14. Sonntag nach Trinitatis (01. September 2024)
Römer 8,14–17
IntentionDie Predigt will das „neue Sein in Christus“ entfalten. Dies geschieht mit den paulinischen Stichworten „Glaube, Liebe und Hoffnung“ (1. Kor.13). Sie lassen sich gut dem Duktus des Predigttextes zuordnen.
Weil der Begriff „Fleisch“ heute nicht mehr leicht verständlich ist, lege ich den Schwerpunkt der Predigt auf den „Geist der Kindschaft“ und stelle das Alte und Überwundene in einem Bild dar: der Mensch als krummes, knorriges und unbrauchbares Holz, aus welchem aber ein einzigartiges Bild geschnitzt werden kann.
Der Mensch: ein krummes HolzIn diesem Jahr begehen wir den 300. Geburtstag des großen Königsberger Philosophen Immanuel Kant. In allem, was dieser gedacht und geschrieben hat, ging es um eine einzige Frage: Was ist der Mensch? Und eine seiner Antworten lautete, der Mensch gleiche einem „krummen Holz“. Sein Satz lautet: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden.“ (1)
Ist das wirklich so? Oder geht es auch anders?
Ich stelle mir das bildlich vor: Bei einem Spaziergang im Wald finde ich eine Wurzel. abgebrochen, knorrig, krumm und unbrauchbar. Ich nehme sie mit und bringe sie zu einer guten alten Bekannten. Denn diese kann wunderbar kunstvoll schnitzen. Sie nimmt dann das krumme Holz in die Hand, setzt ihr Schnitzmesser an und gestaltet daraus eine Figur. Im krummen Holz wird jetzt gleichsam eine große Handfläche sichtbar, in die sich vertrauensvoll der Kopf eines kleinen Kindes schmiegt. Das Holz steht dabei für das Alte, das Kind für das Neue.
Den Apostel Paulus haben die Fragen umgetrieben: Was ist der Mensch? Und was wird aus dem Menschen, wenn Christus ihn sozusagen in die Hand nimmt?
Auch er geht davon aus, dass wir Menschen wie abgebrochen, knorrig, krumm und unbrauchbar sind. Aber er weiß zugleich, dass gerade auch aus knorrigem Holz etwas Neues werden kann. Und davon handelt unser Predigttext.
Wir hören aus dem Brief an die Römer im 8. Kapitel die Verse 14-17:
„Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.“
Der neue Mensch und der Geist der KindschaftLiebe Gemeinde, auch Paulus weiß: Wir Menschen sind knorrig wie krummes Holz. Er kennt das Urteil Gottes über uns. Er weiß: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf..“ (2) Er weiß aber auch: Aus diesem krummen Holz kann etwas werden. Etwas ganz Neues. Und sogar Schönes. Und er nennt dieses Neue den „Geist der Kindschaft“.
Er meint damit eine unverbrauchte, entspannte und leichte Lebendigkeit.
Das Leben hat eine Wende erfahren. Und Paulus findet für diese Wende immer neue Worte. Er spricht vom „alten Menschen“ und vom „neuen Menschen“, vom „fleischlichen“ und vom „geistlichen Menschen“ und von der „neuen Kreatur“ durch die Verbindung mit Jesus Christus. Alles Glauben und Denken des Apostels kreist um diese Wende, dieses neue Leben.
„Geist der Kindschaft“ – Das klingt zunächst verwirrend.
Und darum müssen wir einige Schritte tun, um es nachzuvollziehen.
Der neue Mensch lebt im GlaubenPaulus sagt uns als Erstes: Wir sind Kinder Gottes.
Als ich ein kleiner Junge war, haben mich manchmal ältere Leute gefragt: „Bua, wem g’hörsch du?“ – „Junge, wem gehörst du?“
Die Leute wollten eigentlich nur wissen, wer meine Eltern sind.
Ich aber habe mich über diese Frage sehr geärgert. Ich dachte mir:
Ich gehöre doch niemandem! Mich besitzt man doch nicht wie einen Gegenstand!
Als ich älter wurde, ist mir aber klar geworden: Ich kann auch mir selbst nicht gehören. Ich kann auch über mich selbst nicht verfügen.
Und im Glauben bekenne ich: Es ist ein ganz anderer, dem ich gehöre.
Wem ich gehöre, auf den höre ich auch.
Dem bin ich Rechenschaft und Gehorsam schuldig.
Wem ich gehöre, der steht aber auch für mich ein.
Der nimmt mich in seine Obhut.
Wem ich gehöre, mit dem bin ich verbunden.
Nichts und niemand wird mich von ihm trennen.
Das verändert auch mein Denken: meine Beweggründe und Ziele und meinen Geist.
Ich brauche keine Angst mehr zu haben, allein oder hilflos zu sein.
Auch keine Angst, zu kurz zu kommen.
Denn Gottes Geist und unser Geist gehören zusammen so wie Kinder zum Vater gehören.
Als Christinnen und Christen sind wir dem größten König eigen.
Im Heidelberger Katechismus (3), einem alten Bekenntnistext, ist das in Worte gefasst, die wie in Stein gemeißelt sind.
Darin lautet die erste Frage:
„Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“
Und die Antwort:
„Dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben,
nicht mein, sondern meines treuen Heilandes Jesu Christi Eigentum bin,
der mit seinem teuren Blute für alle meine Sünden vollkommen bezahlt
und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst hat
und so bewahrt, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt fallen kann, ja, mir auch alles zu meiner Seligkeit dienen muss.
Darum versichert er mich auch durch seinen heiligen Geist des ewigen Lebens
und macht mich von Herzen willig und bereit, von nun an ihm zu leben.“
Zu wissen, dass ich zu Gott gehöre – das ist Glaube.
Der neue Mensch lebt in der LiebePaulus sagt uns als Zweites:
Als Kinder Gottes sind wir geliebt.
Wir sind befreit und erlöst durch Jesus Christus.
Umfangen und getragen von einer unendlichen Güte.
Ich stelle mir dabei vor, wie Jesus sich am Abend vor seiner Kreuzigung seinen Jüngern zärtlich zugewandt hat. Er hat ihnen die Füße gewaschen, was eigentlich die Aufgabe eines Sklaven gewesen wäre.
Damit gab er ihnen eine Hilfe, seinen bevorstehenden Tod zu deuten und zu verstehen. Es war, als wolle er damit sagen: „Ich gebe mich ganz für euch hin. Lasst euch die Wohltat meiner Liebe gefallen. Und gebt sie weiter an andere.“
Liebe ist ein Nehmen und ein Geben.
Und die Liebe Jesu dürfen wir erwidern, indem wir uns bittend an Gott wenden und zu ihm rufen: Abba, lieber Vater!
Abba – das ist ein Kosewort. Darin drückt sich ein intimes und zärtliches Verhältnis aus. Da hinein kann man sich fallen lassen, aufatmen und zur Ruhe kommen. Es eröffnet sich ein weiter Raum. Der Raum der Liebe.
Diesen Raum hat Jesus seinen Jüngern eröffnet, als er ihnen die Füße wusch. Es war ein Moment mit einer neuen Perspektive:
Leiden und Tod ist nicht mehr die einzig und alles überschattende Sicht auf das Leben. Denn alles Dunkle und Bedrohliche ist umhüllt von zärtlicher Zuwendung und Hingabe. Jesu Geste ist eine einzige Zusage, ein einziges Versprechen: „Ich meine es gut mit euch!“
Der neue Mensch lebt in der HoffnungAls Kinder Gottes sind wir nicht nur erstens geborgen und zweitens geliebt, sondern drittens auch gewiss im Blick auf das, was uns erwartet.
Paulus schreibt: „Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.“
Was erwarten wir eigentlich von der Zukunft?
Bestimmt uns die Angst? Weil es an vielen Orten schreckliche Kriege gibt?
Oder weil das Klima immer mehr aus dem Gleichgewicht kommt?
Oder weil wir unsere Finanzen nicht mehr in den Griff bekommen?
Weil wir uns ohnmächtig und überfordert fühlen?
Paulus sagt dagegen, dass wir Gottes Erben und Miterben Christi sind.
Wer mit einem Erbe rechnen darf, erwartet einen Reichtum, den er oder sie selbst nicht verdient hat.
Nicht die eigene Leistung berechtigt zum Erbe, sondern allein die Zugehörigkeit eines Kindes zum Vater oder zur Mutter.
Paulus erwartet einen Reichtum, ja eine Herrlichkeit.
Und diese Herrlichkeit gibt es gratis. Als Geschenk.
Es ist zum Staunen!
Ich denke an den Baptistenpfarrer Martin Luther King. Er hat bei seinem Kampf gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung viel Widerstand erlebt und ist dann auch ermordet worden. Dennoch hielt er an seiner Hoffnung fest:
„Wenn unsere Tage verdunkelt sind und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte, so wollen wie stets daran denken, dass es in der Welt eine große, segnende Kraft gibt, die Gott heißt.
Gott kann Wege aus der Ausweglosigkeit weisen. Er will das dunkle Gestern in ein helles Morgen verwandeln – zuletzt in den leuchtenden Morgen der Ewigkeit“ (4).
So stellt sich die Hoffnung einer dunklen Gegenwart entgegen.
Krummes Holz – Aufrechter GangDer Geist der Kindschaft richtet uns auf und macht uns stark – auch dann, wenn wir einem Stück knorrigen, krummen und unbrauchbaren Holz gleichen.
Mit „Krummes Holz – aufrechter Gang“ hat der Theologe Helmut Gollwitzer Wesen und Leben des Christenmenschen beschrieben und in dieser Spannung nach dem Sinn des Lebens gefragt (5).
Vielleicht finden wir bei einem Spaziergang so einen seltsamen Ast oder ein Wurzelstück, nehmen es in unsere Hand, spüren seine raue Oberfläche, schauen es an und spüren und sehen etwas von seiner unvergleichlichen Schönheit. Wir schauen es an mit den Augen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung und ahnen das Bild, das daraus entstehen soll.
Ich sehe in dem krummen Holz auch das Bild Jesu, unseres gekreuzigten und auferstandenen Herrn.
Er hat alles Krumme und Missratene der Welt ans Holz getragen.
Er macht uns brauchbar und gibt unserem Leben eine neue Richtung.
Eine neue Sicht und Lebendigkeit.
Den Geist der Kindschaft.
Amen.
Anmerkungen zur Predigt
(1) Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784, Sechster Satz.
(2) 1. Mose 8,21.
(3) Der „Heidelberger Katechismus“ ist ursprünglich als Bekenntnis und Lehrtext für die reformierte Kirche der Kurpfalz erarbeitet worden. Er wurde 1563 in Heidelberg von den Superintendenten der Kurpfalz angenommen und von Kurfürst Friedrich IV. unterzeichnet. Weitere reformierte Kirchen nahmen ihn als Grundlage kirchlichen Lebens und kirchlicher Lehre an.
(4) Abgedruckt im Evangelischen Gesangbuch S. 257.
(5) Helmut Gollwitzer (1908–1993), Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1970.
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