14. Sonntag nach Trinitatis (01. September 2013)
1. Mose 28, 10-19
Liebe Gemeinde,
die Worte, die wir eben gehört haben, nehmen uns in eine dramatische Lebensgeschichte hinein. Von Jakob ist heute die Rede, von diesem Ewig-Zweiten, der alles daran setzt, Erster zu werden. Dieses Lebens-Muster ist gut bekannt. Und dass das schwere Konflikte verursacht, ebenfalls. So musste Jakob Hals über Kopf aufbrechen, fliehen. Jakob – ein Mensch unterwegs. Ein Mensch unterwegs aus dem Ungeordneten in das Ungewisse.
Jakob – unterwegs aus dem Ungeordneten heraus
Jakob ist zunächst der Mensch, der unterwegs ist aus dem Ungeordneten heraus. Jakob hat ja seinen Bruder Esau betrogen, hat ihm mit List den Erstgeburtssegen entrissen. Er hat den alten, blinden Vater Isaak angelogen und sich als Esau ausgegeben. Als Esau erfährt, dass sein Bruder ihm den Erstgeburtssegen weggenommen hat, kocht er vor Wut. Die Mutter Rebekka rät ihrem Lieblingssohn Jakob, sich sofort aus dem Staub zu machen und in der fernen Stadt Haran bei ihrem Bruder Laban um Unterschlupf zu bitten. Hals über Kopf flieht Jakob, um dem Bannstrahl des Hasses des geprellten Bruders zu entkommen. Jakob, der Mensch, unterwegs aus dem Ungeordneten heraus.
Jedes von uns kennt das, dass manches ungeordnet hinter uns liegt. In Kindertagen konnte es passieren: Die schöne Tasse aus Mutters Teeservice, die wir zerbrochen haben und die wir ganz still in den Schrank zurückgestellt haben – hoffentlich merkt sie’s nicht; und doch hatten wir ein ungutes Gefühl dabei. Und später dann: Der Kollege oder die Nachbarin, über die ich vor anderen abfällig geredet habe und denen gegenüber ich jetzt ein schlechtes Gewissen habe, und doch ist der Weg zum anderen und zur offenen Aussprache so weit. Es sind oft komplexe Verwicklungen, tiefgehende Verletzungen und schwer einholbare Versäumnisse zwischen Menschen, in die ein Pfarrer als Seelsorger mit hineingenommen wird. Manches lässt sich mit Behutsamkeit und Gottvertrauen ordnen. Manches aber muss zunächst einmal so stehenbleiben, und ein pragmatischer Weiterweg muss gefunden werden. Nein, Jakob, der sich in Schuld verstrickt hat, der unterwegs ist aus dem Ungeordneten heraus, ist mir wirklich nicht fremd. Allzu deutlich erkenne ich mich selbst in ihm wieder.
Jakob – unterwegs in das Ungewisse hinein
Aber auch das andere ist uns so nahe, das zu Jakob und seiner Biographie gehört: Jakob, der aus dem Ungeordneten herkommt, ist unterwegs in das Ungewisse hinein. Wie wird es weitergehen? Wird Jakob die wochenlange Reise nach Haran schaffen? Und wenn er unversehrt ankommt, wie wird er bei seinem Onkel Laban aufgenommen werden?
Wie wird es weitergehen – diese Frage stellt sich für ein jedes ganz persönlich. Ein gesundheitlicher Einbruch beim Partner oder eine unvorhersehbare Lebens-Wendung lassen bisherige Selbstverständlichkeiten zerbrechen, und der Weg führt ins Ungewisse.
Jakobs Traum – mit drei Bildeinstellungen auf die Himmelsleiter
Jakob – der Menschen unterwegs aus dem Ungeordneten in das Ungewisse. Er rückt uns ganz nahe. So nahe, dass wir ihn jetzt einholen, als er auf seinem Fluchtweg zum ersten Mal die Schritte verlangsamt. Die Sonne war untergegangen, die Nacht rasch hereingebrochen. An der Stätte, an der er sich nun zwangsläufig zur Ruhe legt, liegen zahlreiche Steine – einen davon legt Jakob zum Schutz hinter seinen Kopf. Erschöpft schläft Jakob unter dem weiten Himmel ein. Mitten in seiner selbstverschuldeten Krise, auf der Flucht vor dem eigenen Bruder, träumt Jakob nun den Traum von der Himmelsleiter. Drei sich überblendende Bilder nimmt sein inneres Auge wahr, entsprechend heißt es dreimal: „Und siehe!“
Jakob sieht im Traum ein erstes Bild: Und siehe, eine Leiter, übersetzt Luther, eigentlich eine Treppe oder eine aufgeschüttete Rampe, auf der Erde hingestellt und mit der Spitze bis zum Himmel reichend, so, dass Himmel und Erde sich berühren. Der schlafende Jakob war den ganzen zurückliegenden Tag über nur von seinen Sorgen gehetzt und von seinem menschlichen Kalkül getrieben worden – jetzt öffnet sich sein irdisches Leben für die andere, größere Wirklichkeit Gottes. Träume machen aufmerksam auf das Besondere im Drunter und Drüber des Alltags. Träume unterbrechen den Alltag der Geläufigkeiten und haben ihre Bedeutung besonders in lebensgeschichtlichen Übergängen. Träume können zum Einfallstor des Göttlichen in das irdische Leben werden.
Und dann ist da das zweite Bild: „Und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.“ Mir fällt die Reihenfolge auf: Von der Erde steigen sie hinauf und steigen dann wieder herunter. Also waren die Engel bereits, von Jakob noch unerkannt, mit ihm auf seinem Weg. Jakob, der meinte, an dieser nächtlichen Ruhestätte einsam und verlassen zu sein, gänzlich unbehaust, hinter einem Stein unzulänglichen Schutz suchend, der war gar nicht allein. Die Engel Gottes waren vielmehr die ganze Zeit bei ihm. Nun steigen sie hinauf und wieder herab zur Erde, um ihn auf seinem weiteren Weg zu begleiten, wenn er die Grenzen des Landes überschreitet und sich in der Fremde bewähren muss.
Das dritte Bild, das ist nicht mehr stumm, sondern sprechend: Gott, der Herr, steht ganz oben auf der Treppe. Nicht als stumme Erscheinung, vielmehr stellt er sich dem Jakob vor: „Ich bin der HERR, der Gott deines Großvaters Abraham und deines Vaters Isaak.“ Und Gott verheißt ihm Zukunft – dem flüchtenden Jakob, der nicht viel mehr als sein nacktes Leben, eine kleine Ölflasche und einen Wanderstab besitzt, ihm soll das ganze Land einmal gehören, und er wird es weitergeben an eine zahlreiche Nachkommenschaft. Und das Wichtigste: Gott gibt dem Jakob einen Reisesegen mit auf seinem Weg ins Ungewisse, indem er ihm Schutz auf dem Weg in die Fremde und die Rückkehr zusagt: „Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land.“
Gott macht den Weg in die Zukunft frei
Mir fällt wohltuend auf, dass Gott den Jakob nicht zuerst auf das Ungeordnete anspricht, dass er seinen Bruder betrogen und seinen Vater belogen hat. Gott macht ihm den Weg in die Zukunft frei: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.“ Und indem Gott den Weg in die Zukunft frei macht, kann Jakob sich auch dem Ungeordneten, das hinter ihm liegt, stellen und muss es nicht verdrängen. So bereitet Gott den Weg für die Versöhnung mit seinem Bruder Esau. Und die wird dann im weiteren Verlauf der Geschichte auch berichtet: Jahre später kehrt Jakob mit einer großen Familie zurück. Es kommt zur Klärung der Vergangenheit, so dass, wie es in 1. Mose 32 heißt, dem Jakob die Sonne aufging. Es kommt zur versöhnenden Begegnung mit Esau. Aber auf dem ganzen langen und weiten Weg dorthin war Jakob getragen von der Zusage Gottes: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst...ich will dich nicht verlassen.“
Gottes Zuspruch an Jakob – Stärkung für unsere Aufbrüche heute
Wer einen Umzug an einen neuen Wohnort vor sich hat, spürt, wie nahe ihm diese bedingungslose Zusage Gottes kommt, aufrichtend, tröstend: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, ich will dich nicht verlassen.“ Wer eine neue Arbeitsstelle antritt, die und der können für ihren Aufbruch in dieses persönliche Neuland und das neue kollegiale Umfeld diesen Zuspruch Gottes an Jakob für sich persönlich nehmen: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.“ Und wer sich voll innerer Unruhe fragt: „Jetzt habe ich alles gewissenhaft abgewogen, aber ist die Entscheidung für genau diese Stelle und für genau diesen Ort auch wirklich die richtige?“ – der höre sehr genau Gottes Zuspruch, der nicht auf eine bestimmte Richtung begrenzt ist: „Ich bin mit dir, wo du hinziehst.“
Auch wenn es sich um innere Aufbrüche handelt, wenn es kein Umzug an einen neuen Ort ist – unser menschliches Leben ist ja wie eine Reise. Wir sind unterwegs auf der Straße unseres Lebens, vom ersten bis zum letzten Tag. Unser Leben ist ein Wandern hin zur großen Ewigkeit. Packen wir den Zuspruch Gottes an Jakob als Stärkung ein in unseren persönlichen Lebens-Rucksack: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst...ich will dich nicht verlassen.“
In Christus ist Gott die Himmelstreppe herabgestiegen
Der Gott, den Jakob ganz oben auf der Himmelstreppe stehen sah, begegnet uns in der Gestalt Jesu Christi noch einmal anders: In Jesus Christus begegnet uns der große Gott nicht als einer, der hoch über unseren Köpfen und Schicksalen thront, sondern als der, der die Himmelstreppe herabgestiegen und ganz auf dieser Erde angekommen ist. In der Schriftlesung (Johannes 1, 43-51) hatten wir gehört, dass der Menschensohn Jesus der „Ort“ auf Erden ist, an dem der Himmel offen und Gott gegenwärtig ist. In Christus begegnet der große Gott als ein Menschenbruder, der herabgekommen ist zu uns, als einer, der um die Schuld weiß und sie trägt, als einer, der neben uns mit unterwegs ist.
Mit Gottes Reisesegen vertrauensvoll weiterziehen
Im Vertrauen auf den Reisesegen Gottes lasst uns die neuen Wege in der vor uns liegenden Zeit gehen, ganz getrost: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.“ Das heißt nicht, dass die Wege nun immer eben und ohne Hindernisse wären. Wohl aber gibt Gott uns die Kraft, an den Hindernissen und Umwegen zu wachsen und zu reifen. Und er wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht (EG 395, 2). Amen.
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