19. Sonntag nach Trinitatis (06. Oktober 2024)
2. Mose 34,1–10
IntentionIn 2. Mose 34,1–10 wird eine bewegende Geschichte erzählt vom Volk Israel mit seinem Gott und von Mose. Es ist eine Geschichte von damals – 3000 Jahre sind vergangen. Doch es ist eine Geschichte, die uns gleichsam einen Spiegel vorhält, in dem wir uns 2024 selbst erkennen können. Wir erfahren Wesentliches nicht nur über den Gott des Ersten oder Alten Testaments, sondern über den Gott, der uns heute begleitet. Es ist derselbe wie im Zweiten oder Neuen Testament: Gott, der seine Menschen nicht aufgibt, auf dessen Treue Verlass ist trotz unserer Untreue, bei dem Gnade vor Recht gilt.
Die VorgeschichteEs ist die Geschichte von Gott und seinem auserwählten Volk: Am Anfang der Exodus, der Auszug aus dem Knechtshaus Ägypten, der verheißenen Freiheit entgegen. Am Ende, nach langer Wüstenwanderung – aber lange Zeit nirgends sichtbar – das Gelobte Land: das Land in dem Milch und Honig im Überfluss vorhanden sind. Doch mittendrin, mitten in der Wüste wurde die Trockenheit ein Problem. Statt Milch und Honig nicht einmal Trinkwasser. Je enttäuschender die Gegenwart, desto leuchtender erscheint die Vergangenheit. In Ägypten hat es zwar keine Freiheit und viel Arbeit, aber wenigstens etwas zu essen gegeben. Schnell wird dem Volk die Freiheit lästig, aus dem Lied der Freiheit ist ein Murren über die Gegenwart geworden. Das Volk hadert gegen Mose und Aaron und sogar mit Gott – nicht aber gegen sich selbst. Andere werden für die Misere verantwortlich gemacht. Wie schnell ist die Erfahrung des lebendigen und rettenden Gottes verblasst, und der Glanz des Goldenen Kalbes leuchtet in der tanzenden Mitte auf. Am Berg Sinai wollte Gott mit seinem Volk einen Bund schließen. Mose steigt auf den Berg und erhält die berühmten zwei Steintafeln mit den Zehn Geboten. Gott sagt Mose, wie die geschenkte Freiheit gestaltet wird, wie das Leben der Israeliten mit ihrem Gott gut zu gestalten ist. Als Mose vom Berg herabsteigt, sieht er die um das Goldene Kalb tanzenden Israeliten. Das ist nun ihr Gott, ein Gott zum Anschauen und Anfassen. Wutentbrannt zerschmettert Mose die Steintafeln mit den Zehn Geboten und zerstört auch das Goldene Kalb. Er hält seinem Volk eine Strafpredigt, und er steigt wiederum auf den Berg Sinai. Dort möchte er Gott um Vergebung bitten und seinem Volk eine zweite Chance geben. Davon handelt unser Predigttext.
Aus dem Zweiten Mosebuch, Kapitel 34, nach der Lutherbibel 20171Und der HERR sprach zu Mose: Haue dir zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, dass ich die Worte darauf schreibe, die auf den ersten Tafeln standen, welche du zerbrochen hast. 2Und sei morgen bereit, dass du früh auf den Berg Sinai steigst und dort zu mir trittst auf dem Gipfel des Berges. 3Und lass niemand mit dir hinaufsteigen; es soll auch niemand gesehen werden auf dem ganzen Berge. Auch kein Schaf und Rind lass weiden gegen diesen Berg hin. 4Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand. 5Da kam der HERR hernieder in einer Wolke und trat daselbst zu ihm. Und er rief aus den Namen des HERRN. 6Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, 7der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.8Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an 9und sprach: Hab ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der HERR in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein.10Und der HERR sprach: Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschaffen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des HERRN Werk sehen; denn wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.
Mensch – Gott – ZweifelVierzig lange Tage war Mose auf dem Berg. Für das Volk war Gott nicht mehr erfahrbar, verfügbar, nicht mehr zu hören und zu sehen. Da kam ihr Glaube in eine Krise. Doch ohne Gott wollten und konnten sie nicht leben. Und so schufen sie sich einen Ersatzgott – das Goldene Kalb. Ist das so unbegreiflich? Kann uns das nicht auch passieren? Diese Geschichte, ist wie ein Spiegel. Schauen wir genau hinein, dann entdecken wir uns selbst: So bin ich. So ist der Mensch! Wir haben doch auch manchmal Zweifel. Doch wir haben es mit einem Gott zu tun, der seine Menschen nicht aufgibt und der seine Liebe durchhält. Auf dessen Treue Verlass ist trotz Untreue und Zweifel. Bei dem Gnade vor Recht gilt. Dieser Gott wird uns in den Worten des Mose so beschrieben: „HERR, HERR, Gott barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemanden, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.“ Barmherzig ist er, gnädig, geduldig, von großer Gnade und Treue. Der Gott des Ersten Testaments ist kein anderer als der des zweiten, des Neuen Testaments. Mit den Zehn Geboten und Mose als Mittler geht es um eine sehr konkrete Weltdeutung und um eine Weltordnung mit klaren Werten und Maßstäben. Töten, Ehebruch und Diebstahl widersprechen dem Willen Gottes. Seine Präferenz liegt auf Werten wie Gerechtigkeit, Vertrauen und Frieden. Im Neuen Testament ist Jesus der Überbringer des göttlichen Willens. Wie Mose steigt Jesus auf einem Berg und verkündet von dort sein Programm – die Bergpredigt: Selig die Friedensstifter, selig die Barmherzigen, selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Durch Jesus ist uns der ferne Gott ganz nahe gekommen als ein Gott, der an der Seite der Geschlagenen und Geschundenen, der Leidenden und Schwachen ist. Durch Jesus ist Gottes Liebe zu uns gekommen und für uns ganz konkret geworden – zum Sehen, Greifen und Handeln nah. In Jesus Christus ist Gott tröstend bei uns. Er ist bei uns, wenn wir trauern. Er leidet mit den Elenden und harrt auch aus bei den Zweifelnden und Verzweifelten. Gott verlässt uns nicht. Aus den zerstörerischen Kräften entstehen durch Gottes Gnade neue Lebensmöglichkeiten.
Gottes Gnade – die Sünden der Eltern und GroßelternGottes Gnade ist keine billige Gnade: „Aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.“ „Missetaten“, sowohl Untaten als auch Versäumnisse, haben Folgen. Wir alle wissen es. Aber Gott liebt uns, deshalb lässt er uns nicht einfach so in unser Unglück rennen. Er akzeptiert unser zerstörerisches Verhalten nicht. Es hat Folgen, wie wir heute leben: wie wir mit unseren Ressourcen umgehen, ob wir bewahren oder zerstören. Ob wir – gerade in unserem Land – die Schuld der Männer und Frauen in den Generationen vor uns totschweigen oder nicht. Ich sehe in Deutschland zunehmend unsere Demokratie, dieses kostbare Geschenk, gefährdet. Offensichtlich wollen immer mehr Menschen autoritär beherrscht werden. Bis vor gut zehn Jahren gab es in Deutschland ein wirkmächtiges Tabu: Rechtsextreme werden nicht gewählt. Doch dieses Tabu ist mit zunehmendem zeitlichem Abstand für viele Menschen gefallen. Als hätte es in Deutschland den schrecklichen Irrweg des sogenannten Dritten Reichs nicht gegeben. Hier steht so viel auf dem Spiel. Hier ist unser klares Nein gefragt: Rechtsextremen geben wir unser Vertrauen nicht. Wie gut, dass so viele Christenmenschen und Kirchengemeinden sich lautstark beteiligen, wenn Hunderttausende auf die Straße gehen für Demokratie und Menschenrechte. Demokratie und Menschenrechte sind der Grundstein für ein menschenwürdiges Zusammenleben, für ein gutes Leben für alle.
Brundtland-Bericht 1987Die Brundtland Kommission – benannt nach deren Vorsitzender und damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Bruntland –, auch Weltkommission für Umwelt und Entwicklung genannt, veröffentlichte 1987 den Report „Unsere gemeinsame Zukunft“.
Dieser Report definierte, was dauerhafte – nachhaltige – Entwicklung für uns bedeutet, nämlich:
„Dauerhafte (nachhaltige) Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“
Wieder der Spiegel, der uns vorgehalten wird, denn wir müssen uns fragen: Leben wir wirklich so, dass unser Verhalten den künftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt hinterlässt? Im Blick auf unseren ebenso ausbeuterischen wie unbegreiflichen Umgang mit der Schöpfung Gottes weist uns unser Predigttext darauf hin, dass wir die Verantwortung übernehmen müssen für das, was wir heute und morgen tun – und zwar für die folgenden Generationen. Keiner kann sich herausreden, dass es ja eine andere Generation war, die für den Klimawandel verantwortlich ist. Wir bleiben über Generationen verbunden, ob wir wollen oder nicht – und Gott bleibt es mit uns: in allem Schuldig-Werden und über all unser Schuldig-Werden hinaus. Das war Israels Erfahrung mit seinem Gott, und die Gültigkeit dieser Zusage wird durch Gottes erneuten Bundesschluss bestätigt und aktualisiert. Das ist unser tragfähiges Fundament, auf dem wir unsere Verantwortlichkeiten endlich besser und intensiver wahrnehmen. Kraft der Grundlage Gottes sind wir trotz allem zuversichtlich.
Es ist wahr: Gott vergibt „Missetat, Übertretungen und Sünde“. Ihm ist es nicht egal, was aus den Verfehlungen der Väter und Mütter geworden ist. Er schaut bis in die 3. und 4. Generation prüfend nach, ob wir aus unseren Fehlern gelernt haben, ob wir also einen echten und wie wir heute sagen würden nachhaltigen Neuanfang hinbekommen. Gottes Gnade schenkt neues Leben an jedem Tag. Unsere gemeinsame Aufgabe ist, es gut für alle zu gestalten. Amen.
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