4. Sonntag nach Trinitatis (23. Juni 2013)
Pfarrer i.R. Eberhard Süße, Ohmden [Renate.kromer-suesse@arcor.de]
Johannes 8, 3-11
Zeichen im Sand
Da steht die Frau im hellen Sonnenlicht, liebe Gemeinde. Auf frischer Tat ertappt. Beim Ehebruch. Einzelheiten bleiben feinfühlig ungenannt, obwohl man sich vorstellen kann, wie alles hinter vorgehaltener Hand tuschelt. Nichts erregt ja die Phantasie mehr – bis heute. Nur die Schriftgelehrten tuscheln nicht. Sie haben schließlich ein echtes Problem und das tragen sie Jesus mit Betonung vor: „Meister, Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?“ Ja, was sagt er? Gar nichts! Stattdessen tut er etwas, was nirgends sonst von ihm berichtet wird: Er bückt sich nieder und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Und wenig später: Noch einmal diese Gebärde. Was mag das wohl bedeuten?
Einige Ausleger vermuten: Er wendet sich einfach ab, malt so vor sich hin in den Sand, als interessiere ihn ihre ganze Fallenstellerei gar nicht. Es heißt ja ausdrücklich: Sie wollten ihn „versuchen“. In der Tat, ihr Anliegen war eigentlich gar nicht die erwischte Frau; ihr Anliegen war auch nicht die verwischte Reinheit der Ehe. Denn dann hätten sie Mose korrekt zitieren müssen, dass nämlich ehebrechende Frau und ehebrechender Mann beide des Todes seien (5. Mose 22,22ff). Und irgendwie hätten sie das männliche Subjekt ja auch greifen müssen. Aber der Mann war entweder so clever, dass er sich flugs verdünnisierte oder aber war’s eine derart hochgestellte Persönlichkeit, dass man sich nicht an ihn heranwagte. Oder man hielt schon damals die Untreue des Mannes für ein Kavaliersdelikt, die Untreue der Frau aber für ein Verbrechen. Unselige patriarchalische Doppelmoral – bis heute!
Jedenfalls konnte man mit diesem zitternden Geschöpf Jesus jetzt eine Falle stellen. Bejaht er die Steinigung, ist er nicht der gütige Heiland, wie alles behauptet. Spricht er aber die Zitternde frei, gibt er keinen Pfifferling auf Gottes heiliges Gesetz. „Und er bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.“ Ja, es könnte schon so sein, dass er sich in dieser Weise abwendet von ihrer scheinheiligen Fallenstellerei.
Aber nun muss man doch darauf verweisen, dass es im Verlauf der weiteren Erzählung ja gar keine Rolle spielt, was Jesus da geschrieben hat. Keiner der Umstehenden unternimmt auch nur den Versuch, das Geschriebene zu lesen oder zu deuten. Das legt mir selbst die Vermutung nahe, Jesus habe auch gar keine Buchstaben geschrieben, sondern eher gemalt oder gestrichelt oder gezeichnet. Zum Beispiel einen Kreis, wie das in der jüdischen Tradition jener Zeit gelegentlich berichtet wird. Solches Kreisziehen um einen Menschen grenzt ab und schützt gegen andere.
Und nun gestatten Sie mir, in der Freiheit des Auslegens, dass ich mich so festlege: Ein leicht angedeuteter Halbkreis um die überführte Frau trennt sie von ihren Anklägern. So ist sie zeichenhaft geschützt und gleichzeitig in die Nähe Jesu einbezogen, der ja die Linie für sie zieht. Es würde sich also um etwas Vergleichbares handeln wie um jenen Brauch in Kindheitstagen, wo wir beim Fangespiel einen Freikreis zogen, also einen Bereich, wo man tabu war und nicht gefangen werden durfte. So erhielte für mich Jesu Zeichnen in den Sand seinen einleuchtenden Sinn, der ganz im Zuge der weiteren Erzählung läge. Aber vielleicht lächelt Er auch über soviel Menschenwitz, wo seine Geheimnisse doch allemal weiterreichen.
Das Labyrinth
Da steht die Frau im hellen Sonnenlicht. Was wohl in ihr vorgeht? Bald wird sie im Staub verbluten – womöglich an der Stelle der Linien, die der seltsame Fremde zog. Welcher Grausamkeit und welcher Aggressionslust sie ausgeliefert ist, mag uns klar werden, wenn wir uns erinnern an die Hinrichtung jener arabischen Prinzessin, welche die Medien vor einiger Zeit ausstrahlten. Im Grunde mobilisiert solch eine barbarische Exekution nur unser Mitgefühl. Und wir stehen mit unserer Sympathie auf Seiten jener Jerusalemer Frau, die uns ansonsten vielleicht gar nicht so sympathisch wäre.
Ja, wir suchen für sie möglicherweise nach mildernden Umständen. Vielleicht lebte sie in miserabler Ehe, vielleicht blieb ihr erhofftes Glück versagt, vielleicht konnte sie x-mal der Verlockung widerstehen. Wer wollte sie nun eine Stunde der Schwachheit mit dem Leben bezahlen lassen? Seltsamerweise aber äußert sich Jesus überhaupt nicht in ähnlicher Richtung und mit ähnlichem Mitgefühl, obwohl ihm das doch sonst zu eigen war. Und seltsamerweise bringt auch die Frau nichts dergleichen zu ihrer Entlastung vor. Nein, Schuld bleibt Schuld! Für Jesus – und wohl auch für die Frau.
Jesus lenkt den Blick aber weg von dieser einzelnen Verfehlung auf eine ganz andere Ebene. Etwas ganz Grundsätzliches spricht er an, nämlich jenen „labyrinthischen Bereich“, den wir Geschlechtlichkeit nennen. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“, so entgegnet er. Damit hatte keiner gerechnet. Kein Ankläger und kein Steinewerfer. Denn das hieße ja, nun selbst ins Labyrinth hinabzusteigen! Und ist es nicht ein einziges Labyrinth voll verschlungener Pfade, das sich zwischen den Geschlechtern dehnt? Voller Irrgänge des Wollens, Fühlens, Sehnens, Empfindens, Begehrens? Wer sein eigen Labyrinth ahnt, wird dem nicht die Lust am Werfen vergehen? „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Der erste Stein ist der entscheidende Stein. Ist er geworfen, gibt es kein Halten mehr. Da hagelt‘s dann nur so! Den ersten Stein durfte nach jüdischem Recht der erste Zeuge einer Tat werfen. Aber nun sagt Jesus eben gerade nicht: Der erste Augenzeuge soll werfen. Sondern der erste Schuldlose. Da müssten sie lange suchen!
Und wir, die wir Augenzeugen sind von so manch zerbrechender Verbindung und von so manch zerrüttetem Verhältnis, wer von uns dürfte wohl nun den ersten Stein werfen? Wer müsste nicht selbst hinuntersteigen ins Labyrinth seiner Gefühle und in die Irrwege seines Verhaltens? Gibt es auch nur eine einzige untadelige Ehe? Gibt es auch nur eine einzige untadelige Ehelosigkeit? Wie viel Kabale und Liebe, wie viel geheime Grabenkämpfe, wie viel beschämende Gleichgültigkeit, wie viel harte Erstarrung, wie viel unlauteres Ausnützen! „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Es ehrt jene Jerusalemer Fallensteller im Nachhinein, dass sie sich zur Einsicht bringen lassen, ja wirklich zur Einsicht in ihr eigen Herz. Still geht einer nach dem andern. Die Ältesten übrigens zuerst, wie ausdrücklich vermerkt wird; vielleicht weil sie die größere Lebenserfahrung haben.
Zurück bleibt Jesus und die Zitternde – und die Steine; für diesmal ungeworfen. Es sei denn, Er (dieser Eine, der da zurückbleibt) würde doch noch werfen. Denn das weiß der biblische Leser: Er hätte als einziger das Recht dazu – als der eine Reine. Doch der gebot ja Einhalt mit dem Zeichnen im Sand. Und er gebot Einhalt mit dem klugen Steinewort. Wird er nicht auch Einhalt gebieten dem, was nun in ihr hochsteigen mag, sie geradezu zerstört und verdammt? Jetzt, da die äußere Gefahr gebannt ist? Doch der eine Reine sagt: „So verdamme ich dich auch nicht.“
Welch lösendes Wort von dem Herrn der Zeit und der Ewigkeit! „So verdamme ich dich auch nicht.“ Welch lösendes Wort für die, die sich im Labyrinth heillos verlaufen haben! Ein Freispruch! Sein Freispruch! Aber nicht ein Freibrief! Und nicht Sein Freibrief! Denn das fügt er doch sehr betont noch an: „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr!“ Wie ein Kampfruf Gottes erklingt dies für jenen wunderbaren aber auch gefährdeten Bereich unserer Geschöpflichkeit: „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr!“ Jene Frau hat das Leben neu erhalten, um es neu zu gestalten. Die Steine sind Zeugen. Und das helle Sonnenlicht.
Das Netz
Vielleicht hat der eine oder die andere im Stillen an den Ehemann jener Frau gedacht. Wie ist das, wenn sie nach Hause kommt? Wird auch er nach dem lösenden Wort Jesu nun das lösende Wort finden und auch seinerseits sagen können: „So verdamme ich dich auch nicht?“
Werner Bergengruens Erzählung „Das Netz“ spürt dem in eigener Weise nach. Sie spielt auf einer Insel des Mittelmeers. Dort galt noch das uralte, strikt eingehaltene Gesetz, dass ein des Ehebruchs Überführtes vom Schwarzen Felsen ins Meer gestürzt wurde. Unterhalb der Felswand drohten spitze Zacken und Klippen. Eine Überlebensmöglichkeit bestand nicht. Nun geschah es, dass sich eine junge Fischersfrau mit dem Steuermann eines fremden Schiffes einließ, das an der Insel angelegt hatte. Es war zu jener Zeit, als ihr Mann wochenlang zum Fang auf hoher See ausgefahren war. Als man die junge Frau anklagte, leugnete sie nicht. Sie schien verstört und wusste nur mit halblauter Stimme vorzubringen: „Er hat mich umgarnt. Wie in einem Netz hat er mich gefangen.“
Zur Vollstreckung der Strafe wartete man nur noch auf die Rückkehr des Fischers. Doch als dieser eintraf, entzog er sich allen Blicken. Nicht einmal am nächsten Morgen war er zu sehen, als sich alles zur Hinrichtung auf dem Schwarzen Felsen versammelte. Die Frau sagte kein Wort, hielt nur Ausschau nach ihrem Mann. Schließlich wird das Gesetz erfüllt. Ein Stoß! Die Frau stürzt in die Tiefe. Und fällt! Fällt in ein Netz, das so im Dunst und Schattenbereich des Felsens lag, dass man’s von oben nicht sah. Die ganze Zeit der Abenddämmerung und des Morgengrauens war ihr Mann zu Werke gewesen. In halsbrecherischer Weise hatte er ein Netz gespannt und es zwischen Klippen und Zacken vertäut, um seine Frau zu retten. „Mir ist sie ins Netz gegangen“, verteidigte sie der Fischer gegen die Sippe, gegen das Dorf.
Entspricht dem rettenden Netz des Fischers nicht der schützende Kreis, den Jesus um die Frau zieht? Netz und Kreis fangen doch vergebend auf. Und gibt es unter Seinem Himmel eben nicht nur so manche Verirrung im Labyrinth, sondern auf viel ehrliche Wege, viel durchgehaltene Treue, viel echte und verzeihende Liebe, wovon 1. Korinther 13 so bewegend singt: „Die Liebe ist langmütig und freundlich…sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu.“ Doch, auch das gibt es unter Seinem Himmel. Zu aller Trost sei’s gesagt.
Amen.
Ehelied
(Melodie: Du meine Seele singe)
Herr, wie Du mit den Deinen in einem Leibe bist,
so segne das Vereinen, das aus der Liebe ist,
gib Dich dem Menschenbunde, darin man hofft und glaubt,
bis in die letzte Stunde zum Herzen und zum Haupt.
Dein Wort wird Treue geben und liebende Geduld.
Erweckt es doch das Leben und wendet alle Schuld.
Du lässest Menschen wandern und füreinander stehn.
Nun füge eins zum andern, dass wir nicht irregehn!
Du bist's, der uns in Leiden und Lust geborgen hält,
der jeden von uns beiden zu deinem Dienst bestellt,
das wir des Hauses walten, Dein Knecht und Deine Magd,
und das Geheimnis halten, davon Dein Wort uns sagt.
Zum Bilde der Gemeine nimmst Du den neuen Stand,
hast ihr und uns das Deine in Gnaden zugewandt.
O Herr der Liebe, übe Dein Werk als unser Gast,
und füge Lieb' zur Liebe, wie Du's vollendet hast!
Siegbert Stehmann (1912-1945)
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