12. Sonntag nach Trinitatis (18. August 2013)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Werner Grimm, Tübingen [werner-grimm.verlag@t-online.de]

Markus 8, 23-24

Liebe Gemeinde!

Als ich das erste Mal über diese seltsame Therapie zu predigen hatte – ich erinnere mich: Meine Tochter war mit dem Abiturszeugnis ins Zimmer gestürmt, aber nur, um zu erklären, dass sie den Koffer packen werde, denn morgen wolle sie, wie angekündigt, mindestens für ein halbes Jahr nach Costa Rica. Billigflug, Unterkunft noch ungeklärt. Arbeitsmöglichkeit und Lebensunterhalt dort: "Mal sehen", sagt sie. Ich bruddele ihr an diesem Abend nochmals was in die Ohren von Fundament und Lebensaufbau, von solider Ausbildung und Existenzsicherung. Sie etwas ungnädig: "Ach was, ich will was sehen von der Welt, und ich will was bewegen." Da wogt nun der kleine Kampf hin und her, und immer grundsätzlicher wird’s, und schließlich werfen wir uns gegenseitig die Frage an den Kopf: „Wie eigentlich stellst du dir das Leben vor?“ Am Ende, abrauschend, wiederholt sie mitleidig: „Papa, blind bist du, du blickst es nicht!“ Wums, das sitzt, und mit dem Druck dieses vernichtenden Urteils beugte ich mich über den Predigttext:

"Und er (Jesus) nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas? Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen …"

Aha, da war also auch einer blind – und was zeigt sich ihm als „Leben“, als ihm von Jesus die Augen geöffnet werden? Mit dem ersten Augen-Blick sieht er „Menschen, als sähe er Bäume umhergehen“. Das wird bei keiner anderen Blindenheilung Jesu so ausdrücklich erzählt – das muss hier besondere Bedeutung haben – im Sinne des Prinzipiellen, im Sinne eines Grundzuges der menschlichen Existenz. Das erste Aha-Erlebnis des sehend Gewordenen: Menschen sind wie Bäume, die umhergehen. Sollte sich in diesem paradoxen Bild etwas Urmenschliches, die Formel des Daseins offenbaren? Sollte das Geheimnis gelingenden Lebens etwas zu tun haben mit einer Balance zwischen Aus-den-Wurzeln-Leben und Sich-Bewegen? Zwischen Bodenständigkeit und Mobilität?

Der Mensch: verwurzelter Baum

Ob ein Leben gelingt, hinge einerseits davon ab, ob ein Mensch in guter Erde Wurzeln schlagen und ein Baum werden konnte, „der seine Wurzeln zum Bach hin streckt. Der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht“, so heißt es in einem Psalm des Alten Testaments. Zeit muss einem Menschen gelassen werden, dass er wachsen, seine essentiellen Kräfte entwickeln und ein Segen werden kann mit dem, was er an Früchten „abgibt“. In anderer Hinsicht mahnt mich das Symbol des Lebensbaumes, meinen Zeitgenossen in seiner Bestimmtheit durch die Vorgaben zu begreifen: durch das, was keimhaft schon in ihm angelegt ist, durch frühe Prägungen im Elternhaus, von Erziehern und Lehrern und durch schicksalhafte Widerfahrnisse. Das gebietet einerseits, nicht so schnell die moralische Keule zu schwingen, wo jemandes Leben scheints misslingt: denn man hat dieses und man hat sein Schicksal nicht in der Hand. Nicht zum Verurteilen sind wir aufgerufen, sondern dazu, die Gestalt eines Lebens wahrzunehmen, so wie sie sich offensichtlich unter des Schöpfers Wirken formt. Wir sind aufgefordert, im Geschöpf den Schöpfer zu ehren – auch dort, wo uns das Verstehen und der Respekt erst einmal schwerfallen mag.
Aber weil das Leben nun genau so wie ein Baum auch ein Gang ist – weil beide Bilder ineinandergeschoben sind, wo Jesus uns die Augen öffnet, darum ist das bis hierher Gesagte nur die halbe Wahrheit. Nur das Einerseits.

Der Mensch: mobiles Lebewesen

Andererseits bekommt mein Leben je länger je mehr im Rahmen des Vorgegebenen doch auch Optionen und Eigenverantwortung zugespielt: Ich soll mich bewegen, und ich darf etwas bewegen. Und mit der Gehfähigkeit werden mir auch Fortschritte zugetraut und an Weggabelungen Entscheidungen zugemutet. Und ich muss so und so viele auch denkbare Richtungen entschlossen ausschließen, um meine Ziele zu erreichen – möglichst im „aufrechten Gang“ – mit Recht schätzen wir die Lebenshaltung der „Aufrichtigkeit“, wo sie uns entgegentritt.
Beide Bilder verlangen nach ihrem Recht, und auch im religiösen Sinne sind wir „ganze“ Menschen nur dann, wenn wir in der Seele beidem Raum geben, mit Paul Gerhardt: „Mach in mir deinem Geiste Raum, dass ich dir werd ein guter Baum und lass mich Wurzel treiben.“ Aber eben auch die Bewegung: „Geh aus mein Herz ... Die Lerche schwingt sich in die Luft...“

Vom Sinn der Gemächlichkeit

Dem Bild von den Menschen als Bäumen, die gehen, entnehme ich eine weitere Botschaft. Es stiftet uns an zu einer gewissen „Gemächlichkeit“. „Gemach, gemach!“ – so suchen wir manchmal einen sich in seiner Rede oder in seinen Handlungen überstürzenden Menschen zu bremsen. Und das Bild Jesu vom Leben favorisiert sozusagen das Fußgängertempo. (Immerhin hätte er auch damals schon auf galoppierende Reiter des römischen Militärs zeigen können.)
„Biologisch“ hat uns der Schöpfer erst einmal aufs „Gehen“ eingestellt. Mögen auch die anderen Fortbewegungsarten ihr temporäres Recht haben – das Gehen vor allem erschließt uns das Leben. Das hat etwas damit zu tun, wie wir die Welt wahrnehmen. Spielen wir die Möglichkeiten durch:
Vom Flugzeug, das uns in wenigen Stunden in ein fernes Land transportiert, haben wir einen faszinierenden Überblick, nehmen womöglich die Gestalt eines Erdteils wahr, aber ein weiter Abstand liegt zwischen den Betrachtern und der Erde.
Fahren wir Auto, so umfasst unsere Wahrnehmung ungefähr das, was wir eine Landschaft nennen. Aber sie „er-leben“ – das tun wir damit nicht – sie rauscht an uns vorbei.
Vom Fahrrad erkenne ich immerhin schon die Gestalt einer Blumenwiese, und sie grüßt mich Vorüberfahrenden mit ein paar spezifischen Düften. Doch ansonsten ziehen auch für den Radler die Naturerscheinungen rasch vorbei; sein Blick reicht fürs Grobe, nicht aber fürs Erkennen des Feinen.
Erst der Fußgänger berührt jene Größen der Welt, die ihn zutiefst existentiell betreffen: den Baum, unter dem er bei 38 Grad kühlenden Schatten bekommt; drüben auf dem anderen Gehsteig die Nachbarin: Wenn er die Schritte nur ein wenig verlangsamt, kann er im Gehen ein Leuchten in ihrem Gesicht sehen und ihren Gruß hören, und er geht um einige Grade fröhlicher weiter. Zu Fuß durch die fremde Stadt taxiert die Urlauberin nebenbei das kleine Café zur Linken und weiß im nächsten Augenblick, ob sich dieses für eine erquickende Rast eignet oder nicht eignet. Eine Katze läuft mir über den Weg, und ich muss nicht erschreckt bremsen, sondern kann ihr als Fußgänger über das Fell streichen und ihr wohliges Schnurren hören. Am Wegrand sehe ich ein bizarres Steinchen und nehme die Blume wahr, und zwar genau: das Muster des Gefieders, ihren Duft, den Stengel und die Blätter, wie sie sich anfühlen...
Jawohl, das ist nun auch ein Plädoyer für den guten alten Sonntagsspaziergang, allein, zu zweit oder zu mehreren. Denn die Lebewesen und die Dinge um einen herum im Schritt-Tempo wahrnehmen, das geht unmerklich über in ein Vertrautwerden mit ihnen, in eine Berührung mit ihnen, in: Leben mit ihnen.

In der Realität: Die Beschleunigung aller Dinge

Freilich, nun spüren Sie womöglich einen gehörigen Abstand der gemalten kleinen Idyllen zur Weltwirklichkeit, wie sie dominiert. Sie ist geprägt von der Beschleunigung aller Vorgänge. Wir agieren ständig als Schnäppchenjäger, sprungbereit auf Last-minute-Angebote. Dem Event muss gleich wieder ein Highlight folgen, damit keine Leere entsteht. Happenings, Hopping zwischen den Fernsehkanälen, zappen wie der Zappelphilipp. Und weil die kurz gefasste, verzögerungsfreie SMS den guten alten Liebesbrief verdrängte, gibt es heute die „ferne Geliebte“ des romantischen Beethoven-Liedes kaum noch, wegen der man morgens um 11 Uhr mit Herzklopfen den Briefkasten leert, ob da endlich der ersehnte Brief darunter sei. Und der Computer: Mit dem Suchlauf finde ich in ein paar Sekunden bestimmte Wörter und Stellen eines langen Textes, wofür ich früher eine halbe Stunde benötigt hätte. Ja, wenn ich es gut organisiere, dann kann ich da und dort viel Zeit einsparen. Und was mache ich mit der eingesparten Zeit? Ich stopfe, scharf kalkulierend, gleich wieder zwei Dinge hinein, die ich sonst morgen erst erledigen oder überhaupt sein lassen müsste.
Was zum Teufel ist es mit dieser Angst, ich könnte etwas, ich könnte das Leben versäumen? Wie ein Virus grassiert sie. Spielt uns da unser ungeklärtes Verhältnis zum Tod einen Streich? Beherrscht uns heimlich ein Gefühl, es wird wohl nicht mehr allzu viele Gelegenheiten für uns geben – mit dem Tod ist alles aus? Die Osterbotschaft vergessen? Also packen wir in die kurze Zeit hinein, was geht. Aber wie könnte uns mit Gottes Hilfe eine Verlangsamung gelingen, ein Wiederhineinfinden in das uns von Jesus vorgezeichnete „Fußgängertempo“?

Feiertag und Feierabend als Entschleuniger

Auf manchen Straßen vor unseren Ortschaften werden auf eine recht intelligente Weise die rasenden Autofahrer ausgebremst: Kleine Blumeninseln zwischen den beiden Fahrspuren bilden künstliche Engen und Kurven und zwingen auf eine sanfte Weise zu Tempo 30, dem Leben zuliebe. Mit seinem Schöpfungswerk hat auch Gott solche Blumeninseln ausgelegt in unsere Lebensfahrten. Nach jedem sechsten Kilometer sozusagen nimmt in schöner Regelmäßigkeit eine solche Blumeninsel das gefährliche Tempo aus unserem Leben, sofern wir nicht auch diese noch überrollen. 6 + 1: ein bekömmlicher Lebensrhythmus. An jedem siebten Tag: Innehalten, und – so formulierte ein Industriearbeiter im Jahr 1874, der wohl schon die Maschinen sah, die nicht gern still stehen wollen:

„Stiller, heilger Sabbattag, wie ein hehrer Glockenschlag
aus dem Dom der Ewigkeit tönst du durchs Gewirr der Zeit,
dass der Mensch aus dem Gewühle seiner Werke zum Gefühle
seines ewgen Wesens komme und bedenke, was ihm fromme.“

In der Alten Kirche haben die Christen, intensiver als wir heute, jeden Sonntagmorgen als Abglanz des Ostermorgens erlebt, haben damit auch die Zuversicht wachgehalten, dass es in der Verbundenheit mit Christus ein Leben gebe, das der Tod nicht abtöten kann. Gerade so war der Sonntag der Tag, an welchem viele Christen zu einer tief gegründeten Ruhe kamen – zu einer Ruhe, in der die Kraft lag.

Manchmal braucht es für das Fühlen des Ewigen nicht einmal einen ganzen Tag. Manchmal genügt es, nur ein bisschen in dem zu verweilen, was schön ist: etwa nach getaner Arbeit ein vollbrachtes Werk mit Genugtuung zu betrachten. Manchmal genügen fünf Minuten für ein kleines Musikstück, um in ihm sozusagen spazierenzugehen. Je nachdem reichen auch mal zehn Minuten, an der Seite eines Menschen zu gehen, seinen Atem und seine Worte zu hören, das Klopfen seines Herzens, und seine Seele zu berühren.
Denn das Wesen der Dinge, die uns zuallererst angehen, erschließt sich nach der Weisheit der Bibel am allermeisten den Gehenden. Ja, den Sonntag wieder zu „begehen“ und in den Feierabend „einzutreten“ (welche Weisheit der deutschen Sprache!), das sollten wir öfter ganz wörtlich nehmen.
Amen.

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