3. Sonntag nach Trinitatis (16. Juni 2013)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Karl-Adolf Rieker, Herrenberg [ka.rieker@gmx.de]

Lukas 19, 1-10

Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast

In ganz frommen schwäbischen Familien, liebe Gemeinde, gab es früher einen bezeichnenden und für Außenstehende merkwürdigen Brauch.
Es war der Brauch, zum Essen ein Gedeck mehr aufzulegen, als Gäste erwartet wurden.
Auf die Frage, was das für ein zusätzliches Gedeck sei, antworteten diese Familien dann: „Das ist für den Herrn Jesus.“
Und es stimmte ja auch: Wenn man täglich vor dem Essen betet: „Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast...“, dann ist es nur logisch, dass man das auch wirklich erwartet und bereit und gerüstet ist, wenn der Herr Jesus nun wirklich kommt und wirklich zu Gast ist.
Nun weiß ich nicht, ob das Wunder, dass Jesus erschien und zu Gast war, sich in diesen Familien einmal ereignet hat. Wahrscheinlich nicht. Aber in diesem Brauch kamen der Glaube und die Jesus-Erwartung der Menschen zum Ausdruck. Und es kam zum Ausdruck, dass sie wussten, dass Jesus gerne bei Menschen zu Gast und zu Besuch war.
So wie bei Zachäus.
Bei dem hat er sich sogar selber eingeladen.
„Zachäus, ich muss heute in deinem Haus einkehren.“

Der suchende Zachäus hat sich verstiegen

Zachäus wird ganz schön erschrocken sein, als Jesus ihn so direkt und forsch angeredet hat. Zuerst war es ja wohl nur Neugier, die ihn trieb, auf den Baum zu steigen, um Jesus zu sehen.
Vor den Toren der Stadt Jericho hatte Jesus einen Blinden geheilt und das hatte sich in Windeseile in der Stadt herumgesprochen. Auch Zachäus erfuhr davon, und er wollte diesen Jesus, der so spektakuläre Dinge tat, einmal sehen. Dass er dazu auf einen Baum stieg, hatte sicherlich etwas mit seiner Kleinwüchsigkeit zu tun. Aber nicht nur.Vom Baum herab konnte er aus sicherer Distanz und mit vorsichtiger Neugier Jesus beobachten.So dachte er. Aber, er irrte sich. Jesus bemerkte ihn. Ja, Jesus kannte ihn. Jesus redete ihn mit Namen an und lud sich selbst bei ihm ein.

Den suchen, der Menschen besucht – in der Tiefe

Kann man Jesus aus der Distanz kennen lernen?
Genügt die Neugier, um zum Glauben zu kommen?
Ist die vorsichtige Distanziertheit eine mögliche Form der Kontaktaufnahme zu Jesus?
Nun, möglich ist das schon, nur ob es auch genügt, das ist die andere Frage.
Es gibt wahrscheinlich Millionen von Christen, die zu Jesus und zur Kirche genau diese vorsichtige Distanz haben.
Eine Volkskirche, wie unsere Evangelische Kirche in Deutschland, mit 23 Millionen Mitgliedern, kann gar nicht anders, als mit einer Vielzahl von kirchlich distanzierten Mitgliedern zu leben.
Immerhin sind sie Mitglieder, zahlen Kirchensteuer und beobachten die Kirche. Und vielleicht gehen sie auch ab und zu in den Gottesdienst, wenn auch nur am Heiligen Abend. Negativ urteilen über solche kirchlich Distanzierten dürfen wir nicht. Auch Jesus hat das nicht getan. Im Gegenteil. Er hat sie sogar aufgesucht. Er hat sie be-sucht. „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“, so hat er gesagt.
Das Entscheidende an dem, was Zachäus passierte, war nicht, dass er Jesus suchte, sondern dass Jesus ihn suchte.
Gott suchte die Welt in seinem Sohn Jesus Christus. Er suchte sie auf. Er be-suchte sie. Und dieser Besuch war keine Stippvisite.Es war ein Besuch, bei dem Gott Anteil nahm an dem Übel,an dem Leid und an dem Unrecht dieser Welt. Es war ein Besuch, der ihn einiges kostete.Zum Schluss kostete er ihn das Leben, das Leben seines Sohnes.
"Gott wand zu uns sein Vaterherz,
es war für ihn fürwahr kein Scherz.
Er ließ sein bestes kosten."
So heißt es im Kirchenlied, und so war es auch. Der Besuch Gottes auf der Welt war eine schwere,eine folgenschwere und eine ernste Sache.Und Jesus ging im Auftrag Gottes gerade zu denen, die es schwer hatten.Er besuchte diejenigen, die am Rand der Gesellschaft lebten, die Kranken und Armen, die Zweifelnden und Distanzierten, die Sünder und Zöllner.Und seltsamerweise war er bei denen willkommen.
So wie hier, beim Zöllner Zachäus.Dass Zachäus ihn, wie es heißt, „mit Freuden“ aufnahm, war ja keine Selbstverständlichkeit.
Und es ist auch heute noch keine Selbstverständlichkeit, dass sich die vorsichtige Distanz zu Glaube und Kirche bei den Menschen in ein freudiges Willkommen verwandelt.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, aber es ist eine Notwendigkeit.
Ein Besuch der nicht willkommen ist, wird nicht lange bleiben.
Eine Suche, die erfolglos ist, wird abgebrochen.
Auch das gibt es, dass Menschen Jesus gegenüber kalt und abweisend bleiben, dass sie nichts von ihm wissen wollen.Dann, so denke ich, muss man auch das akzeptieren, so schade und vielleicht verhängnisvoll das auch ist.

Zachäus erfährt die Chance des Besuches Jesu

Bei Zachäus jedenfalls war es nicht so. Er erkannte die Chance dieses Besuches.
Er war Jesus gegenüber offen und freute sich.
Das ist das zweite Entscheidende in dieser Geschichte: dass Zachäus das Besuchsangebot Jesu annimmt,dass er das Heil dieser Stunde erkennt und sich für Jesus öffnet. Und auch das gibt es bis zum heutigen Tag, dass Menschen an irgendeinem Punkt ihres Lebens Jesus begegnen und sich ihm öffnen, ihn „mit Freuden“ aufnehmen in ihrem Herzen und ihr Leben sich dadurch radikal verändert.
Die Frage ist nur, wie das geht?
Wie geht das, dass ein Mensch durch die Begegnung mit Jesus radikal verändert wird?
Wie ging das bei Zachäus? Was ist da passiert?

Der Bibeltext bei Lukas schweigt sich darüber seltsamerweise aus.
Wir erfahren nur, dass die Umstehenden über Jesu Einladung zu Zachäus gemurrt haben und sprachen:„Bei einem Sünder ist er eingekehrt.“ Und dann folgt der Satz:
„Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach:Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.“
Dass Zachäus das wegen des Murrens der anderen gesagt hat, ist unwahrscheinlich.
Denn dass die anderen ihn nicht mochten, das wusste er schon lange.
Also muss der Grund für seinen Gesinnungswandel etwas anderes gewesen sein, etwas, das Lukas nicht beschreiben wollte oder auch nicht beschreiben konnte.

In dem Roman „Mirjam“ von Luise Rinser, in dem das Leben Jesu erzählt wird, kommt diese Szene mit Zachäus auch vor. Und Luise Rinser lässt Zachäus in ihrem Roman folgende Worte zu Jesus sagen: „Rabbi, du hast mir mein Herz umgewendet wie einen Sack, und schau, was da herausfällt: Diebesgut, Rabbi!“

Jesus hat mit Zachäus sicherlich gesprochen beim Essen,vielleicht auch noch nach dem Essen.Die beiden sind einander nahe gekommen, und Jesus hat mit seiner empfindsamen Art das Herz des Zachäus angerührt und bewegt.
Beinahe könnte man ein bisschen neidisch werden bei der Vorstellung, wie die beiden da, am Abend, vielleicht unter klarem Sternenhimmel in aller Ruhe reden und Zachäus endlich jemanden findet, dem er sein Herz ausschütten kann und der die Vollmacht der Heilung und der Vergebung hat.

Jesus findet Menschen – vergebend und heilend – auch heute

Gibt es solche Momente auch heute noch?
Gibt oder gab es sie in unserem Leben noch?
Wir erleben Jesus nicht mehr leibhaftig.
Aber solche Momente, in denen unser Herz von Jesus angerührt und bewegt wird, gibt es auch für uns. Wo Menschen in seinem Namen und in seinem Geist zusammenkommen, kommt es auch zu Erfahrungen der Heilung und der Vergebung. Und es kommt dazu, dass Menschen im Gebet oder im seelsorgerlichen Gespräch, ihr Herz ausschütten, so wie Zachäus.
„Rabbi, du hast mir mein Herz umgewendet wie einen Sack, und schau, was da herausfällt!“
Da, wo wir unser Herz erleichtern und ausschütten können.
Da, wo die Trauer unter Schluchzen und Tränen heraus kann, wo die Schwere einer Schuld gebeichtet werden kann, wo die Sorgen und die Ängste vor der Zukunft ausgesprochen werden können, da wirkt Jesus auch heute unter uns.

Zachäus war im Grunde genommen ein Mensch, der einsam, traurig und schuldig war.
Er war klein von Statur und fühlte sich deshalb wohl auch unsicher.
Er hatte einen unangesehenen Beruf und wurde deshalb von den anderen gemieden.
Er war auf der Suche nach jemand, der ihm Nähe und Anerkennung gab und bei dem er sein Herz ausschütten konnte. In Jesus fand er ihn. Durch Jesus fand er heraus, dass auch er ein „Sohn Abrahams“, ein geachteter und ein wertvoller Mensch, ein von Gott geachteter und für Gott wertvoller Mensch war. Bei Jesus fand er die Gewissheit, dass Gott ihn gesucht und nun gefunden hatte.
Eine solche Gewissheit ist ein großartiges Geschenk.
Sie ist ein Geschenk, das auch heute noch auf jeden wartet, der zu Jesus kommt bzw. der bereit ist, Jesus in sein Herz zu lassen, wenn er kommt.

Das allerdings ist nötig: dass wir bereit sind, uns dem Besuch Jesu in unserem Herzen zu öffnen.Dass wir das Heil der Stunde erkennen, wenn es soweit ist,
wenn Jesus vor unserer Herzenstür steht und uns anrühren und bewegen will, mit den Worten: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört, und die Tür seines Herzens öffnet, zu dem will ich hineingehen, und das Mahl mit ihm halten und er mit mir.“
Das, liebe Gemeinde, ist ein Zachäusmoment.Das ist der Moment, in dem auch wir die Chance der Heilung und Vergebung erhalten und ergreifen können.
Ich bin davon überzeugt, dass es in einem jeden Leben solch einen Zachäusmoment gibt oder sogar mehrere schon gegeben hat.
Und es wäre interessant, sich darüber einmal im Gespräch auszutauschen.

Die frommen, schwäbischen Familien jedenfalls, die, wie ich am Anfang erwähnte, einen Platz am Tisch für Jesus freihielten, haben dadurch immer an diese Chance eines Zachäusmomentes gedacht.
Und auch wir sollten daran denken und die Worte „Komm Herr Jesu sei du unser Gast...“ wirklich wörtlich nehmen.
Amen.



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