1. Sonntag nach Trinitatis (02. Juni 2013)
Pfarrer i.R. Dr. Eberhard Grötzinger, Stuttgart-Weilimdorf [e.groetzinger@vodafone.de]
Matthäus 9, 35-38; 10, 1-7
Liebe Gemeinde,
wie soll es weitergehen mit der Kirche? Sie ist heute in keiner einfachen Lage. Sie hat in den letzten Jahren viele Mitglieder verloren. Sie muss sich auf einem Markt vielfältiger religiöser und kultureller Angebote behaupten. Sie kämpft mit viel Phantasie gegen die dumpfe Gleichgültigkeit der Massen und wehrt sich, so gut sie kann, gegen den kräftigen Gegenwind, der ihr von Seiten kritischer Zeitgenossen ins Gesicht bläst. Viele, die sich ehrenamtlich oder beruflich in der Kirche engagieren, fragen sich besorgt: „Wie wird es mit ihr weitergehen in der nächsten und übernächsten Generation? Hat die Kirche überhaupt noch eine Zukunft?“ Da ist es gut, sich einmal vor Augen zu halten, wie denn alles angefangen hat, damals in Palästina. Und was in der Folge die treibende Kraft war, durch die sich das Christentum über die Jahrhunderte auf der ganzen Welt ausgebreitet hat. Eine Gelegenheit dazu bietet der Predigttext aus Matthäus 9 und 10.
Wie alles angefangen hat mit der Kirche
Man hat schon oft festgestellt: Die Bildung einer Kirche war bei Jesus selbst noch nicht im Blick. Er hat als junger Mann seine Heimatstadt Nazareth, in der er aufgewachsen war, verlassen. Er hatte bei seiner Taufe durch Johannes eine Art Berufungserlebnis. Er wurde danach zu einem Wanderprediger, der mit einer Schar von Jüngern von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt zog. Er lehrte dort in den Synagogen, predigte das Evangelium von Gottes Reich und heilte alle Krankheiten und Gebrechen. Das war der Anfang. Von Kirche ist da keine Rede. Dann aber schickte er seine Jünger aus, damit sie es ihm gleich tun. Unter den Zwölfen, die Matthäus hier nennt, sind viele, die später eine bedeutende Rolle in der ersten Christenheit gespielt haben – mit einer Ausnahme: Judas Ischariot, der ihn verriet. Andere kamen dazu, die hier nicht genannt sind, auch Frauen, nicht nur Männer: zum Beispiel Maria von Magdala, von der Matthäus am Ende seines Evangeliums berichtet, dass sie die erste Zeugin der Auferstehung Jesu war, oder Lydia, die Purpurkrämerin, von der Lukas in der Apostelgeschichte erzählt, dass sie als erste Christin auf europäischem Boden getauft wurde. Die Kirche bildete sich als eine Gemeinschaft von Menschen, die Jesu Botschaft weitertragen und sein Werk fortsetzen wollten. Obwohl Jesus also sicherlich nicht angetreten ist, um eine weltweite Kirche ins Leben zu rufen, war die spätere Kirche aber doch das zwangsläufige Nebenprodukt seiner Wirksamkeit. Sie entstand als die Arbeitsgemeinschaft der Boten, die sich von ihm haben senden lassen. Und sie wird auch in Zukunft gerade dann Bestand haben, wenn sie nicht alle Kraft auf die Sorge um das eigene Überleben konzentriert, sondern auf die Frage, wozu Jesus heute seine Boten sendet.
Fortsetzen, was Jesus begonnen hat – Zwei Chancen für die Kirche
Sie fragen sich vielleicht: „Können wir das? Können wir fortsetzen, was Jesus begonnen hat? Überfordert das nicht unser Vermögen und unsere Kraft?“ Wenn Sie so fragen, dann werden Sie schnell merken, dass es hier nicht um eine Frage geht, bei der uns Unternehmensberater aus der freien Wirtschaft behilflich sein können. Sie können uns zeigen, wie wichtig es ist, sich Ziele zu setzen, Arbeitsprozesse zu organisieren, Mitarbeiter zu motivieren und den Einsatz von Finanzmitteln zu kontrollieren. Aber die grundsätzliche Schwierigkeit bleibt. Es ist die Frage, ob wir überhaupt in der Lage sind, fortzusetzen, was Jesus begonnen hat.
Eine gesunde Portion Selbstzweifel ist allemal besser als ein nassforsches Selbstbewusstsein, das seine Möglichkeiten maßlos überschätzt. Dennoch könnten wir uns auch umgekehrt fragen: „Sehen wir denn als christliche Gemeinde auch die Chancen, die in dem Bemühen liegen, fortzusetzen, was Jesus begonnen hat?“
1. Freude an Gott
Ich sehe in erster Linie zwei Chancen. Die erste: Wenn wir mit unseren bescheidenen Möglichkeiten versuchen, fortzusetzen, was Jesus begonnen hat, dann wird in uns die Freude an Gott wachsen. Es ist doch eine wunderschöne Vorstellung, dass unser Leben von Anfang an und bis ans Ende, ja darüber hinaus so allumfassend von Gottes liebender Fürsorge umgeben ist, wie uns das Jesus in der Bergpredigt gelehrt hat. Ich habe noch selten erlebt, dass jemand diese Vorstellung abgelehnt hat, allenfalls, dass er oder sie gesagt hat: „Das ist ja viel zu schön, um wahr zu sein! Ich kann es nicht glauben, weil ich auch viele recht leidvolle Erfahrungen in meinem Leben gemacht habe.“ Wer es dennoch glauben kann, der freut sich an Gottes Güte und Weisheit, an seiner alles umfassenden Macht und seiner Barmherzigkeit. Mission ist, recht verstanden, etwas völlig anderes als eine Mitgliederwerbung für die Kirche. Es ist der Versuch, anderen Menschen an der eigenen Freude an Gott teilhaben zu lassen.
Was die Menschen am christlichen Glauben oder an der Kirche ablehnen, hängt nach meiner Erfahrung in aller Regel nicht mit seiner Botschaft zusammen, sondern mit einem lieblosen Verhalten seiner Vertreter. Wer anderen Menschen von der Liebe Gottes erzählt, der kann dies im Grunde nicht tun, ohne sie ebenfalls zu lieben. Jegliche Art von Rechthaberei und Intoleranz verbietet sich von selbst. Und umgekehrt: Die Liebe zu anderen Menschen zeigt sich in jeglicher Art von Beistand, Hilfe und Fürsorge, wenn eine solche nötig ist und gewünscht wird. Nur auf den ersten Blick scheint es so, als seien damals Jesu Ankündigung des Reiches Gottes und das Heilen von Krankheiten zwei Seiten seiner Wirksamkeit gewesen, die nichts miteinander zu tun gehabt hätten. Bei näherem Zusehen stellen wir fest: Von Gottes Liebe zu reden geht gar nicht, ohne sich von der Not derer berühren zu lassen, die unter Krankheiten und Gebrechen zu leiden haben. Sonst wäre die Rede von Gottes Liebe völlig abstrakt und unglaubwürdig. Jesus hat sich die Not der Menschen zu Herzen gehen lassen. „Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.“
2. Den Menschen nahe kommen
Worin besteht die zweite Chance? Wenn wir mit unseren begrenzten Möglichkeiten versuchen, fortzusetzen, was Jesus begonnen hat, dann kommen wir zwangsläufig den Menschen näher. Wir müssen als Gemeinde dann nicht mehr lange überlegen, wie die Menschen zu uns kommen und wie unsere Angebote gestaltet sein müssen, damit sie auch bildungsferne Milieus erreichen. In Frage steht vielmehr, ob wir sehen, was die Menschen bedrückt und worunter sie leiden, und ob wir bereit sind, hinzugehen, um mit ihnen zu versuchen, ihre Last zu tragen.
Wer ist heute das Volk, das zerstreut ist wie Schafe, die keinen Hirten haben? Man betont gerne, dass Jesus zu denen ging, die in der damaligen Gesellschaft ausgegrenzt und wenig geachtet waren. Aber er ging auch in das Haus des vornehmen Pharisäers Simon. Er ließ sich auch auf das Problem des reichen Jünglings ein, der trotz aller Bemühung keinen Frieden für seine Seele fand.
Bei Krankheiten und Gebrechen ist am ehesten sichtbar und spürbar, dass etwas zerbrochen ist, was ursprünglich als heil und ganz gedacht war. Wo das Vertrauen zwischen den Menschen zerstört ist, wo Angst herrscht, Neid, Eifersucht, wo die Sehnsucht nach erfülltem Leben zur Droge greifen lässt, da ist das Defizit oft unter einer glatten Oberfläche versteckt – aber es kommt in den besten Familien vor! Das ist auch der Grund, warum die Arbeit eines einzelnen, und sei es eines Jesus von Nazareth, nicht genügt. Ein jeder Mensch kann in die Situation kommen, wo er einen Hirten braucht, der ihn versteht und ihm die innere Ruhe und Sicherheit vermitteln kann, die sich gründet in der Ruhe und dem Frieden, den wir Menschen finden können in Gott. Matthäus schreibt, Jesus habe seinen Jüngern Macht gegeben über die unreinen Geister – ich verstehe darunter die innere Stärke, die vermitteln kann in einem Konflikt und beruhigen kann in großer Angst. Wir können sie gewinnen, indem wir uns gegenseitig ermutigen im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung. Und wir können so – im Namen Jesu – viel Gutes tun in einer Welt, in der immer wieder etwas schief läuft bei Alt und Jung, bei Arm und Reich.
„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch alles Übrige zufallen“(Mt.6,33)
Natürlich ist nicht jeder geeignet, ein Mitarbeiter an diesem Werk zu sein, auch nicht jeder schon dadurch, dass er ein kirchliches Amt bekleidet oder Mitglied einer christlichen Kirche ist. Aber alle, die etwas begriffen haben von Gottes grandioser Liebe zu uns Menschen, sollen mitmachen. Jesus vergleicht das Gemeinschaftswerk, das daraus entsteht, mit der Arbeit in der Erntezeit. Bei der Weinlese wäre ein einzelner hoffnungslos überfordert. Es braucht viele Hände, denn es gibt viel zu tun. Aber bei aller Mühe und Arbeit kann es für den einzelnen auch ein großes Erlebnis sein, zur Schar der Helfer zu gehören und gemeinsam die Ernte einzubringen.
Ich bin mir nicht sicher, ob die Evangelische Kirche in Deutschland auch im 21. Jahrhundert noch die äußere Organisationsform beibehalten kann, die sie aus früheren Jahrhunderten übernommen hat. Es sind zu viele Elemente der Staatskirche dabei, die in der heutigen gesellschaftlichen Situation einfach nicht mehr passen. Aber ich bin mir sicher, dass es auch im 21. Jahrhundert für Christen genug zu tun gibt und dass auch in Zukunft Gott selber die Herzen der Menschen bewegen wird, dass sie fröhlich und gerne tun, wozu er sie sendet.
Amen.
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