18. Sonntag nach Trinitatis (08. Oktober 2023)
2. Mose 20,1–17
IntentionDie Predigt greift die Frage nach der ethischen Kraft auf. Sie aktualisiert die Beziehungs- und Befreiungserfahrung, die die sogenannte „Dekalogpräambel“ dem Volk Gottes zuspricht, mit der Absicht, dass die Predigthörerinnen und -hörer im Tun des Guten gestärkt und dazu bewegt werden.
"Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat." (2. Mose 20,1–17)
Wahre Einsichten, richtige Regeln – und die fehlende KraftLiebe Gemeinde, manchmal hat man das Gefühl: Es geht auch ohne Gebote. Manchmal passt alles. Zum Beispiel im Garten. Dort arbeite ich gerne. Der Geruch von gärendem Fallobst und feuchtem Laub liegt jetzt in der Luft. Fröhlich schaffe ich Ordnung. Was ich da mache und wer ich bin, geschieht im vollen Einvernehmen mit mir. Auch mit den Mitmenschen: Am Zaun begegnen mir nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft, Passanten grüßen freundlich auf ihrem Weg zum samstäglichen Markt, das gute Miteinander im Quartier trägt Früchte. Das Leben ist für den Moment in jeder Beziehung stimmig. Herbstmildes Gottvertrauen und Dankbarkeit wärmen mich. Im Garten geht es auch ohne Gebote. Schön ist das.
Und selten. Denn der Alltag ist voll von „Du sollst“ und „Du sollst nicht“. Kinder erleben es so im Klassenzimmer und auf dem Pausenhof, oft auch daheim. Uns Erwachsenen geht es ähnlich: im Beruf, im Ehrenamt, im Umgang mit der eigenen Gesundheit und mit den Ressourcen der Erde. Jetzt im Oktober haben wir als Wohlstandsgesellschaft fast das Doppelte von dem verbraucht, was innerhalb eines Jahres auf der Erde nachwachsen kann. Wir wissen es.
Wir wissen auch vom Ende der Gletscher und Eisberge, wir spürten die Hitze im Sommer und sahen mehr Wälder brennen als je zuvor. Ändern wir unser Reise-, Verkehrs- und Freizeitverhalten? Zähmen wir den Wachstum-, Konsum- und Energiehunger? Viel zitiert wird Roman Herzogs Satz aus dem Jahr 1997: „Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“ Wir haben wahre Einsichten, aber sie bleiben oft folgenlos. Wir haben die Lösungsansätze im Kopf, aber sie kriegen kaum Hand und Fuß. Wir denken „man müsste was ändern“, aber nehmen uns aus. Wir haben eine Fülle von Vorschriften, voll guter Einsichten und Absichten, aber wir schleichen um sie herum. Wir hören auch die Zehn Gebote, aber wir kriegen eher Bedenken oder ein unruhiges Gewissen als Freude und Kraft, sie zu befolgen. Manchmal hat man das Gefühl: Es geht auch mit den Geboten nicht wirklich gut, jedenfalls nicht mit Verboten und Vorschriften allein.
Die Beziehungs- und Befreiungserfahrung schlechthin – Quelle der KraftDabei schließen die Zehn Gebote etwas ein, was viele Menschen heute als das Gebot der Stunde sehen: nicht töten, nicht zerstören, das Leben schützen, auch das Klima, die Wälder, die Vielfalt der Arten. Aber wie kommen wir in die Umsetzung? Woher kriegen wir die Kraft, dass nicht immer weiter getötet, gestohlen, gelogen, gelästert und Zukunft zerstört wird auf der Erde? Darüber hinaus wirft der erste Teil der Zehn Gebote die Frage auf: Wie komme ich mit Gott ins Reine? Wie halte ich’s mit der Religion überhaupt?
Die Zehn Gebote fangen mit einer guten Erfahrung an. Gott bringt sich in Erinnerung. „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten, aus der Knechtschaft geführt habe“, heißt es an die Israeliten. Sie werden angesprochen. Und sie sind frei. Sie sind aus der Sklaverei errettet worden. Das ist eine gute Erfahrung gewesen. Es ist die Voraussetzung, um wirklich zu leben und nicht nur fremdbestimmt zu funktionieren.
Bei aller Freiheit aber sind die Israeliten noch nicht im gelobten Land. Erst einmal finden sie sich in der Wüste wieder. So wird es im zweiten Mosebuch berichtet. Es erzählt vom Wandern in der Wüste. Die Wüste raubt den befreiten Menschen die Orientierung. Wo geht es weiter? Was werden wir essen? Woher kriegen wir Wasser? Sollten wir nicht besser zurück? Die Freiheit bringt Ängste mit sich und Not. Die Leute sind verunsichert, erschöpft und gereizt. Fast gehen sie in der Wüste verloren. Am Berg Sinai sammeln sie sich. Gott tritt in Erscheinung und spricht zu Mose. Der übergibt dem Volk die Zehn Gebote. So verbindet sich Gott mit seinem Volk. Gott richtet ein, was später „Sinai-Bund“ heißt.
Auch „Zehn Gebote“ heißt es erst später. In der Bibel steht wörtlich „Zehn-Wort“ (5. Mose 4,13; 10,4). Und das Zehn-Wort hat ein Vor-Wort. Es ist dieser Satz: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten, aus der Knechtschaft geführt habe.“ Diese Erinnerung: Jetzt bist du frei. Jetzt lebst du. Und du bist nicht nur frei von jeder Gefangenschaft. Viel mehr: Du bist frei zu einem Leben für Gott.
Frei sein will jede und jeder. Kinder auf der Klassenfahrt jubeln: Hier ist freies WLAN – aber schon starren sie auf ihre Smartphones wie ferngesteuert. Hoch im Ansehen stehen die persönliche Freiheit und Autonomie, zu Recht. Aber Selbstbestimmung kann zum Fluch der pausenlosen Selbstoptimierung werden, vom Anfang bis zum Ende des Lebens. Mit der uneingeschränkten Freiheit „an sich“ landet man schnell in der Wüste, in Orientierungslosigkeit, hitzeflimmernden Trugbildern und unabsehbaren Folgen. Der Mensch verliert sich. Er verliert jedes Maß. Er verliert jedes Verhältnis zu Gott und zu seinen Mitmenschen.
Das Vor-Wort zum Zehn-Wort ruft eine einzigartige Erfahrung wach: Gott schenkt seinem Volk die Freiheit – und bringt sich selbst in Beziehung zu ihm! Er spricht die Befreiung aus – und schafft Verbundenheit! Wir hören es heute mit und sind mit angesprochen von den Worten: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten, aus der Knechtschaft, aus dem Gefangen-Sein geführt habe. Du bist frei. Und ich bin jetzt im Gespräch mit dir. Du mit deinen Mitmenschen ja auch. Du bist also in guten Verhältnissen frei! Im Einvernehmen mit dir, mit deinen Mitmenschen und mit einem herbstmilden Gottvertrauen. Ahnst du das? Freust du dich?“
Zuversichtlich und frei – in geordneten VerhältnissenIn dieser Freiheit und Freude kommt mir das Zehn-Wort frisch zu Ohren. Gerade der ursprüngliche, urtextliche Klang der Zehn Gebote stimmt mich zuversichtlich. Denn in den Verbformen des hebräischen Urtextes schwingt das Futur mit. Nicht „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ heißt es, sondern „Du wirst“ und „Du wirst nicht“. Das hat Zukunft, liebe Gemeinde. Diese Zuversicht ruft eine hellere, verlässlichere Zukunft hervor als jeder Appell. Es erfrischt, die Zehn Gebote so zu hören:
Ich bin der Herr, dein Gott … Du wirst keine anderen Götter haben neben mir. Du brauchst nicht um die goldenen Kälber mitzutanzen. Schluss auch mit den Bildnissen und den Besitztümern, von denen du meintest, du müsstest sie haben. Dabei „hatten“ sie dich, hatten dich in ihrer Gewalt. Vorbei! Du wirst keine anderen Götter neben mir haben. Du wirst Tag um Tag frei, vertrauensvoll, großzügig.
Du wirst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Du durchschaust, dass Menschen Gott für ihre eigenen Zwecke im Munde geführt haben. Du weißt es aus der Geschichte. Und du spürst die Enge, wenn Christen die Gemeinden so abgrenzen und Gott eingrenzen, dass sie nur sich selbst bestätigen. An dir wirst du es rechtzeitig merken, solltest du je im Begriff sein, Gott bloß als Erfüllungsgehilfen deiner Wünsche anzurufen. Du wirst den Namen Gottes nicht missbrauchen.
Du wirst den Sabbattag heiligen. Das macht dich richtig froh. Viele sind nämlich damit überfordert, sich den Ruhetag selbst zu erlauben – und vor sich und anderen zu rechtfertigen. Vielleicht atmet der Sonntag auch für dich mehr Güte, wenn du Pause machen sollst und „wirst“, als wenn du Pause machen darfst und lange überlegst, ob du Pause machen kannst. – Wie wäre das? Du wirst den Sonntag feiern. Du wirst Ruhe haben und Ruhe geben. Gott zum Lob, dir zum Segen.
Du wirst Vater und Mutter ehren. Vielleicht liest du dazu in Helga Schuberts schönem Buch „Aufstehen“, dass es „ehren“ heißt. Nicht etwa „lieben“ müssen, wie Helga Schubert ein Leben lang dachte und darüber schier verzweifelte. Auch nicht retten. Nicht heilen. Aber falls die alten Eltern schwierig werden, wirst du sie ehren. Du wirst den bedürftig Gewordenen wohltun und geben, was nottut.
Du wirst nicht töten. Nimmst du denn nicht deinen eigenen Augen ihr Licht, wenn du jemandem vernichtende Blicke zuwirfst? Wie viele Kräfte verschlingt es erst, wenn du Worte zu Waffen schmiedest? Du wirst also deine Zunge nicht durch Rufmord spalten. Schon gar nicht willst du dein Leben auf Kosten anderen Lebens führen. Wo du also ahnst, dass du durch deine Lebensweise anderen Menschen ein Stück ihres Lebens nimmst, da bist du so frei, dich zu ändern. – Du zagst und sagst: „So einfach geht es nicht! So viel wäre zu sagen zu den Kriegen, zur Weltwirtschaft und unseren Verstrickungen darin.“ Ja, zu jedem weiteren Gebot wäre noch so viel zu sagen.
Nicht jetzt. Nicht alles zugleich. Der Anfang ist gemacht, wie gut. Denn heute hast du das Vor-Wort gehört: Der Herr, dein Gott, hat dich herausgeführt aus dem Gefangen-Sein, auch aus dem Zwang zur Vollständigkeit. Du bist „vergnügt, erlöst, befreit“ (H. D. Hüsch). – Heute hast du das Zehn-Wort zumindest in Teilen frisch vernommen: Du wirst den Sabbattag heiligen, du wirst den Sonntag feiern, du tust es gerade. – Also darf heute das Schluss-Wort heißen: Du wirst es nun gut sein lassen. Amen.
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