17. Sonntag nach Trinitatis (09. Oktober 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Eberhard Grötzinger, Stuttgart-Weilimdorf [e.groetzinger@vodafone.de]

Jesaja 49,1–6

IntentionWir Christen werden in Zukunft eine Minderheit in der deutschen Gesellschaft sein. Das macht Angst. Verzweifelt versuchen wir gegenzusteuern – mit mehr oder weniger Erfolg. Noch immer lassen wir uns von dem Satz leiten: „Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit zu tun.“ Der Satz klingt fromm. Aber zum Glück stimmt er nicht! Dafür gibt es sowohl im Alten wie im Neuen Testament viele Gegenbeispiele. Gott gibt uns zwar einen Auftrag. Aber er ist auf uns nicht angewiesen! Das ist für mich ein großer Trost. Dies möchte ich in meiner Predigt den Zuhörern vermitteln.

49,1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. 3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. 4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott.
5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, 6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.

EinleitungUnsere Welt ist nicht mehr die Welt der Bibel. Viele unserer Probleme hatten die Menschen der Bibel damals noch nicht. Und viele der Probleme, mit denen sie tagtäglich zu kämpfen hatten, spielen heute zumindest in unseren Breiten keine Rolle mehr.
Und doch finden sich in der Bibel erstaunliche Parallelen zwischen der damaligen und unserer heutigen Welt. Sie betreffen – neben anderen – auch das Verhältnis zu Gott. Genauer gesagt: zu dem Gott der Bibel, zu dem unsichtbaren und doch allgegenwärtigen. Zu dem Gott, auf den viele, aber längst nicht alle damals vertraut haben, obwohl sie so wenig wie wir verstehen konnten, weshalb er so viel Leid und Unrecht zulässt in der Welt. Warum konnten sie es? Vermutlich, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass er ihnen in ihrer Ohnmacht Kraft gab – und die Mächtigen am Ende leer ausgehen ließ.
Wer an diesen Gott glaubt, der hat es oft schwer, dass man ihn versteht. Damals und heute. Denn das ist in der Welt gleich geblieben, dass oft nur der sichtbare Erfolg zählt. Dass Geld, Macht und Ansehen eine magische Gewalt über uns ausüben können. Und dass die lauten Stimmen, die uns Glück versprechen, nur allzu häufig die leisen Töne übertönen, mit denen Gott um unser Vertrauen wirbt und uns innere Kraft und Stärke gibt.
Der Text, der uns am heutigen Sonntag zur Betrachtung vorgelegt wird, stammt von einem namentlich unbekannten Propheten aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Er hatte große Pläne. Er fühlte sich berufen, sein Volk, das in jener Zeit im babylonischen Reich im Exil lebte, in die alte Heimat zurückzuführen, damit es dort wieder ungestört in der Tradition des alten Glaubens an den Gott Israels leben und so als Volk erneut zusammenfinden könne. Was war geschehen?

Die Situation des Volkes Israel damalsIm Kampf zweier Großmächte um die Vormacht war das kleine Königreich Juda zerrieben worden. Mehr als eineinhalb Jahre hatten die Truppen des babylonischen Großkönigs Jerusalem belagert. Die Einwohner leisteten erbitterten Widerstand. Doch schließlich mussten sie sich ergeben. Die Eroberer nahmen furchtbare Rache. Sie zerstörten die ganze Stadt, dabei auch den Palast des Königs und den prächtigen Tempel, den Salomo einst hatte erbauen lassen. Die gesamte Oberschicht: Priester und Beamte, Kaufleute und Handwerker mussten mit ihren Familien das Land verlassen. Sie wurden nach Babylonien umgesiedelt. Nur wenige arme Leute blieben zurück. Der Staat Juda war ausgelöscht.
Als der Prophet seine Stimme erhob, war die Katastrophe des Untergangs Judas schon rund fünfzig Jahre her. Im Exil waren die Israeliten jedoch nicht untätig geblieben. Die Priester schrieben die religiösen Bräuche und Vorschriften auf, die in der alten Heimat gegolten hatten. Sie sammelten die Erzählungen über die Geschehnisse in Israels Frühzeit. Kaufleute und Handwerker fanden neue Arbeit. Und das fruchtbare Zweistromland bot für die Siedler reichlich Nahrung. Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit. Da waren inzwischen die Alten gestorben, die in der Heimat noch den Ton angegeben hatten. Nun waren die Söhne der Exilanten oder auch schon die Enkel am Ruder. So verblasste die Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit immer mehr, und der Einfluss der fremden Kultur auf das Denken und Handeln wuchs von Generation zu Generation.
Doch dann geschah, was niemand zuvor für möglich gehalten hatte. Das mächtige babylonische Reich fiel im Kampf gegen sein Nachbarland Persien. Kyrus, der König der Meder und Perser, zog als neuer Herrscher im Triumphzug in Babylon ein. Bereits ein Jahr später erlaubte er den Juden die Rückkehr in ihre Heimat.
In den frommen Familien, in denen der Glaube an den Gott der Väter treu bewahrt worden war, atmete man auf. Für sie ging mit der Aussicht auf eine Rückkehr ein Traum in Erfüllung. Voller Begeisterung und voller Hoffnung bereiteten sie sich auf den beschwerlichen Marsch in die alte Heimat vor. Doch eine breite Schicht der Bevölkerung wollte lieber im fremden Land bleiben. Wir wissen nicht, was genau ihre Bedenken waren. Fiel es ihnen schwer, aufzugeben, was sie in der Fremde erreicht hatten? Oder fürchteten sie sich vor der Mammutaufgabe, das zerstörte Land in der Heimat der Vorfahren mühsam wieder aufzubauen?

Die Situation des ProphetenMit flammenden Reden versuchte der Prophet, die Zögerlichen zu gewinnen. Für ihn war die Rückkehr in die Heimat viel mehr als nur ein Ortswechsel. Es war ein Neuanfang, die grandiose Vision einer umfassenden religiösen Erneuerung. Die Stadt und der Tempel von Jerusalem sollten wieder in altem Glanz erstrahlen. Und in der Verehrung des Gottes der Väter sollten sich alle aufs Neue als ein einiges Volk zusammenfinden. Ein großartiges Vorhaben, für das der Prophet mit ganzer Leidenschaft warb!
Da war es für ihn äußerst frustrierend, dass sein Appell, den Aufbruch in die Heimat zu wagen, trotz allen rhetorischen Bemühungen bei vielen im Volk auf wenig Gegenliebe stieß. Es war doch nicht seine eigene Idee! Es war doch, so war er überzeugt, seine Berufung, ein Auftrag, den Gott ihm gegeben hatte:

„Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.“

Wie gut können wir das verstehen! Dem Frust des Propheten entspricht heute, wenn kirchlich engagierte Eltern darüber enttäuscht sind, dass sich ihre Kinder, sobald sie erwachsen sind, distanziert zur Kirche verhalten oder gar aus ihr austreten. Oder die Enttäuschung der Verantwortlichen einer Kirchengemeinde, wenn sie erleben, dass ihre Angebote immer nur eine begrenzte Zahl erreichen, nicht aber die breite Masse derer, die doch nominell auch zur Gemeinde gehören. Sie, denen der Glaube am Herzen liegt, werden wohl manchmal bei sich denken: „Ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst!“

Der erweiterte HorizontDass die eigene Arbeit umsonst war, gibt man Anderen gegenüber nur ungern zu. Es ist schon erstaunlich, wie offen der unbekannte Prophet damals davon redete. Er tat es wohl auch nur deshalb, weil er in einer Phase der Resignation angesichts der Erfolglosigkeit seines Tuns ein Gotteswort gehört hatte, das ihm wieder Mut machte:

„Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem Herrn wertgeachtet und mein Gott ist meine Stärke. Er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.“

Mit diesem Wort weitet sich plötzlich der Horizont: Ging es dem Propheten stets nur um ein Vorhaben, das im Besonderen das Volk Israel betraf, so kommen darüber hinaus auch andere Menschen in den Blick, die nicht zu seinem Volk gehören. Er versteht seinen Auftrag neu: Für alle soll durch ihn Licht in ihr Leben kommen. Alle Menschen dieser Erde sollen teilhaben am gnädigen Willen Gottes und Heil erfahren.
Wie kann das sein? Er hat doch eben seine Erfolglosigkeit beklagt! Das ist nur möglich, wenn sich der Erfolg seiner Mission trotz seines Misserfolgs einstellt. Denn dann zeigt sich, dass es Gott selber ist, der seiner Sache zum Sieg verhilft. Er tut es nicht nur bei denen, die sich zur Rückkehr in die alte Heimat bewegen lassen. Er tut es auch bei denen, die in der Diaspora verbleiben und an ihrem Ort für andere zum Segen werden.
Dafür gibt die Geschichte des Volkes Israel ein lehrreiches Beispiel. Denn die Situation der Diaspora blieb nach dem babylonischen Exil bestehen, auch wenn viele Familien sich auf den Weg in die Heimat machten, dort die Stadt und den Tempel wieder aufbauten und das religiöse Leben in der Heimat einen beachtlichen Aufschwung nahm. Das Volk der Juden siedelte sich in allen Ländern rund um das Mittelmeer an. Aber sie versammelten sich dort in Synagogen, lasen die Tora und übersetzten sie in die griechische Sprache. Wer immer von ihnen auf die Stimme des unsichtbaren Gottes hörte, der spürte ebenso deutlich wie in der Heimat die Kraft des Glaubens an seine Macht.
Es ist sicherlich wichtig und gut, wenn wir uns nach Kräften einsetzen für unsere Gemeinde und darüber hinaus für unsere Kirche. Aber wenn wir in Deutschland in eine Situation geraten, in der die Christen in der Minderheit sind, dann ist Gott noch lange nicht verloren. Er benützt uns zwar als seine Boten, als seine Mitarbeiter. Aber er ist auf uns nicht angewiesen! Er geht seine eigenen Wege und denkt weiter als wir in unserem begrenzten kirchlichen Horizont. Er hat alle im Blick, die Christen und die Nicht-Christen. Keinem von uns ist er fern. Und jeden ruft er zu sich, um den Horizont seines Lebens zu erweitern durch das Licht seiner Gnade. Amen.


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