auch für die interreligiösen Bemühungen: mit dem Judentum zumal, aber auch mit dem Islam.)
Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, die nicht Gott sind, sondern geheiligt, weil Gott sie wertachtet und liebt, so klug und töricht, schwach und stark sie sind, fähig zur Erkenntnis, zum Guten, zur Liebe, aber auch irrend, böse und falsch.
So verschieden – und doch eins in ihm, bedürftig allemal. So lädt er uns ein: „Kommet her zu mir, alle...“, lädt er uns ein in seine offenen Arme,(lädt er uns ein an seinen Tisch). Amen.
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