21. Sonntag nach Trinitatis (20. Oktober 2013)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Angelika Volkmann, Tübingen [Angelika.Volkmann@elkw.de]

Johannes 15, 5ab.9-12

Die Liebe bleibt

Liebe Gemeinde, eine Frau geht den vertrauten Waldweg entlang. Wie oft ist sie diesen Weg gemeinsam mit ihrem Mann gegangen! Sie erinnert sich an die Gespräche beim Gehen, wie sie sich über alle wichtigen Dinge ausgetauscht hatten. Bis ihr Mann ganz plötzlich durch einen Unfall gestorben ist. Das war vor drei Jahren.
Sie geht durch den Wald, achtet darauf, wie das Sonnenlicht das Grün der Blätter durchleuchtet und ein wundervolles Licht sich im Wald ausbreitet. Sie nimmt einen tiefen Atemzug von der würzigen Luft. Sie fühlt sich ihrem geliebten Mann sehr nahe. Fast meint sie, seine Schritte neben ihren wahrzunehmen. Was soll ich tun? so fragt sie innerlich – wie immer, wenn sie den Austausch mit ihm braucht. Heute schildert sie ihm in Gedanken einen Streit mit ihrer 17-jährigen Tochter, mit der es gerade viele Spannungen gibt. In Gedanken schüttet sie ihm ihr Herz aus. Du fehlst mir, sagt sie vor sich hin. Du in deiner ruhigen Art. Und sie erinnert sich daran, wie ihr Mann hin und wieder mit seiner großen Gelassenheit eine Situation entspannt hat. Sie nimmt etwas von seiner Wesensart und Haltung in sich auf.
Wieder nach Hause gekommen sagt sie zu ihrer Tochter: Ich glaube, dein Vater würde zu dir sagen: Du darfst das machen. Er würde sagen: Mach es, und handle verantwortlich! Die Tochter schaut sie verwundert an, Tränen steigen ihr in die Augen. Er fehlt dir auch sehr, sagt die Mutter leise. Die Tochter nickt. Sie umarmen sich. Lass uns in Ruhe über die Sache reden. Du sollst es tun dürfen, so wie Vater gesagt hätte. Und ich möchte dir sagen, warum ich besorgt bin und klären, wo du, wenn nötig Hilfe bekommen könntest.

Bleibt in mir

Liebe Gemeinde, wenn ein Mensch gestorben ist, hört die Liebe zu ihm nicht auf. Auch nicht die Liebe, die wir von diesem Menschen empfangen haben. Sie lebt und wirkt in uns weiter, kann uns weiterhin innerlich wärmen und unser Handeln beeinflussen. Besonders intensiv bleibt die Verbindung, wenn ein Abschied vorbereitet ist.
Im Johannesevangelium lesen wir, wie Jesus vor seinem Sterben mit seinen Jüngerinnen und Jüngern spricht. Er will sie nicht unvorbereitet zurücklassen. Er redet mit ihnen über die große Liebe, die sie empfangen haben. Sie sitzen beieinander in einem Haus. Jesus hatte ihnen allen die Füße gewaschen als Zeichen, dass ihm kein Dienst zu gering ist. Da beginnt er ein langes Gespräch mit ihnen.
Begreift ihr, was ich euch erschlossen habe? Begreift ihr, dass all das nicht aufhören wird, wenn ich gestorben bin? Er schaut in die Runde und sagt eindringlich: Bleibt in mir!
Wie können wir in dir bleiben, wenn du nicht mehr sichtbar bei uns bist? So fragen sie ihn.

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben

Ich bin der Weinstock, sagt Jesus. Ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.
Ein einleuchtendes, schönes Bild. Weinstock und Reben – sie bilden eine ganz natürliche Einheit. Die Jünger erinnern sich: Israel ist Gottes Weinstock, Gott selbst der Weingärtner. Schon immer hat er sein Volk gehegt und gepflegt und hält ihm bis auf den heutigen Tag durch viele Erschütterungen hindurch die Treue. Bleibend. Gott bleibt. Das ist tröstlich in einer Welt, in der so viel vergeht. Seine Liebe bleibt. Ich bin der Weinstock, sagt Jesus jetzt. Der wahre Weinstock! Ja, er kommt wirklich von Gott, das haben sie erfahren. In Jesus haben sie die Nähe Gottes gespürt, seine bleibende Liebe. Durch ihn sind sie mit dem Ursprung verbunden, aus dem sie Kraft ziehen. Das macht sie lebendig.
Wie können wir in dir bleiben? fragen sie wieder. Sie wollen es ja. Das Bild vom Weinstock leuchtet ein. Ich lebe – und ihr sollt auch leben, hatte Jeus gesagt (Joh 14,19). Ja, sie wollen dazugehören, bleibend zu ihm gehören.

Bleibt in meiner Liebe

Bleibt in meiner Liebe, sagt Jesus.
Doch das ist nicht das erste, was er an dieser Stelle sagt. Zuerst sagt er: Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch. Die Jünger begreifen: Zuerst werden wir geliebt.
Liebe Gemeinde, wie ist es, geliebt zu werden?
Wenn mich jemand gelten lässt. Wenn mich jemand sieht, wie ich bin und Gefallen daran hat. Wie beglückend! Wenn ich mich dadurch entfalten kann in meiner Eigenart. Wenn mich jemand wert schätzt. Für mich eintritt. Mir unter die Arme greift. Fehler verzeiht. Wenn jemand für mich Opfer bringt. Verlässlich ist. Mir zugewandt bleibt. Bleibt.
So liebt Gott. So liebt er sein Volk. So liebt er seinen Sohn. So liebt dieser uns. So sollen wir einander lieben. Dann kommt in der Liebe zwischen uns Gottes Liebe wieder neu zur Entfaltung. Das ist die Frucht der Rebe, die bleibt. Die Liebeskette ereignet sich immer wieder, bringt das Leben, bringt Ströme von Freude. Gottes bleibende Liebe ist die Wurzel, die treibende Kraft.
Bleibt in meiner Liebe! sagt Jesus.
Das wollen wir gerne, sagen wie sehnsüchtig, wie gerne! Wie können wir in deiner Liebe bleiben? Wie können wir lernen sie zu spüren? Wie kann es gelingen, dass wir von ihr zehren können? Manche von uns sind so voller Selbstzweifel, fühlen sich ungeliebt und wertlos – und sehnen sich danach, anzukommen an diesem Ort, wo man einfach hingehört wie eine Rebe an den Weinstock – doch so einfach geht das nicht. Wie sollen wir in der Liebe bleiben in einer Welt, in der uns Unvollkommenheit und Hass entgegenschlägt?

Haltet meine Gebote

Haltet meine Gebote! sagt Jesus.
Gebote halten? Was erwartest du von uns?
Liebe ist nicht nur ein Gefühl, sagt Jesus. Liebe zeigt sich im Verhalten. Ohne Verbindlichkeit geht es nicht. Nicht ohne Bindung. Ich selber halte die Gebote meines Vaters. Das kostet mich etwas. Dadurch bleibe ich in seiner Liebe, in seiner Freude.
Was sind die Gebote?
Liebe Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deinem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst. Das ist es, was Gott, mein Vater im Himmel, unserem Volk Israel in der Tora gegeben hat. Die Gebote des Vaters sind auch meine Gebote, sagt Jesus.
Sie wissen es ja: die Gebote halten, das bedeutet Gott über alles zu setzen, nicht den eigenen Vorteil. Demütig sein. Einen guten Lebensrhythmus von Arbeit und Ruhe einhalten. Eltern ehren. Nicht zerstörerisch sein. Verzichten können. Nicht am Besitz hängen. Sich nicht auf Kosten anderer bereichern. Nicht schlecht über andere reden. Nicht neidisch sein. Das Nötige tun, wenn jemand Hilfe braucht. Freigebig sein. Gerne verzeihen. Alles zum Besten kehren. Frieden stiften. Sich gegenseitig so lieben, wie Jesus sie liebt.

Wie sollen wir das schaffen?

Wie soll das gehen? Wie sollen wir das schaffen? Es gibt so viele schwierige Mitmenschen, soviel Böses in der Welt – und wir haben alle unsere Grenzen ….
Es ist ein lebenslanger Übungsweg, sagt Jesus. Und immer wieder auch beglückend. Immer wieder entfaltet sich dadurch die Liebe unter den Menschen. Und, vergesst nicht: Ihr lebt von der Gnade. Auch das hat mein Vater seinem Volk gezeigt. Hat immer wieder verziehen. Denn seine Güte reicht, so weit der Himmel ist. Das gilt für alle Menschen.
Das klingt gut, sagen sie. Verziehen wird uns auch.
Aber ja. Jesus schaut sie mit warmem Blick an. Verziehen wird euch auch. Und wem viel verziehen ist, der liebt viel. Kann seinerseits verzeihen. Weil er den anderen mit den Augen Gottes sehen lernt. Liebe deinen Nächsten – er ist wie du!

Die Verlockung der Freude

Sie schweigen. Sind berührt von diesen Worten. Empfinden jetzt geradezu eine Verlockung, diesen Weg einzuschlagen, obwohl er schwer ist, obwohl ihnen vielfach bewusst wird, welche Entbehrungen er mit sich bringt und wieviel Selbstüberwindung immer wieder nötig sein würde. Sie hätten es nicht für möglich gehalten, doch sie empfinden Glück.
Dies aber sage ich euch, damit eure Freude vollkommen werde, sagt Jesus.
Die Jüngerinnen und Jünger ahnen es: Die vollkommene Freude, die gibt es wohl erst in der kommenden Welt. Und doch: Wer Gottes Gebote hält, wer in der Liebe Jesu bleibt, der hat schon jetzt – mitten in der unvollkommenen Welt, Anteil an der vollkommenen Freude. Und sei es angesichts des Todes. Denn es gibt mehr, als wir mit unseren Augen sehen können. Die Liebe Gottes ist immer um uns. Wir gehen der kommenden Welt Gottes entgegen. Deswegen können Glaubende auch am Grab eines geliebten Menschen singen: „Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat je gehört, solche Freude!“ (EG 535).
Jetzt sind alle still. Sie ahnen, dass dies das Vermächtnis von Jesus ist, das Geheimnis des Glaubens. Er wird sterben. Und doch: Sie ahnen, wie eine unverlierbare Freude in ihnen wächst.
Amen.

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