18. Sonntag nach Trinitatis (11. Oktober 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrerin i.R. Monika Schnaitmann, Tübingen [G.Schnaitmann@gmail.com ]

5. Mose 30, 11-14

IntentionIm Herzen entscheidet sich Wesentliches. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ (Saint-Exupéry). Gott kommt Menschen nah in seinem Wort. In Christus ist er unserem Herzen nah – und traut uns den Weg der Liebe zu.

Ganz nahe ist das Wort Gottes dem HerzenUms Herz geht es in unserem Predigttext am 18. Sontag nach Trinitatis. Ums Herz, um Gottes Wort, um die Liebe Gottes, um die Liebe, die wir einander schenken sollen.
Dazu eine Geschichte. Sie ist einem Buch entnommen, das vielen Erwachsenen bekannt ist: „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Der kleine Prinz ist aber nicht nur ein Buch für Erwachsene. Saint-Exupéry schreibt in seiner Widmung: „Alle großen Leute sind einmal Kinder gewesen, aber wenige erinnern sich daran. Also bin ich sicher, dass die Kinder die Aussagen dieser Geschichte vielleicht oft sogar besser verstehen als wir Erwachsene.“ Die Geschichte erzählt also vom kleinen Prinzen, der auf einem kleinen Planeten zuhause ist, wo er eine Rose, die er mit viel Liebe gepflegt hat, zurücklässt. Auf seiner Reise macht er viele Begegnungen. Als er zu unserer Erde kommt, sieht er nicht nur eine Rose, sondern viele wunderschöne Rosen. Er ist traurig. Doch ein Fuchs, mit dem er Freundschaft schließt, verrät ihm sein Geheimnis. „Adieu“, sagte der Fuchs „hier ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig. Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen. Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ „Du bist zeitlebens für deine Rose verantwortlich“, wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken.

Das Herz, der Ausgangspunkt allen menschlichen TunsWie viele Redewendungen und Sprichwörter drehen sich um unser Herz – fröhliche und traurige, befreiende und belastende: Da geht dem Einem das Herz über, weil er sein Herz verschenkt hat oder ihm eines geschenkt wurde. Der Anderen ist das Herz schwer, weil ihr etwas auf dem Herzen liegt. Da fällt plötzlich ein Stein vom Herzen, weil man sein Herz ausschütten konnte. Jener macht aus ihm eine Mördergrube, weil er es nicht über das Herz bringen kann, auf den anderen zuzugehen. Man hat etwas auf dem Herzen oder das Herz auf der Zunge. Menschen können ein großes und weites Herz haben, aber auch ein dunkles und enges. Da schlägt das Herz bis zum Hals, oder man geht herzlich aufeinander zu. Und schließlich gibt es das auch: das Herz aus Stein. Wenn wir begreifen, dass das Herz der Ausgangspunkt ist für alles menschliche Tun, dann ist es logisch, dass Gott seine Gebote, seine Worte in unser Herz hineinschreiben will. Denn im Herzen entscheidet sich Wesentliches. Davon erzählt unser Predigttext aus dem 5. Buch Mose, Kapitel 30, 11–14:

„Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“

Das 5. Buch Mose ist eine einzige lange Abschiedspredigt, denn Mose wird das Volk nicht mehr weiter führen und begleiten. Vielmehr ist er zum Sterben in der Wüste zurückgeblieben. Zum Abschluss fragt er die Israeliten: Wollt ihr dabei bleiben, die Erbschaft annehmen, zusammen mit Gott gehen, ja oder nein? Wählt selbst! Hier sind meine letzten Worte, die Erbschaft, das, worauf es wirklich ankommt: Gott spricht Menschen ins Herz, zeigt, dass sein Wort nicht kompliziert, unzugänglich und lebensfern, weder zu hoch noch zu tief ist. Es ist verständlich und ins Herz zu schließen.

Ganz nahe ist das Wort Gottes dem HerzenZuallererst gibt uns dieses Wort Zuspruch und Mut. Dann erst nimmt es uns in die Pflicht. Zuallererst umgibt uns dieses Wort mit Liebe. Dann erst fordert und mahnt es uns.
Zuallererst nimmt es uns so, wie wir sind. Und dann erst befreit es uns dazu, ein Anderer zu werden „Woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott“, hat Martin Luther gesagt. Der Satz kann eine Warnung sein. Zugleich birgt er eine große Verheißung: Da, wo du dich „von Herzen“ einlässt; da, wo du dich mit deiner ganzen Person in gutem Sinne engagierst – da begegnest du Gott.

Das Herz: der Ort tiefer Verblendung und des Hasses, tiefer Liebe und der MenschlichkeitDas Herz kann ein Ort tiefer Verblendung und des Hasses sein. Ich denke an die Wiederkehr eines engstirnigen Nationalismus, oft verbunden mit Rassismus, wichtige Abrüstungs- und Deeskalationsverträge werden mit einem Federstrich gekündigt. Handelskriege, Amokläufe, Rechtsradikalismus, die vom Menschen verursachte Klimakatastrophe, fremdenfeindliche Übergriffe und Morde.
Das Herz aber auch der Ort tiefer Liebe und Menschlichkeit. Mit dem Corona-Virus ist etwas über uns gekommen, das unser Leben in so kurzer Zeit so radikal verändert, dass die Seele kaum nachzukommen weiß. Wir machten und machen in diesen Wochen und Monaten die Erfahrung, dass in vielen Menschen das Beste wachgerüttelt wird, was in ihnen steckt. Menschen, die Mitgefühl zeigen, füreinander sorgen, die zusammenhalten, die sich auf das besinnen, was wirklich wichtig ist. Menschen, die auch keinen Unterschied machen zwischen Geflüchteten und Einheimischen. Wenn einer für den Nachbarn einkaufen geht, einen freiwilligen Dienst tut in einem Pflegeheim mit Musik im Garten und anderen Darbietungen. Wenn allerorten Verkäuferinnen die Regale auffüllen und an der Kasse sitzen mit Mundschutz und hinter Plexiglas. Wenn andere denen danken, die jetzt in Krankenhäusern Dienste tun, um Leben zu retten. Und es bleibt zu hoffen angesichts der unfassbaren menschlichen Katastrophe in Moria, dass – wie 2015 – viele Gemeinden und Städte die Geflüchteten mit offenen Armen empfangen.
Und gerade deshalb klingt für mich unser Predigttext hoffnungsvoll und tröstlich. Was wichtig und lebensförderlich ist, ist nicht fern und nicht schwer zu erreichen. Es ist nahe bei dir, in dir, in Mund und Herz. Jede Diskussion in Sachen Klimaveränderung, Erhaltung der Schöpfung, Geltung der Menschenrechte trägt mit dazu bei, die Herzen zu bewegen.

In Christus kommt Gott uns mit seinem eigenen Herzen nahIn Jesus Christus ist sein Wort vielmehr für dich vom Himmel herunter- und schließlich aus dem Grab hervorgekommen und ist so nahe bei dir und deinem Nächsten. Gottes Wort ist Mensch geworden. So viele Gleichnisse erzählen davon.
Da ist der verlorene Sohn, der sich sein Erbe auszahlen lässt. Der Vater lässt ihn los, er lässt ihn ziehen. Doch in der Fremde verprasst er sein Erbe. Verzweifelt und in bitterster Armut kehrt er zu seinem Vater heim, will bei ihm als Tagelöhner arbeiten. Aber der Vater empfängt ihn mit offenen Armen ohne Vorwürfe – mit weitem Herzen. Wie mag dem Sohn ein Stein vom Herzen gefallen sein! Dessen Bruder ist noch nicht so weit. Er macht aus seinem Herzen eine Mördergrube, wirft dem Vater sein Verhalten vor. Doch der wendet sich auch ihm zu. Er verurteilt nicht sein engherziges Verhalten, sondern ermutigt ihn, sich über die Heimkehr des Bruders zu freuen und mitzufeiern.
Wir kennen auch Zachäus, den kleinen, verhassten Zöllner, der auf einen Baum klettert, damit er Jesus sehen kann. Aber Jesus holt ihn herunter von seinem Baum und ist Gast in seinem Haus. Die Leute ärgern sich. Aber Jesus geht mit keinem Wort darauf ein. Er lässt die Leute einfach reden. Wie es nach der Begegnung am Baum im Hause des Zachäus zugegangen ist, wird mit keinem Wort erzählt. Doch am Ende verspricht Zachäus: Die Hälfte von meinem Reichtum will ich den Armen geben. Und dann fügt er noch hinzu: Wenn dann zusätzlich noch irgendwo etwas Unrechtes geschehen ist, dann will ich dieses Unrecht vierfach gutmachen. Das war die juristische Regel: Unrechtes Gut vierfach zurückerstatten. Was mag da wohl passiert sein im Haus und im Herzen des Zachäus? Wir wissen es nicht. Wir kennen nur das Ergebnis: Aus einem kleinen pfiffigen Egoisten mit einer Geiz-ist-geil-Mentalität ist in der Begegnung mit Jesus ein Mann geworden mit einem großen und weiten Herzen.
Gott vertraut uns einander an und er traut uns den Weg der Liebe zu, denn – es ist ganz einfach: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ „Die Menschen“, sagte der Fuchs, „haben diese Wahrheit vergessen.“
Nein, sagt Mose, wir haben sie nicht vergessen. Gott hat uns sein Wort und seine Gebote ans Herz gelegt: Wir sind zeitlebens für das verantwortlich, was er uns anvertraut hat. Und wenn ein totes Herz neues Leben gewinnt, weil Gott unser Menschenherz kennt und um unsere Tränen weiß, dann können wir mit Paul Gerhardt singen:
„Wohlauf, mein Herze, sing und spring, und habe guten Mut! Dein Gott, der Ursprung aller Ding, ist selbst und bleibt dein Gut.“ (EG 324,13).
„Von Herzen“: Amen.

Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus:
Predigt über 5. Mose 30,11–14 im Schlussgottesdienst des Ehrenamtlichentags am 27. August 2016 in Hannover von Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen;
Zeitzeichen Nr.9 Klartext von Pfarrerin Dorotheee Löhr, Mannheim;
Deutsches Pfarrerblatt, Predigtimpuls von Michael Karg.


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