19. Sonntag nach Trinitatis (27. Oktober 2019)
Pfarrerin Barbara Vollmer, Bad Wurzach [barbara.vollmer@elkw.de]
Johannes 5, 1-16
5,1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.
2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen;
3 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.
5 Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank.
6 Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?
7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.
8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag.
10 Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen.
11 Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin!
12 Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?
13 Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war.
14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.
15 Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe.
16 Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.
IntentionIch möchte ermutigen: Not kann sich ändern, durch Eigeninitiative und Gemeinschaft.
Liebe Gemeinde,
es sind zwei Sätze, die mich an diesem Predigttext oder besser an der Heilungsgeschichte, die uns da erzählt wird, besonders bewegen.
Es ist die Frage Jesu: „Willst du gesund werden?“ Und es ist die Antwort des Kranken: „Herr, ich habe keinen Menschen.“
Willst du gesund werden?
Welch eine Frage. Der Mann, den Jesus dies fragt, ist seit 38 Jahren gelähmt. Nicht umsonst sitzt er an dem Teich, von dem man sich Heilung erhofft. Nicht nur er. In fünf Hallen liegen „Kranke, Lahme, Blinde und Ausgezehrte“. Und allesamt hoffen sie auf Heilung.
Einen davon nimmt Jesus in den Blick.
Es wird nichts davon berichtet, dass der Jesus angesprochen hätte. Nichts davon, dass er ihn um Heilung gebeten hätte. Jesus sieht ihn und stellt ihm diese merkwürdige Frage, die eigentlich keine Frage sein kann. Wie kann ein seit Ewigkeiten kranker Mensch nicht gesund werden wollen?
Oder gibt es das doch?
Was es gibt und was ich kenne, von mir und von anderen, ist dies: Man hat sich eingerichtet in einer misslichen Situation. Man lebt mit seinem Unglück. Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig. Selten hört man von Spontanheilungen bei schwersten Erkrankungen; es gibt sie, aber sie bleiben ein Wunder.
Ich weiß von Eltern, die ihrem schwerst geistig behinderten Kind einen Schulranzen gekauft haben. Sie meinen, wenn sie nur genug beten und glauben, kann das Kind in die Regelschule gehen. Mir wird das Herz schwer, wenn ich daran denke. Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagen dann manche. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass das Erhoffte eintritt, bewegt sich in diesem Fall Richtung Null.
Manchmal also, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als Krankheit zu akzeptieren; als die missliche Situation hinzunehmen, in der man steckt. Sie auszuhalten; das Beste draus zu machen.
Das Beste draus machenVielleicht kommt es darauf an: das Beste aus einer misslichen Situation zu machen.
Die Frage „Willst du gesund werden?" geht für mich in diese Richtung. Es ist die Frage nach dem eigenen Beitrag zur Genesung: „Was kannst du tun, damit du gesund wirst?“
Wenn es um körperliche Leiden geht, dann ist das gewiss keine leichte Frage. Es gibt Krankheiten, da hilft keine gesunde Ernährung und kein Fitness-Programm, und auch die besten Ärzte kommen mit ihrer Weisheit an ein Ende. Es wäre nicht recht, da einen eigenen Beitrag zur körperlichen Gesundung zu fordern. Darum kann es auch nicht gehen.
Es gibt aber unterschiedliche Möglichkeiten, mit Schwerem umzugehen, mit Krankheit, mit Trauer, mit Enttäuschung, mit Wut. Man kann sich darin einspinnen und lähmen lassen. Man kann aber auch nach Möglichkeiten suchen, sich aus dem Spinnennetz zu befreien. Man kann sich abschotten und im Kreis drehen, man kann Hilfe suchen und sich Hilfe holen; es gibt nicht nur Medikamente in der Apotheke – welch ein Glück, dass es die gibt – es gibt auch Strategien, die man erlernen kann. Sie helfen, mit Schwerem zurecht zu kommen. Es gibt professionelle Helfer/innen, mit denen man Auswege suchen kann. Es hilft, mit ihnen die eigene Situation anzusehen, Träume neu zu entdecken; Sehnsüchten ein Recht zu geben, Änderungen in den Blick zu nehmen.
Ich kenne viele, die mit ihrer Situation unglücklich sind – und sich nicht zutrauen, etwas zu ändern. Ich weiß auch, dass das alles nicht so einfach ist. Ich weiß aber auch, dass eine Änderung meist möglich wäre, wenn man nur den Mut hätte, aufzubrechen.
Den eigenen Weg gehenWillst du gesund werden?
Diese Frage geht für mich genau in die Richtung.
Hast du den Mut, das bekannte Unglück für ein unbekanntes Glück zu verlassen – und was bist du bereit, dafür einzusetzen? Wie viele „Wenn und Aber“ fallen dir ein, nichts zu ändern? Was willst du wirklich? Gesund werden oder krank bleiben?
Vor einiger Zeit haben wir im Predigttext gehört, dass Jesus – er war Anfang 30 – ein neues Leben anfing. Seine Mutter und seine Geschwister waren entsetzt. Sie hielten ihn für verrückt und wollten ihn zur Vernunft bringen. Er ließ sich nicht aufhalten. Er tat, was er tun musste. Gegen den Widerstand der eigenen Familie.
Und ja, es ist schwer, nicht zu tun, was andere von uns erwarten. Den eigenen Weg zu gehen, findet nicht uneingeschränkte Zustimmung, oft eher Unverständnis. Es braucht Mut, aber der innere Ruf, der eigene Weg ist immer der beste Weg.
Ich glaube, dass Jesus das anstoßen will mit diesem Satz: Was willst du? Gesund werden? Dann nimm (endlich) dein Bett und geh!
Es mag ungnädig klingen und ein bisschen drängend, wenn ich dies so formuliere. Natürlich weiß ich, dass ein Schock verdaut werden will und dass Trauer Zeit braucht. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es da kein einheitliches Zeitmaß gibt, auch kein falsch und kein richtig. Unter Umständen muss jemand lange in seiner Lähmung feststecken – 38 Jahre lang – aber wenn man weiß, dass man gesund werden will, dann ist Zeit zum Aufbruch.
„Herr, ich habe keinen Menschen“ – Einsamkeit lähmtDer Kranke in unserer Geschichte – so scheint es mir – zögert noch. „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt“, sagt er. Ist das jetzt eine Antwort auf die Frage Jesu?
Mir scheint es eher ein Hilferuf. Es ist ein – vielleicht lang schon nicht mehr ausgesprochener – Appell an die Mitmenschlichkeit; und es ist zugleich eine zutiefst menschliche Erfahrung: Wir brauchen andere Menschen; und um gesund zu sein, brauchen wir menschliche Gemeinschaft. Ein Gelähmter ist auf die Unterstützung anderer angewiesen. Eine Trauernde braucht ein offenes Ohr, damit sie nicht in Trauer erstarrt. Ein Verzweifelter braucht menschliche Wärme, damit er sich selber spürt; eine Einsame braucht Wegbegleiter.
„Einsamkeit macht unglücklich“ – Eckart von Hirschhausen hat es neulich in einer Fernsehsendung so oft wiederholt, dass mir ganz bange wurde um die vielen Menschen, die heute allein leben. Ja, und viele davon sind tatsächlich einsam.
Unüberhörbar in dieser permanenten Wiederholung war der Appell: Wenn du einsam bist, dann such dir Gesellschaft, sonst wirst du unglücklich. Mach dich zu den anderen auf, denn von allein kommt dir niemand ins Haus.
Ja, ich glaube es stimmt: Wer Gesellschaft will, muss auf die Leute zugehen. Willst du gesund werden? Dann mach dich auf.
Es stimmt aber auch: Wer einsam ist, traurig, hilfsbedürftig oder krank, hat gerade dazu manchmal kaum Kraft.
Trauerklöße werden gemieden; und wer ins Unglück geraten ist, gerät allzu gern auch in Vergessenheit.
Deshalb rührt mich der Satz des Gelähmten: „Herr, ich habe keinen Menschen“ – so wird es wohl gewesen sein, und er scheint die Hoffnung auch aufgegeben zu haben: Er sitzt in einer der fünf Hallen am Teich Bethesda, und nichts wird darüber gesagt, dass er Jesus um Hilfe gebeten hätte.
Gemeinschaft hilftAber Jesus sieht ihn.
Wir hören, dass der Mann gesund wird. Nach 38 Jahren Lähmung.
Wie das zuging, wird nicht ausdrücklich berichtet.
Ich aber glaube, dass es damit zu tun hat, dass Jesus ihn ansah. Ich glaube, dass es damit zu tun hat, dass er, der keinen Menschen hatte, wahrgenommen wurde.
Ich glaube, dass es damit zu tun hat, dass der Satz „Ich habe keinen Menschen“ nun gar nicht mehr stimmte. Der Menschensohn selbst wird dem Gelähmten zum Mitmenschen. Ich glaube, dass Mitmenschlichkeit und menschliche Gesellschaft uns gesund machen können, wie krank wir auch sein mögen.
So ist die Geschichte vom Gelähmten am Teich Bethesda nicht nur eine wunderhafte Heilungsgeschichte, sie erzählt uns auch, dass Gemeinschaft gesund macht und Menschen hilft, ihre Lähmung zu überwinden und gesund zu werden.
So ist dieses Geschichte auch ein Appell an unsere Mitmenschlichkeit. Nach Jesu Vorbild. Amen.
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