Altjahresabend (31. Dezember 2013)
Pfarrer Gerd Ziegler, Backnang [Altenheimseelsorge.Backnang-Staigacker@elkw.de]
Hebräer 13, 8-9
Liebe Gemeinde!
Am Abend des alten Jahres halten wir inne und achten auf unsere Zeiten. Was hat mich in den vergangen Monaten umgetrieben? Mit welchen Menschen hatte ich schöne Begegnungen? Was hat mich in der Familie und bei der Arbeit besonders bewegt? Wo hätte ich lieber andere Worte wählen, wo etwas bleiben lassen sollen? In welchem Maß haben mich die Ereignisse in der Gemeinde beschäftigt und die Vorkommnisse in aller Welt erschüttert?
Der Blick zurück auf das, was gewesen ist, hilft, manches besser zu verstehen oder Unbewältigtes nicht zu verdrängen. Die Erinnerung an das, was war, hilft, die nächsten Schritte zu überlegen. „Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern, wir leben und gedeihen vom alten bis zum neuen…“, singen wir mit Paul Gerhardt. „Gestern“ und „heute“ verbinden sich in unserem Blick auf das Gewesene und Geschehene. Gleichzeitig richten wir die Augen auf „morgen“, auf das Zukünftige, das real noch nicht zu sehen ist. Vergegenwärtigen wir uns „gestern“ und „morgen“, so erhalten wir „heute“ die Chance, Kraft zu schöpfen und uns neu auszurichten.
Quelle der Kraft
Der Hebräerbrief benennt die Quelle der Kraft in seiner Zeitformel: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Betonen möchte ich die letzten drei Worte: „auch in Ewigkeit“. Mit ihr wird Christus hier besonders in Verbindung gebracht. Es heißt nicht „gestern und heute und derselbe auch morgen“, sondern „in Ewigkeit“. Was hat es damit auf sich? Wir sind Menschen in der Zeit, richten uns von morgens bis abends nach der Uhr, durchlaufen verschiedene Lebensphasen von der Wiege bis zur Bahre, erleben glückliche Stunden und müssen schwere Tage und Nächte durchmachen. Wir haben einen empfindsamen Sinn für unsere Zeiten. Aber haben wir einen Sinn für die Ewigkeit? Die können wir bekanntlich nicht sehen oder greifen. Bei der Ewigkeit scheint es sich um eine andere Art von Zeit zu handeln. Haben wir einen Sinn, ein Organ für diese Zeit?
Der Hebräerbrief behauptet das und nennt dieses Organ „das Herz“. Stellen wir uns „das Herz“ einmal nicht als das biologische Organ vor, das ein Mensch oder ein Tier im Leib trägt. Stellen wir es uns - wie die Menschen der Bibel - für einen Moment als Sitz der Persönlichkeit vor. Im Herzen sitzen Verstand und Wille, das Gewissen und die Gefühle sowie die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, aber auch Ängste und Hoffnungen. Hier ist der Sitz von Glaube und Liebe. Dieses Herz braucht frische Kraft. Wenn es gestärkt wird, wenn es gefestigt wird, dann ist das „ein köstlich Ding“. Wer das erfahren will, braucht sich „nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben“ zu lassen, weiß der Hebräerbrief. Eine Vielzahl von Lehren treibt die Welt um – damals und heute. Doch gegen eine redliche Auseinandersetzung mit seriös vorgetragenen Meinungen spricht nichts.
Eine fremde Lehre
Der bekennende Atheist und Kulturphilosoph Alain de Botton will von den Religionen lernen. Er anerkennt, was Religion für die Menschheit an Gutem und Nützlichem hervorgebracht hat. Manche ihrer Leistungen im Bereich von Kultur und Bildung bewundert de Botton geradezu. Christliche Musik wie die von J.S. Bach, religiöse Bauwerke wie gotische Kirchen, große Moscheen oder buddhistische Tempel gehören genauso zu diesen Errungenschaften wie verschiedene Bräuche, Rituale, Feste und Gemeinschaftsmahle. „Meine Gewissheit, dass es keinen Gott gibt, geriet nie ins Wanken. Ich fühlte mich nur befreit bei dem Gedanken, dass da ein Weg sein musste, sich auf Religion einzulassen, ohne ihren übernatürlichen Inhalten zuzustimmen“, sagt der Philosoph (14). Er bedauert, dass im Zuge der Säkularisierung „unnötigerweise auch einige der nützlichsten und attraktivsten Teile des Glaubens über Bord geworfen“ wurden (17). Darum will der Kulturphilosoph die kostbaren Schätze der Religion heben und auf das weltliche Leben übertragen. Sein Anliegen spielt er für verschiedene Bereiche durch, sei es in der Architektur und Kunst, sei es bei der sozialen Gemeinschaft und Bildung. Am Beispiel der Gemeinschaft wird deutlich, wie de Botton vorgeht. In einem Gottesdienst entdeckt der Philosoph „viele Elemente, die auf subtile Weise die Bande des Zusammenhalts einer Kirchengemeinde stärken“ (30). Folglich empfiehlt er anderen Atheisten, das zu untersuchen und, wo möglich, ins Weltliche zu übertragen.
Das Agape-Restaurant
Die Feier des Heiligen Abendmahls regt de Botton dazu an, ein „ideales Restaurant der Zukunft zu entwerfen, ein >Agape-Restaurant<“ (42). In diesem Lokal würde niemand abgewiesen oder schräg angesehen. Jeder dürfte mit anderen sprechen und zusammen sitzen, mit wem er oder sie will. Wie in der Kirche schätzen die Gäste dort Werte wie Gemeinschaftsgefühl und Freundschaft. Vor und während der Mahlzeit sind Menschen auch empfänglich für moralische Belehrungen, lernt de Botton von mancher Religion. Im Agape-Restaurant sollen sich die Gäste wohlfühlen und frei von Unsicherheit sein, wie sie mit anderen Leuten in Kontakt treten. Dazu gibt es ein Handbüchlein mit Regeln, wie man sich bei der Mahlzeit zu verhalten hat. Das erinnert an die Abendmahlsagende oder an die jüdische Haggada. Das Agape-Restaurant würde seinen Sinn und Zweck erfüllen, wenn „unsere Ängste vor fremden Menschen nachlassen“, wenn wir „freiwillig einige unserer Impulse zu Egoismus, Rassismus, Aggression, Angst und Schuldgefühlen ablegen“. „Arme würden mit Reichen speisen, Farbige mit Weißen, Gläubige mit Konfessionslosen, Labile mit Ausgeglichenen, Arbeiter mit Managern, Wissenschaftler mit Künstlern“ (50).
Geschenk der Freiheit
Am Abend des alten Jahres halten wir inne. Was gibt unserem Leben Sinn und Kraft? Was ermutigt uns zu neuen Schritten auf dem Weg, den wir morgen gehen werden? Wie bekommen wir ein festes Herz? Das ist ein Geschenk, betont der Hebräerbrief. Gottes Geschenk, seine Gnade – so das alte Wort – macht uns das Herz fest und stark. Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.
Gestern war Jesus auf Erden. Er sprach zu den Menschen in der Stimme Gottes. Er heilte Kranke und machte Blinde sehend. Frauen und Männer, die sich durch ihren Lebenswandel verirrt hatten, brachte er zurück auf den guten Weg. Er nahm Menschen ihre Schuld ab. Schuld, Versagen, Böses in Wort und Tat, alles was unser Dasein prägt, was unser Menschsein ausmacht und begrenzt, alles das hat Jesus letztendlich auf sich, auf sein Kreuz, gezogen. Er hat uns frei gemacht.
Dieses Geschenk der Freiheit ist der Grund unseres Glaubens. Der Geist des Auferstandenen berührt uns mit der guten Nachricht bis heute. Ich bezweifle, dass de Bottons Kulturphilosophie weiterführt. Lassen sich Wesensäußerungen des Glaubens wirklich von seinem Kern abtrennen und wie Bausteine für ein anderes Gebäude verwenden? Ein Agape-Restaurant mag eine originelle Idee sein, doch würde es als weltliches Gemeindehaus wirklich funktionieren? Künstliche Konstruktionen werden nicht ausreichen, um menschliche Gemeinschaften zu steuern. Es braucht dazu die Grundlage einer klaren Überzeugung, eines inspirierten Glaubens. Solchen Glauben verwechsle ich nicht – wie de Botton – mit dem Hang zu übernatürlichen Dingen.
Könnte das fiktive Lokal dauerhaft der Vereinsamung von Menschen wehren? Wissenschaftliche Studien belegen, dass Lebenskrisen in jedem Alter auftreten. Frauen und Männer können in ein großes Stimmungstief geraten, wenn verschiedene Belastungen zusammenkommen: Stress am Arbeitsplatz, Probleme in der Partnerschaft, Sorge um Angehörige, Ängste aufgrund einer Krankheit. Zwischen dem 40. und dem 50. Lebensjahr machen Forscher einen besonders depressiven Tiefpunkt bei der Bevölkerung aus. Würde ihnen da der Besuch eines Agape-Restaurants nicht helfen? Alain de Botton mag es mit seinem weltlichen Angebot gut meinen, doch überzeugt er mich nicht. Lieber lasse ich mich einladen von dem, der sagt: "Kommt zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen. Meine Last ist leicht. Ich will euch erquicken" (nach Mt 11,28.30).
Ein festes Herz
Dass das Herz fest werde, können wir nicht einfach machen. Es wird geschenkt. Auch ich kann in die Situation kommen, in der ich selbstkritisch frage: Das soll es also gewesen sein? Welche Möglichkeiten habe ich noch? Wieso ist alles so festgefahren? Was soll ich tun? Wie will ich leben? Mein Herz kann verzagen, wenn es nicht über sich hinaussieht. Mein Herz kann hart werden, wenn ich mich mit den Verhältnissen abfinde und bitter in der Seele werde. Ein verzagtes Herz droht alle Hoffnung zu verlieren. Ein verhärtetes Herz droht beim nächsten Schlag zu zerbrechen. Wird das Herz aber fest, so ist das „ein köstlich Ding“. Es verleiht Kraft für unseren Weg heute und morgen. Mit dem >Organ für die Ewigkeit< sehen wir über diesen Tag und unsere Zeiten hinaus. Christus hat sich mit uns identifiziert und verbindet unsere Zeit mit seiner Ewigkeit. Derselbe begleitet uns, der gestern war und heute ist und in Ewigkeit bleibt. Im Vertrauen darauf möge unser Herz fest werden an der Schwelle der Jahre. Amen.
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