13. Sonntag nach Trinitatis (11. September 2022)
Lukas 10,25–37
IntentionIn Krisenzeiten brauchen Menschen Vergewisserung. Was hält eine Gesellschaft zusammen? Die Predigt über diesen locus classicus diakonischer Theologie ist nicht nur mündlich möglich; sie kann auch angereichert werden durch visuelle Eindrücke zum Beispiel durch Bilder von Paula Modersohn-Becker (1907), Vincent van Gogh (1890), Julius Schnorr von Carolsfeld (1860), Rembrandt Hamenszoon van Rijn (nach 1633) oder durch Bilder in zahlreichen Kinderbibeln und durch Zeichentrickfilme.
Was hält eine Gesellschaft zusammen?Liebe Gemeinde,
von gesellschaftlichem Zusammenhalt ist in Krisenzeiten oft die Rede. Was hält eine Gesellschaft gut zusammen? Was kann ein einzelner Mensch dazu beitragen? Wir hören dazu eine Geschichte, die gar nicht mit dieser Frage beginnt und doch Antworten formuliert.
Gespräch mit einem Juristen (Lk 10,25-28)„Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.‘ Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.“
Doppelgebot der LiebeEin Jurist hat eine Frage. Und Jesus bittet den Gesetzeslehrer, sein Wissen einzusetzen. „Was steht im Gesetz?“ Gemeint ist das Gesetz des Mose, die Tora. Der Jurist gibt daraufhin eine doppelte Antwort. Erstens: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und“ – zweitens – „deinen Nächsten wie dich selbst“. Diese doppelte Form des Liebesgebots nennen wir das Doppelgebot der Liebe.
Gottesliebe und Nächstenliebe gehören zusammenGottesliebe und Nächstenliebe hängen sehr eng miteinander zusammen. Sie verhalten sich wie zwei Seiten derselben Medaille. Wo ein Mensch Gott liebt, sind die Augen für den Anderen, den Nächsten, geöffnet und die Hände zur Tat bereit. Wo ein Mensch in Not unterstützt wird, da wird Liebe zu Gott sichtbar. Das doppelte Liebesgebot bindet die Beziehung zu Gott und die sozialen Beziehungen zu den Mitmenschen zusammen.
Zwei notwendige ErgänzungenEine freundliche Haltung gegenüber sich selbst und dem eigenen Leben bildet die Basis für das Maß der Nächstenliebe. Es heißt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Sich selbst annehmen ist an manchen Tagen bereits eine Aufgabe und erfordert Übung. Heutzutage ist außerdem die Schöpfung in die Nächstenliebe einzubeziehen. Nur wenn wir die Schöpfung bewahren, können wir als Menschen gut auf Dauer leben. Wenn Wolken, Luft und Winde durcheinanderkommen, wenn Böden, Wasser und Luft vergiftet sind, dann haben wir Menschen keine gute Zukunft. Deshalb lasst uns auch unsere Mitgeschöpfe in der Schöpfung achten, bewahren und lieben.
Jesu LebensverheißungEin Liebesgebot über diese vier Dimensionen – Gott, selbst, Nächster, Schöpfung – hat die Bestätigung und Verheißung Jesu. „Du hast recht geantwortet“, sagt er zum Gesetzeslehrer, „tu das, so wirst du leben.“ Dieses Wort Jesu gilt auch für uns heute: „Tu das, so wirst du leben.“ So einfach, so knapp, so konkret.
Wer ist mein NächsterAber wie der Gesetzeslehrer winden wir uns und fragen: „Wer ist denn mein Nächster?“ Da beginnt Jesus, eine Geschichte zu erzählen.
Der barmherzige Samariter (Lk 10, 30-35)„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.“
Andere Menschen ausraubenNicht wahr, liebe Schwestern und Brüder, wir kennen diese Geschichte. Vielen ist sie von Kindesbeinen an vertraut. Wir alle wissen, dass sich Menschen immer wieder als Räuber verhalten. Auf die eine oder andere Weise den Nächsten ausziehen, berauben, schlagen und halb tot liegen lassen. Ich blicke in die Ukraine; ich blicke auf die Verhältnisse in armen Ländern; ich blicke auf unser maßloses Verhalten gegenüber der guten Schöpfung Gottes. Wer sind die Räuber? Immer wieder sind wir in den wohlhabenden Ländern mit beteiligt. Immer wieder ist es schwer, aus dieser Logik und aus diesem Verhalten auszusteigen. Was können wir tun?
Menschen in hilfloser LageBeraubte und geschlagene, geschändete und gedemütigte, vertriebene und verschleppte Menschen können sich meist nicht selbst helfen. Sie sind auf andere angewiesen. Es kommt also auf Begegnungen mit anderen Menschen an. Wann treffen Menschen in hilfloser Lage einen Menschen, der ihnen zum Nächsten wird?
Menschen weichen ausIn seiner Erzählung führt Jesus vier Menschen vor Augen. Zwei gehören zum Jerusalemer Tempelbetrieb. Heute würden wir vielleicht sagen: zum Establishment der Gesellschaft. Sie sind arrivierte Leute. Beide sehen zwar den Verletzten. Aber sie weichen aus, anstatt zu Nächsten zu werden. Sie bleiben auf Distanz: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Wären Sie und ich in der Rolle des Verletzten, dann würden wir das Verhalten der beiden falsch finden.
Dem Verletzten zum Nächsten werdenEin dritter Mensch verhält sich anders. Von ihm wird wohl am allerwenigsten erwartet, dass er hilft. Denn er ist fremd im Land und befindet sich nur auf der Durchreise. Aber er handelt ganz und gar als Mensch, weil er dem Verletzten zum Nächsten wird. Was geschieht?
Mitleid, Erbarmen, BarmherzigkeitAls der Samariter den Schwerverletzten „sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.“ Der Samariter lässt sich anrühren von der Not, die er sieht.
Als Mensch zum Nächsten werdenEr geht hin und leistet Ersthilfe. Dann sorgt er für Transport, für angemessene Unterbringung und für weitere Pflege. Das Paradoxe geschieht: Ausgerechnet der Fremde setzt sich und das Seine ein. Dadurch wird er zum Nächsten. Er macht mit dem Wirt einen Hilfeplan, geht dabei erneut in Vorleistung und sichert weitere Kostenübernahme zu. Der fremde Reisende tut viel mehr, als zu erwarten wäre. Sein Motiv ist Mitleid und Erbarmen.
Spüren, was ein anderer Mensch brauchtWenn Sie oder ich in der Rolle des Verletzten wären, dann würden wir uns so einen Nächsten wünschen. An anderer Stelle lehrt Jesus: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ Bei Jesus zählt: sich so verhalten, wie ich es aus der Perspektive der anderen Person möchte; sich in die Schuhe des anderen stellen; und dann spüren, was dieser Mensch braucht. Dieser kurze gedankliche Rollentausch gibt Gewissheit über situationsgerechtes Verhalten. Durch Begegnung, Beziehung und wechselseitige Unterstützung wächst dabei das Reich Gottes.
Der Wirt hilft genausoAuch der Wirt leistet sein Teil. Das wird oft übersehen. Er beteiligt sich und leistet fachlich kompetente Hilfe. Der Wirt pflegt, unterstützt und versorgt den Verletzten. Er übt seinen Beruf aus und erhält dafür eine Zahlung. Daran ist nichts verwerflich, im Gegenteil. So kann der Wirt mit davon leben, dass er den Auftrag annimmt und die Anschlussbehandlung leistet.
Wer ist der Nächste geworden?Am Ende der Geschichte stellt Jesus dem Gesetzeslehrer eine Frage: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!“
Zwei MaximenZweierlei nehme ich aus dieser Geschichte mit: Nächster wird man, indem man einem notleidenden Menschen beisteht, hilft, ihn versorgt, pflegt, unterstützt. Jeder Mensch kann zur Nächsten oder zum Nächsten werden. Das andere ist: Gottesliebe und Nächstenliebe gehören zusammen wie die beiden Seiten einer Münze. Es gibt nicht das eine ohne das andere. Die Wissenschaftlerin und Philosophin Edith Stein formuliert: „Das sicherste Zeichen für das Vorhandensein der Gottesliebe ist die deutlich erkennbare Nächstenliebe.“
Zusammenhalt einer Gesellschaft in KrisenzeitenZu Beginn fragten wir: Was kann ein einzelner Mensch zum Zusammenhalt einer Gesellschaft in Krisenzeiten beitragen? Vier Antworten haben wir gefunden.
Priester und Levit übersehen bewusst die Not und gehen an ihr vorbei. So nicht!
Ein Fremder aus Samarien sieht hin und geht hin. Er hat Mitleid und hilft.
Ein Wirt beteiligt sich fachlich kompetent, pflegt, unterstützt und versorgt.
Jesus empfiehlt dem Gesetzeslehrer das Verhalten des Samariters: „Tu das, so wirst du leben!“
Wo ist mein Platz?Und was ist mit uns heute, wo ist mein Platz? Wo bin ich und wo werde ich zum Nächsten oder zur Nächsten für denjenigen Menschen, der mich braucht? Wo wird meine Liebe zu Gott in der Nächstenliebe deutlich erkennbar? Wer mit offenen Augen lebt, wird seinen Platz finden. Jesu Erzählung spricht für sich. Zum Schluss sagt Jesus: „Tu das, so wirst du leben. Geh hin und tu desgleichen!“ Amen.
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