13. Sonntag nach Trinitatis (06. September 2020)
Pfarrerin Katharina Dolmetsch-Heyduck, Pfullingen [Katharina.Dolmetsch-Heyduck@elkw.de]
Apostelgeschichte 6, 1-7
IntentionEs gibt eine christliche Art, mit Konflikten umzugehen. Sie ist orientiert am Handeln Jesu, der sich den Menschen am Rande der Gesellschaft zugewendet. Die ersten Christen sind diesen Weg gegangen. Unrecht wurde ausgesprochen. Die Verantwortlichen haben zugehört, Veränderung gewagt und Verantwortung geteilt.
Liebe Gemeinde!
Konflikte gibt es überall. In der Familie, am Arbeitsplatz, unter Freunden, Geschwistern und Partnern – und manchmal auch in der Gemeinde. Gibt es eigentlich eine „christliche“ Art, mit Unstimmigkeiten und Ärger umzugehen? Oder sollte es Konflikte unter Christen möglichst gar nicht geben? Der Predigttext erzählt von einem Konflikt in der Gemeinde von Jerusalem:
„In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam“ (Apg 6, 1-7).
Von einem Konflikt wird erzählt. Nicht der einzige Konflikt in der Bibel – aber an dieser Stelle kommt er ganz unerwartet. Denn es geht um die Jerusalemer Urgemeinde! Das waren Menschen, die miteinander in Gütergemeinschaft lebten und von denen es in der Apostelgeschichte heißt: „Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele“ (Apg 4, 32). Und: „Sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern und hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen“ (Apg 2, 46). Menschen, die ein Herz und eine Seele sind, geraten doch nicht miteinander in Konflikt! – oder doch? Tatsächlich – das kommt in den besten Familien vor – und auch in den besten Gemeinden. Und so auch in der sonst so ideal dargestellten Urgemeinde. Wie gut, dass auch diese Geschichte in der Bibel steht und nicht nur Berichte über die Einmütigkeit der ersten Christen.
In der Gemeinde ist ein Konflikt entstanden: „Es erhob sich ein Murren.“ Es rumort. Es gibt Ärger und Unmut. Und zwar an einem besonders sensiblen Punkt. Zur Gemeinde gehörten Menschen aus zwei verschiedenen Kulturkreisen: hebräisch sprechende und griechisch sprechenden Juden, die alle Christen geworden waren. Während die hebräischen Leute aus dem Umfeld von Jerusalem stammten und meist schon ihr ganzes Leben dort verbracht hatten, kamen die griechischen Leute aus Griechenland und Kleinasien. Sie waren also in Jerusalem Ausländer. Sie lebten dort, um in der Nähe des Tempels zu sein. Viele von ihnen waren inzwischen Christen geworden und hatten sich der christlichen Gemeinde angeschlossen. Da nicht immer die ganze Sippe aus Griechenland mitgezogen war, gab es Witwen, die nach dem Tode ihres Mannes unversorgt blieben. Damals war die Familie für die soziale Absicherung zuständig. Wenn eine griechische Witwe allein war, hatte sie mehr Zuwendungen nötig als eine hebräische Witwe, die ihre Großfamilie vor Ort hatte.
Der Konflikt entsteht also, weil unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Bedürfnissen miteinander leben. Wie leicht geschieht es, dass dabei jemand zu kurz kommt!
Wie gehen die Menschen in der Urgemeinde mit dem Konflikt um? Sie gehen einen Weg miteinander. Ich kann in der Geschichte drei Schritte auf diesem Weg erkennen:
Der erste Schritt: Unrecht aussprechen„Es erhob sich ein Murren“ heißt es zu Anfang. Die griechischen Witwen fühlen sich ungerecht behandelt. Sie kommen zu kurz bei der täglichen Versorgung. Vielleicht haben sie selbst ihre Unzufriedenheit geäußert, vielleicht sind andere darauf aufmerksam geworden und haben sich verantwortlich gefühlt. Auf jeden Fall ist dieses „Murren“ der erste Schritt zu einer Lösung des Konflikts. Moment: Ist es etwa christlich, zu „murren“ – also Unmut zu äußern und auf Unrecht aufmerksam zu machen? Sollten Christen nicht vielmehr still alles Unrecht erleiden? In Jerusalem wird gemurrt. Keiner sagt den verwitweten Frauen, sie sollten sich still verhalten und bescheiden das Unrecht ertragen. Kein Wort davon. Und doch: Viele Menschen – besonders Frauen! – leiden bis in unsere Tage, weil sie meinen, dass es christlich sei, still zu halten und erlittenes Unrecht auszuhalten. Jesus selbst hat zwar Unrecht erlitten und ertragen, aber er hat andererseits auch den Schwächsten eine Stimme gegeben und sie in die Mitte der Gemeinschaft geholt.
Wo Unrecht geschieht, muss es ausgesprochen werden – stellvertretend für die, die selbst keine Stimme haben. Dafür tragen wir alle Verantwortung. Nicht wegschauen, sondern wenigstens murren: Unmut äußern, Ungerechtigkeit aussprechen. Zuerst leise. Aber dann immer lauter. Damit es die Verantwortlichen hören. Denn nur dann kann der zweite Schritt kommen auf dem Weg, auf dem wir die Urgemeinde begleiten:
Der zweite Schritt: Unmut ernst nehmen„Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen.“ Das Murren über das geschehene Unrecht wird gehört: die Verantwortlichen der Gemeinde sind aufmerksam geworden. Sie nehmen ernst, was ihnen zu Ohren kommt. Sie gehen den Konflikt an. „Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen.“ Sie hören auf das Murren derer, die ganz am Ende der damaligen sozialen Skala standen: mittellose Ausländerinnen, Frauen an der Armutsgrenze, die allein für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder sorgen mussten. Ihr Ärger wird ernst genommen. Gut so. Wer nämlich das Gefühl hat, nicht wahrgenommen und nicht ernst genommen zu werden, zieht sich zurück. Konfliktbearbeitung ist dann nur schwer möglich. Die ersten Christen kehren den Konflikt nicht unter den Teppich, sondern nehmen ihn ernst. Auch heute geht es darum, darauf zu hören, was Menschen bewegt. Sie ernst zu nehmen mit ihren Nöten und Sorgen. Auch auf die zu hören, die am Rande der Gesellschaft oder am Rande der Gemeinde stehen. Das ist tatsächlich christlich, denn das ist es, was Jesus getan hat, und was Gott selbst tut, „der den Geringen aufrichtet aus dem Staube und erhebt den Armen aus dem Schmutz“ (Ps 113, 7), wie es im Wochenpsalm 113 heißt. Wer sich daran orientiert, kann Veränderung wagen. Und das tun die ersten Christen der Urgemeinde im dritten Schritt:
Der dritte Schritt: Veränderung wagenDie Verantwortlichen haben erkannt, dass es in der Gemeinde Menschen gibt, die zu kurz kommen. Das hatten sie gar nicht bemerkt. Denn sie sind ja vollauf beschäftigt mit dem „Dienst des Wortes“, also mit Gottesdienst und Lehre. Da braucht es also strukturelle Veränderung. Und so tun sie etwas sehr Kluges: sie teilen ihre Verantwortung. „Darum seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.“ Die Verantwortung wird geteilt. Sieben Männer sollen gewählt werden zur Unterstützung der Zwölf. Und es heißt weiter: „Die Rede gefiel der ganzen Menge gut.“ Ein Konflikt ist erst dann gelöst, wenn alle zufrieden sind. Nicht etwa dann, wenn sich der Stärkere durchgesetzt hat. Gemeinsam wählen sie sieben Männer, die alle zum griechisch sprechenden Gemeindeteil gehören. In Zukunft tragen also nicht nur die hebräischen Leute Leitungsverantwortung, sondern auch die griechischen. So soll Ärger künftig vermieden werden. Der „Dienst“ der täglichen Versorgung ist übrigens kein untergeordneter Dienst. Er wird ebenso wie der „Dienst“ des Wortes im griechischen Text der Apostelgeschichte als „Diakonia“ bezeichnet. Dienst an den Schwächsten und Dienst am Wort gehören zusammen.
Erst, als der Konflikt bearbeitet ist, heißt es in der Apostelgeschichte wieder: „Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem.“ Die Gemeinde kann wieder wachsen. Wo etwas wächst, ist Leben und Vitalität. Unbearbeitete Konflikte dagegen hemmen die Lebendigkeit.
Ja, es gibt eine christliche Art, mit Konflikten umzugehen. Sie ist orientiert am Handeln Jesu, der sich den Menschen am Rande der Gesellschaft zugewendet hat im Namen und in der Vollmacht Gottes, „der den Geringen aufrichtet aus dem Staube und erhöht den Armen aus dem Schmutz“. Die ersten Christen sind diesen Weg gegangen. Unrecht wurde ausgesprochen. Die Verantwortlichen haben zugehört, Veränderung gewagt und Verantwortung geteilt.
Vielleicht könnten wir von ihrer Erfahrung einiges mitnehmen für die Konflikte, mit denen wir umgehen müssen. Und hoffentlich werden wir spüren: Mit Konflikten umgehen lernen ist ein von Gott begleiteter Weg. Er selbst gebe uns Weisheit und Mut dazu. Amen.
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