16. Sonntag nach Trinitatis (20. September 2015)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Simone Straub, Stuttgart [simone.straub@elkw.de ]

Johannes 11, 1-4; 11, 17-45

Liebe Gemeinde,
„O Tod, wo ist dein Stachel nun? Gott sei Dank, der uns den Sieg so herrlich hat in diesem Krieg durch Jesus Christ gegeben!“ (EG 113,1).
Diese Worte haben wir gerade gesungen und uns vielleicht gewundert: Von welchem Krieg ist die Rede? Vom letzten Kampf ist die Rede. Vom Kampf, der immer gekämpft wird und doch ist die Schlacht bereits entschieden: der Kampf zwischen dem lebendigen Gott und dem teuflischen Tod. Dem Kampf zwischen Wärme auf der einen und Finsternis auf der anderen Seite. Jesus ist der Held, der den Tod triumphal entwaffnet – wo ist dein Stachel nun, Tod?! – ihn besiegt und blamiert, ihn mit abgeknickten Stachel in die Schranken weist.
Wie sollen wir das glauben? Uns ist nicht nach jubelndem Triumph zumute, wenn wir Erfahrungen mit dem Tod machen. Er ist noch da, der Stachel, und er schmerzt sehr.
Unser heutiger Predigttext berichtet von Lazarus. Ich lese: Johannes 11,1-4.17-27.40-45.

Ein Beispiel von Jesu erfolgreichen Kampf gegen den Tod ist diese Geschichte. Jesus auferweckt Lazarus, den der Tod doch schon so sicher in seinem Reich geglaubt hatte.
Eine unheimlich-schaurige Geschichte, die gerne dramatisch dargestellt wird, wie der leichenblasse Lazarus dem Ruf Jesu folgt „Lazarus, komm heraus!“ und aus seinem Höhlengrab unsicher aufersteht.
Diese Erzählung der Macht Jesu über den Tod hat viele Schichten und Aspekte.

Der Tod in der FamilieEine junge Familie muss den Tod der Tochter erleben. Keine offensichtliche Auferstehungsgeschichte wie bei Lazarus. Sondern eine Geschichte mit viel Trauer und Entsetzen, Erschütterung und vielen Fragen. Das Kind stirbt im Alter von drei Jahren an einem schweren Herzfehler. Der Vater schreibt und erzählt immer neu von der Zeit des Abschieds.
Er erinnert sich kaum an die ersten Tagen nach dem Tod der Tochter.

Er weiß aber, dass die Lazarusgeschichte ihm in dieser Zeit in den Sinn kam. Zwei Dinge sind ihm damals aufgefallen: Ihn berührte der Satz der Martha: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“ (Johannes 11,21).
Das sei ihm nicht in den Sinn gekommen, das erwartete er nicht von Jesus, nicht unmittelbar im Schreck der Todesnachricht und auch später nicht. So hat er es später formuliert.

Die zweite Sache, die ihm nachgegangen ist: die Auferweckung des Lazarus selber. Wo fängt sie eigentlich an? Wo nimmt die Geschichte ihre heilvolle Wendung zum Leben? Jesus geht vier Tage nach Lazarus Tod zum Grab, und weist an: Rollt den Stein weg!
Der Vater schreibt: „Vier Tage nach Lauras Tod haben wir sie bereits beerdigt. Das eigene Kind zu bestatten ist Schwerstarbeit, seelische Schwerstarbeit. Kaum zu tragen. Meine Erschöpfung klang erst sehr viele Monate später ab. Es war so wichtig, die einzelnen Dinge zu tun: Das Kind zu waschen und anzuziehen. Die kleine Abschiedsfeier im Familienkreis. Es war wichtig, den Sarg selbst zu schließen und dann auch geschlossen zu lassen, zum Friedhof zu gehen, zu beerdigen und das offene Grab zu schließen. Und dann einen Stein auszusuchen und ihn auf das Grab setzen zu lassen. – Diesen Stein allerdings hat bisher niemand weggerollt.“

Lazarus lebt und wird doch sterben„Hebt den Stein weg, öffnet das Grab!“, sagt Jesus.
Hier bei dem Stein beginnt das Wunder. Der Einwand der Marta, dass Lazarus schon vier Tage tot sei, wird weggewischt: „Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ Der Gehorsam gegenüber Jesus wiegt schwerer als der Stein.
Und sie rollten den Stein weg. Lazarus also lebt wieder, – mehr aber auch nicht. Er ist den Seinen zurückgegeben, – aber eines Tages wird er doch sterben.
Diese Überlegung, dass Lazarus doch einst sterben wird, hat Nikos Kazantsakis in seinem Roman „Die letzte Versuchung Christi“ noch ein paar Grade schärfer gedacht. Lazarus, der lebende Beweis für Jesu Macht über den Tod, ruft die Gegner Jesu auf den Plan. Sie erkennen, welch universaler Anspruch aus der Macht über den Tod erwächst. Deshalb muss Lazarus sterben. Sie schicken ihre Schergen aus, die ihn umbringen.
Nikos Kazantsakis lässt Lazarus ermorden.

Stachel des TodesWer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt, und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. O Tod, wo ist dein Stachel?

Der Vater des gestorbenen Mädchens beschreibt diesen Stachel: „Ich spüre ihn, den Stachel. Das ist eine Anfechtung. Sie fordert heraus und treibt an. Mit der Lazarus-Geschichte in mir folge ich der Ahnung, dass der Tod zwar viel – aber eben nicht alles kann. Der Feind, der Tod, ist überwunden. Er wurde blamiert, als ihm Gott den gekreuzigten Jesus wieder entriss. Und doch vermisse ich mein Kind jeden Moment so sehr.“

Der Tod – Erlösung, plötzlich, sinnvoll?Liebe Gemeinde, wir alle haben uns wohl schon Gedanken gemacht über den Tod. Und Gedanken gemacht über das Sterben. Kann der Tod Erlösung sein? So wie es in mancher Todesanzeige sein? „Er fand die Erlösung, uns bleibt die Erinnerung.“

Weil der Tod der Feind ist, kann ich nicht alle freundlichen Vorstellungen von ihm nachvollziehen: z.B. die vom schönen, dem zeitgemäßen Tod. Sollte es den wirklich geben? Oder die Vorstellung des Todes als Erlösung. Das kann ich nicht glauben. Denn nicht der Tod erlöst vom Leben, sondern Gott erlöst vom Tod. Das ist ein Unterschied!

Der plötzliche Tod wird heute oft als ein guter Tod bewertet. Auch das kann ich schwer glauben. Gerade die katholische Tradition pflegt mit dem Sakrament der Krankensalbung eine Sterbebegleitung, ohne die man den Sterbenden nicht in Frieden ziehen lassen will. Ist das so eine wertlose Idee, dass wir heute sagen könnten: Hauptsache kurz und schmerzlos?
Ganz besonders zu hinterfragen scheinen mir die Lehren vom sinnvollen Tod zu sein, dem Opfertod, dem Versuch zu sagen: Es kann doch nicht umsonst gewesen sein. Es muss einen Sinn gehabt haben.

AuferstehungsglaubeDie Auferstehung Jesu und die Wiederbelebung des Lazarus und unsere eigenen schmerzhaften Erfahrungen können dem Tod nichts Gutes abgewinnen. Ich will das auch nicht versuchen. Auferstehungsglaube heißt nicht: Alles hat irgendwo sein Gutes.
Auferstehungsglaube heißt, dass Gottes Macht sich dort offenbart, wo kein Mensch mehr etwas für das Leben tun kann. Als Jesus starb und kein Mensch mehr etwas für Jesus tun konnte, handelte Gott und auferweckte ihn. Er nahm ihn aus den Todesschatten wieder heraus. Er griff in den Herrschaftsbereich des Todes hinein, holte Jesus heraus und demütigte so den Tod.

Der Vater des Kindes hat aufgeschrieben:
„Ich buchstabiere die Auferstehung Jesu nach: Als kein Mensch, keine ärztliche Kunst mehr etwas tun konnte, handelte Gott und nahm meine Tochter dem Tod wieder weg. So rettete er meine Tochter, als niemand sonst mehr retten konnte. Ich konnte meine Tochter ansehen, aber sie sah nicht zurück. Ich konnte sie berühren, aber da war keine Wärme. Ich konnte sie ansprechen, aber es kam keine Antwort. Der Tod hat den Gesprächsfaden durchschnitten – und ich stelle mir vor, dass Gott ihn wieder aufgenommen hat. Er spricht mein Kind an und erhält natürlich auch Antwort. Und er sieht sie so an, dass wieder Licht in ihren wunderbaren großen Augen ist.“

Wir müssen aushalten, dass der Tod zwar überwunden, aber nicht abgeschafft ist. Er ist überwunden wie ein schweres Hindernis. Mit Jesus Christus hat uns Gott einen Weg frei gelegt, der uns durch den Tod hindurchführt, bis er einst hinter uns liegt.

„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürcht` ich kein Unglück, dein Stecken und Stab trösten mich“ (Psalm 23,4). Für die Wanderung durch das Tal und die Ängste darin ist uns im Hebräerbrief eine Mahnung mit auf den Weg gegeben, die wir heute als Schriftlesung bereits gehört haben: „Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.
Geduld aber habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt.
(...) Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden, sondern von denen, die glauben und die Seele erretten“ (Hebräer 10,35f).

Wir weichen nicht zurück, auch wenn uns eine schmerzhafte Erfahrung manche Anfechtung bereitet. Wir werfen unser Vertrauen nicht weg. Es ist noch viel Zeit und manche große Frage zu überbrücken. Das Fundament dieser Brücke ist die Geduld. Sie ist das Wesen der christlichen Hoffnung. Sie trägt die Hoffnung, sie dient ihr. Sie hilft, die einmal gewonnene Zuversicht in Jesus festzuhalten, was nicht leicht ist.

„Werft euer Vertrauen nicht weg!“ Werft eure Zuversicht, den Glaubensmut nicht weg. Er leitet über die Brücke. Ihr werdet großen Lohn haben und die Verheißung empfangen, verspricht der Verfasser des Hebräerbriefes.

Was mag das sein? Das wird nicht extra ausgeführt, aber ich denke, dass der Glaube selbst der Lohn ist. Die Verheißung, der Lohn ist, dass der trauernde Vater, Sie und ich, auch einst zu unseren Nächsten sagen können: Stell dir vor, was passiert ist, was sich mir gerade erschlossen hat. Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen und Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht! Der Tod ist tot! Jetzt ist Frieden und Freude! Stell dir vor!

Heute Morgen weiß ich noch nichts anderes als mit Ihnen um diesen Glauben zu bitten und mich mit Ihnen gemeinsam den Frieden und Segen Gottes anzuvertrauen.
Amen.

Hinführende Bemerkungen: Ich arbeite als Klinikseelsorgerin in einer Stuttgarter Kinderklinik. Immer wieder begleite ich Eltern, die Abschied von ihrem Kind nehmen müssen. Ein Vater hat mich nach zwei Jahren Trauerarbeit nochmals an seinen Erinnerungen teilhaben lassen.

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