19. Sonntag nach Trinitatis (18. Oktober 2020)
Epheser 4, 22-32
IntentionDas Bild vom Kleiderwechsel („ablegen“ – „anziehen“) verdeutlicht die Erneuerung des „alten“ zum „neuen Menschen“ im alltäglichen Verhalten von Christinnen und Christen. Die Pointe: In den konkreten Impulsen schwingt stets die Erinnerung mit, dass die Angesprochenen zur Erfahrung bringen, was sie bereits sind: Sie sind Glieder des Leibes Christi! Das Leben aus dem Zuspruch der Vergebung steht ihnen gut zu Gesicht! Und ebenso der wahrhaftige, versöhnliche, gerechte Umgang miteinander.
4,22 Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet.
23 Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn 24und zieht den neuen Menschen an,
der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
25 Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind.
26 Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen
27 und gebt nicht Raum dem Teufel.
28 Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann.
29 Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es hören.
30 Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung.
31 Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit.
32 Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.
Liebe Gemeinde, die Aussicht auf neue Kleidungsstücke weckt bei den einen Menschen Freude, bei anderen eher Unbehagen. Die Einen lieben das Shoppen. Sie genießen die Anproben. Kleidung ist für sie ein Stück Lebensqualität. Andere ziehen die Ertüchtigung der Garderobe so lange wie möglich hinaus. Haben sie sich aber zum Kauf des neuen Hemdes durchgerungen, dann, ja dann, ziehen sie weiterhin das alte Exemplar mit dem aufgestoßenen Kragen an, dieses vertraute und gemütliche Stück Textil. Das neue liegt im Schrank.
In den Worten des Epheserbriefs klingt eine ganz eigene Art des Kleiderwechsels an. „Legt von euch ab den alten Menschen … und zieht den neuen Menschen an.“ Treibt den Verfasser des Briefs die Sorge um, dass seine Adressaten ihr Leben als christliche Gemeinde gewissermaßen im Schrank liegen lassen? – Wirklich schön sind sie anzuschauen, die neuen Gewänder, die er hervorholt und den Angesprochenen zeigt. Er müsste die alten, abgetragenen Kleider gar nicht so ausgiebig herumzeigen und so oft den Kopf schütteln über all das, was man „nicht“ tun soll. Mich beeindrucken seine werbenden Worte. Da sehe ich ihn neben uns treten, mit uns zusammen in den Spiegel der Anprobe blicken, und ich höre ihn sagen: „Schlüpft doch hinein: in ein aufrichtiges, wahrhaftiges Gespräch miteinander! Legt ihn euch zu: den versöhnlichen Umgang mit euch selbst und untereinander! Und schaut mal: Die Früchte eurer Arbeit kommen wunderbar zur Geltung, wenn sie zum Segen für die Bedürftigen sind. Hier, seht her: Ein aufbauendes Reden steht euch bestens zu Gesicht. Und gebt acht auf den Stoff, aus dem das alles ist: Vergebung. Die Vergebung, die ihr empfangt und die ihr selbst übt, sie durchwirkt alles. Jesus Christus durchwirkt euer Menschsein. Das ist neu, und jetzt ist es da: Ihr seid Christinnen und Christen. Ihr tragt ein neues Sein an euch. Im Grunde eures Wesens seid ihr ‚vergnügt, erlöst, befreit‘“.
Offensichtlich, liebe Gemeinde, ist es nicht so einfach, sich von der alten Garderobe zu trennen. Sich von alten Gewohnheiten zu lösen. Sich aus scheinbar zwingenden Gründen und Gesetzmäßigkeiten zu schälen. Man könnte den Verfasser des Epheserbriefs natürlich fragen, ob der Kleiderwechsel, den er andeutet, das passende Bild ist für den Veränderungsprozess vom alten zum neuen Menschen. Aus alten Kleidern kommt man wohl heraus, aber nicht aus der eigenen Haut. In der Haut stecken Verhaltensmuster seit Kindheitstagen. Auf der leib-seelischen Haut sind Verwundungen und Verbrennungen vernarbt, die bei bestimmten Regungen immer wieder aufs Neue schmerzen. Was also ist das denn für ein eigenartiger „Kleiderwechsel“, mit dem sich mein Wesen wandeln soll vom alten zum neuen Menschen?
Wechsel der Kleidung – WesenswandlungDer „alte Mensch“ steht für den Menschen, der im Nein zu Gott lebt. Der alte Mensch kann Gott nicht gebrauchen. Möglicherweise will er Gott auch gar nicht in seinem Leben haben. Wenn, dann zu seinen menschlichen Bedingungen, Zwecken und Vorstellungen. In diesem Sinn, so höre ich den Epheserbrief freundlich erklären, ist erst einmal jede und jeder „alter Mensch“. Auch der jüngste, ebenso der netteste, der klügste wie der unbedarfte. Ohne Ausnahme gibt der Epheserbrief zu verstehen: Erst einmal bist du „alter Mensch“. Auch als Säugling bist du in eine Welt hineingeboren, in der es Unheil gibt und das Böse. Und im Leben jedes Kindes kann es Schaden, Schmerz oder Zerbruch geben, der dieses Kind trifft und der von ihm ausgeht. Mit wachsendem Bewusstsein, mit wachsender Verantwortung wird z.B. das Maß zunehmen, in dem du als Mensch verstrickt bist in die unheilvollen Zusammenhänge auf dieser Welt, in die ökonomischen und ökologischen Zusammenhänge zum Beispiel. Zunehmen wird aber auch, dass du als Mensch verletzt wirst und andere verletzest, mal unabsichtlich, mal mit Vorsatz. Jeder Mensch ist „alter Mensch“ in dem Sinn, dass er sich verfehlen kann und dass er verletzt werden kann. Jeder trägt den alten Menschen an sich, das alte Kleid.
Ein Wechsel der Kleider ist angezeigt. Ein Wechsel des Wesens ist angesagt. Ein Wechsel und nicht nur ein Waschgang. Weißwaschen dürfte dem aufgestoßenen und abgetragenen Sein des alten Menschen kaum helfen. Nicht Waschen, sondern Wechseln ist angesagt. Denn das alte Kleid, der alte Mensch ist aufgetragen. Er hat sich überlebt. Ja, der Verfasser des Epheserbriefs zögert nicht, von sich und seinen Mitchristinnen und -christen zusagen: „Wir waren tot“ (Eph 2,5). Unerfülltes Leben. Ein in sich verkrümmtes Dasein in den lumpigen Klamotten abgenutzter Selbstrechtfertigungsversuche.
Nicht weniger drastisch kam es vorhin in der Evangelienlesung zur Sprache: „Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden“ (Lk 15,24). Wir erinnern uns: Der Vater geht dem jüngeren, heimkehrenden Sohn entgegen. Der kommt in Lumpen zurück, ein abgetragenes Leben bringt er daher. Es ist der Vater, der ihm ein neues Gewand holen lässt. Er kleidet den Sohn neu.
Der Wesenswechsel vom alten zum neuen Menschen ist also ganz die Sache Gottes? – Aus der Geschichte vom barmherzigen Vater und seinen Söhnen, auch aus den ersten Seiten des Epheserbriefs erfährt man: Gott kleidet den Heimkehrenden neu – mit einem Festgewand. Er umfängt ihn mit Vergebung. Gott stellt die Berührung her, er bittet zu Tisch, er schenkt dem Heimkehrenden Ansehen. Gott dient dem Menschen mit dem kompletten Umtausch. Und der Mensch merkt es daran, dass er sich umgestimmt fühlt. Wie das vor sich gehen kann für Sie und mich? – Gottes Dienst bekommt vielfach Gestalt: Da wird mir ein neuer Anfang geschenkt, ich höre das Wort der Vergebung, ich schmecke und sehe es bei Brot und Wein. Oder ich sehe, dass ein Kind in unserer Mitte getauft wird, dass der Mensch aus Gnade für recht erklärt wird – da werde ich an mein Getauftsein erinnert und gewiss: Ich gehöre zu Gott. Und es geschieht ja längst: Eine ganze Gemeinde ist versammelt zum Gottesdienst, hinter Gesichtsschutzmasken singen wir vorsichtig ein Lied, da entsteht in der Musik oder im freundlichen Blick der Mitchristin oder im Satz eines Gebets jene Berührung, so dass mir einleuchtet: Gott ist da in meinem Leben und nichts brauche ich zu fürchten. Das macht mich neu. Im Grunde meines Wesens bin ich vergnügt, erlöst, befreit. – Trägt es sich nicht gut, dieses Bewusstsein, dieses Vertrauen, der „neue Mensch“ an mir, wie ein neues, wunderschönes Kleid auf der Haut?
Wirkung des neuen Kleids – der LebenswandelNur scheinbar ist die Kleidung etwas Äußeres. Sie wirkt sich jedoch aus auf die innere Haltung. Auch in diesem Sinne machen Kleider Leute. Die Kleidung macht etwas aus mir nicht nur in den Augen Anderer. Sondern sie macht auch etwas mit mir selbst. Sie ruft eine Haltung hervor. In Anzug und Krawatte beispielsweise bewege ich mich anders als im Jogginganzug. Kleidung prägt das Verhalten. Ähnlich und noch viel mehr ist es, wenn Gottvertrauen mich umkleidet.
„Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit.“ Eine Daueraufgabe ist das. Vielleicht ist es mehr denn je eine Herausforderung gerade in unserer Zeit – in einer Zeit der digital gesteuerten Informationsauswahl und Meinungsbildung, in einer Zeit der Gereiztheit und der schrillen Töne in den Sozialen Medien, in einer Zeit der alternativen Fakten und der Verschwörungstheorien. Es geht nicht nur darum, das Lügen zu lassen, sondern die Wahrheit zu suchen und zur Sprache zu bringen. Wie sollte ich Gott vertrauen, ihm danken für mein Leben, ihn loben für den Morgen, ihn bitten um seinen Segen – und zugleich die Augen vor der Wahrheit verschließen oder den Mund halten, wenn die Verbreitung von Lügen das Leben Anderer erstickt? Der Verfasser des Epheserbriefs steht noch einmal neben uns und dringt leise, eindringlich an unser Ohr: „Schlüpft doch ganz hinein in das Kleid eines aufrichtigen, wahrhaftigen Redens miteinander!“
Ein zweites Beispiel für die Wirkungen des Kleiderwechsels: „Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr.“ Sicher würden viele Menschen für sich in Anspruch nehmen, ehrlich zu Besitz gekommen zu sein und keinen Diebstahl zu begehen. Dagegen schaut Greta Thunberg der Öffentlichkeit ins Gesicht und spricht für ihre Generation den Satz: „Ihr habt uns die Zukunft gestohlen!“ Dieser Diebstahl durch den fortgesetzten Verbrauch der Erde und des Lebens muss ein Ende haben. Und ich will bei mir anfangen, den ökologischen Fußabdruck zu verringern. Es verträgt sich nicht mit dem Kleid des neuen Menschen, die nächste Generation alt aussehen zu lassen und die Schultern zu zucken über deren gestohlene Zukunft.
„Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem anderen, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“ Stellen Sie sich einmal vor, wir würden das in die Praxis umsetzen. Malen Sie sich aus, von wem und mit wem Sie sich einen neuen Anfang wünschen. Oder machen Sie an dem Gedanken weiter, dass wir lernen, gewaltfrei zu kommunizieren, dass nicht der Eine die Andere herabsetzt, – und dass das Miteinander von dem aufrichtigen Bemühen erfüllt ist, sich selbst und einander zu verstehen! Je mehr wir verstehen, umso weniger werden wir urteilen. Je mehr wir verstehen, umso eher vergeben wir.
Ein letztes Mal stellt sich kluge Ratgeber des Kleiderwechsels neben uns und sagt: „Diese Bekleidung, dieses Leben aus der Vergebung Christi – es steht Euch wunderbar.“ Amen.
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