13. Sonntag nach Trinitatis (26. August 2018)
1. Mose 4, 1-16
Liebe Gemeinde,
ein archäologischer Knochenfund erregte vor Jahren beträchtliche Aufmerksamkeit. Der Schädel eines frühsteinzeitlichen Menschen war ausgegraben worden. Die Besonderheit, die an ihm zu sehen war: Die Schädeldecke wies ein Loch auf. Offenbar – so die einhellige Überzeugung der Archäologen – war diese Verletzung der Hirnschale nicht durch einen Sturz zustande gekommen. Vielmehr muss ein faustkeilgroßer und spitzer Stein diesen Schädel von oben getroffen und jenen Menschen getötet haben. Näheres über die Begleitumstände herauszufinden, dürfte müßig sein. Jahrmillionen schieben sich dazwischen. Da wird es schwer, den Vorgang genauer zu rekonstruieren oder gar etwas über die Motive in Erfahrung zu bringen. Steckt gezielter Mord dahinter? War es eine Tötung im Affekt, ausgelöst durch einen Streit? Geschah es vielleicht auf fahrlässige Weise bei einem Wettkampf, der keinesfalls tödlichen Ausgang haben sollte? Oder war es am Ende eine Art Jagdunfall?
Ein makabrer KnochenfundDie Kriminalisten kommen hier an ihre Grenzen. Das Entscheidende ist aber das Aufsehen, das dieser Fund erregte. Ganz abgesehen nämlich davon, was damals wirklich geschehen sein mag: Der Fund erinnert daran, dass der Mensch offenbar von Anfang seiner Geschichte an in der Lage war und ist, Waffen und Werkzeuge zur Tötung der eigenen Artgenossen einzusetzen. Er trägt ein Gewaltpotential in sich, das sich immer auch gegen den Mitmenschen richten kann. Und er ist in der Lage, aus jedem Vorteil, der ihm durch seine Vernunft gegeben ist, auch eine Falle für den Nächsten (ob Freund, ob Feind, ob Bruder oder Schwester) werden zu lassen. Ein Hammer, ein Faustkeil ist nie nur ein Werkzeug, sondern kann immer auch zum Tötungsinstrument gegen Mitmenschen eingesetzt werden. Offenbar seit Urzeiten. Ebenso wie ein Baseballschläger nie nur ein Sportgerät ist, sondern in der Hand des Menschen auch zur Mordwaffe werden kann. Heute.
Damit gibt dieser Knochenfund ein eindrückliches Bild ab für eine alte Geschichte aus der Bibel. Vor dem Hintergrund jener archäologischen Aufregung steht die Erzählung vom Mord Kains an seinem Bruder Abel, jener Brudermord aus der ersten Menschheitsgeneration diesseits des Paradieses, in einem neuen, bedrückend wahren Licht.
Eine befremdliche KriminalgeschichteDiese alte Erzählung wirft viele Fragen auf. Ist es beispielsweise nicht seltsam, dass Gott den Kain nach der Mordtat zunächst straft, dann aber seine schützende Hand über ihm ausbreitet, indem er ihm ein Zeichen macht, das ihn vor Blutrache schützen soll? Gott schützt den Täter. Bei aller Strafe. Er erhält ihm sein Leben.
Und ist nicht auch Kains Angst vor der Blutrache selbst sehr merkwürdig? Wer sollte ihn töten wollen? Adam? Eva? Oder gab es noch andere Menschen zur damaligen Zeit, von denen nicht direkt gesprochen wird?
Noch befremdlicher aber mag Gottes Verhalten am Anfang der Geschichte auf uns wirken. Welchen Grund hatte Gott denn, Abels Opfer gnädig anzunehmen, dasjenige Kains aber zurückzuweisen? Hatte er überhaupt einen Grund, wenigstens einen nachvollziehbaren? Ist es nicht vielmehr ziemlich ungerecht, das Opfer der beiden Brüder derart unterschiedlich zu behandeln? Und lehrt uns die Geschichte somit nicht am Ende, dass Ungerechtigkeit eben Aggression erzeugt, Aggression aber Gewalt, und dass Gewalt tödlichen Ausgang haben kann?
Ich denke, dass dies berechtigte Fragen sind. Für mich gibt es im Blick auf biblische Texte, zumal im Blick auf diese alten Erzählungen keine falschen oder gar verbotenen Fragen. Dennoch möchte ich bei ihnen in meinem Nachdenken über diesen Text nicht hängen bleiben, denn ich fürchte, wir könnten auf diese Weise eine ganz entscheidende Botschaft dieser Geschichte übersehen und aus dem Blick verlieren.
Es gibt UngleichheitJa, ich stimme zu: Gottes abweisendes Verhalten gegenüber Kain ist rätselhaft. Ich stimme zu: Wir bekommen durch diese Geschichte Einblick in die bedrohliche Gewaltspirale, die sich aus Ungerechtigkeit, sagen wir: vermeintlicher Ungerechtigkeit, herausdreht – und deshalb ist es an uns, für gerechte Verhältnisse unter uns zu sorgen, so gut das eben möglich ist.
Aber die Erzählung von Kain und Abel möchte uns im Grunde auf etwas ganz anderes aufmerksam machen. Für denjenigen, der diese mündlich überlieferte Geschichte irgendwann einmal vor mehreren tausend Jahren aufgeschrieben hat, war das Verhalten Gottes offensichtlich kein Problem. Sonst hätte er es wohl deutlicher zum Thema gemacht. Der unbekannte Erzähler stellt vielmehr ganz nüchtern fest: Es gibt Ungleichheit unter den Menschen. Diese Ungleichheit kann – ob zu Recht oder zu Unrecht, ist hier gar nicht die Frage! – ... sie kann jedenfalls als Ungerechtigkeit empfunden werden. Und nun stellt sich das Problem: Wie gehe ich mit solcher empfundenen Ungerechtigkeit um? Der Erzähler deutet nur an: Gewalt ist keine Lösung!
Kain und Abel – mitten unter unsStellen wir uns also einfach einmal folgendes Szenario vor: Da sind ein Viehhirte und ein Ackerbauer. Der eine hütet seine Herde, der andere bestellt sein Feld. Beide leben von den Erträgen ihrer Arbeit. Sie danken Gott dafür. Im nächsten Jahr gelingt es dem Hirten, neue Weideflächen zu finden, seine Herde wächst und vergrößert sich. Doch der Ackerbauer verliert einen Großteil seiner Ernte durch Hagelschäden. Entsprechend im Jahr darauf. Der Viehhirte prosperiert weiter, doch dem Bauer sterben die Pflanzen durch einen Pilz ab. – Ungleichheit allemal! Man kann das auch als Ungerechtigkeit empfinden: Warum gibt Gott im einen Fall seinen Segen, im anderen offenbar nicht.
Ein anderes Szenario: Eine Stelle ist zu vergeben. Die Konkurrenz ist groß, doch es schälen sich zwei Favoritinnen aus dem Bewerbungsdschungel heraus. Dennoch: zwei, das ist eine zu viel. Also schaltet die eine ihre Konkurrentin aus, weil sie befürchtet, sie würde die besseren Zeugnisse und Referenzen haben und ihr daher den Job wegschnappen. (Ich habe diese Geschichte übrigens nicht erfunden, sie stand vor einiger Zeit in der Zeitung.)
Ein drittes Szenario: Ein Metallunternehmen im östlichen Deutschland steht vor dem Konkurs. Es muss gründlich umgerüstet werden. Betriebsangehörige werden entlassen, um die Bilanzen zu retten. Junge Männer, frisch ausgebildet. Der Arbeitsmarkt in der Region bietet ihnen keine Chancen. Entsprechende Stellen in anderen Betrieben sind bereits besetzt, zum Teil von Deutschen, die nicht aussehen wie Deutsche, sondern wie Türken oder Vietnamesen. Sie sind hier geboren, in Deutschland aufgewachsen, besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit – aber sie haben eben die „falsche“ Hautfarbe.
Mit einem Mal bekommt die alte biblische Geschichte beklemmende Aktualität. Kain und Abel – mitten unter uns, in Frankfurt, in Dresden, in Stuttgart und Umgebung.
Ich will nichts rechtfertigen, nichts erklären. Ich stelle nur etwas fest – mit derselben Nüchternheit wie der Erzähler der alten Geschichte von Kain und Abel: Es gibt Ungleichheit unter uns Menschen. Diese Ungleichheit kann als Ungerechtigkeit empfunden werden. Doch Gewalt ist keine Lösung.
Gott als TherapeutVor diesem Hintergrund bekommt vor allem eine Stelle der Geschichte von Kain und Abel für mich besondere Bedeutung: „Da ergrimmte Kain sehr und senkte seinen Blick. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ (V. 5b-7)
Psychologisch gesehen spricht der Abschnitt alles aus, was es zu diesem Thema zu sagen gibt. Es ist die finstere Miene, die Kains Innenleben verrät. Und Gott begegnet Kain wie ein feinfühliger und kluger Therapeut. Er nimmt den Gesichtsausdruck Kains wahr und spricht ihn direkt daraufhin an. Das ist das Erste.
Wohl wahr: solche Direktheit kann unangenehm ausgehen. Gott weicht dem heißen Eisen aber nicht aus. Da lauert Gewalt, tödlicher Hass. Da braut sich etwas zusammen. Und Gott spricht Kain direkt daraufhin an. Er redet ihm ins Gewissen. Gott beherrscht offenbar nicht die zweifelhafte Kunst des Wegsehens, will sie nicht beherrschen. Er sieht hin und spricht aus, was er sieht.
Gewalt ist keine LösungDas Zweite aber ist die treffende Art und Weise, in der Gott den seelischen Zustand Kains berührt. Nur flüchtig ist hier ein Bild gebraucht: „Die Sünde lauert schon vor deiner Tür.“ Ein Gedanke des Hasses steht in Kains Herzen auf. Schon schmiedet er Pläne, sich unter Anwendung von Gewalt am Bruder zu rächen. Aber, Rache wofür? Für ein vermeintliches Gefühl der Ungerechtigkeit? Für die Erfahrung, zurückgesetzt worden zu sein? Für ein gekränktes Selbstwertgefühl? Und nun soll einer dafür büßen, der doch eigentlich gar nichts dazu kann – Abel. Er wird zur Zielscheibe für all die Wut, die im Bauch Kains gärt, weil dieser sich benachteiligt sieht.
Das ist die „Sünde“, von der der Erzähler Gott sprechen lässt. Der Mordgedanke ist schon der Mord selbst. Die böse Absicht ist schon die verfluchte Tat. Wie ein Raubtier lauert sie vor der Tür. Um Beute zu machen, um über ihr Opfer herzufallen, sobald sich die Tür nur einen Spalt breit öffnet.
Gott könnte zu Kain auch sagen: „Wie ein wildes Tier sitzt dein böser Plan vor der Tür deines Herzens, um über dich herzufallen und dich zu zerreißen. Öffne die Türe nicht. Gib diesen Gedanken keinen Spielraum. Lass dich nicht von ihnen beherrschen, sondern umgekehrt: Beherrsche du sie!“
Den tödlichen Kreislauf stoppenDass Gott mit seiner so eindringlichen Warnung bei Kain offenbar keinen Erfolg hat, sollte uns nicht irritieren. Die Geschichte zeigt ja etwas Typisches auf. Etwas, das gilt, weil es so tief in uns sitzt, auch wenn die Umstände ein anderes Mal günstig ausgehen. Gerade weil Kain Gottes Warnung in den Wind schlägt, wird sie für uns so bedeutsam. Nach der sinnlosen Tat Kains wird diese Warnung zur Stimme des Blutes Abels, das vom Ackerboden heraufschreit. Sie wird zur Stimme all jener Opfer, die unter sinnloser Gewalt ihr Leben lassen mussten, deren Lebensrecht aber nicht einfach zum Schweigen gebracht werden kann: „Warum musste ich zum Opfer deiner blinden Wut werden?“
Die ganze psychologische Spannbreite von der erfahrenen Ungleichheit und dem Gefühl der Ungerechtigkeit über die empfundene Wut bis hin zur Aggression, der freien Lauf gelassen wird und die in blindwütiger Gewalt mit tödlichem Ausgang endet, wird hier in wenigen Worten berührt. Doch diese Kette ist kein zwangsläufiger Mechanismus. An jeder Nahtstelle, an der die Zahnräder ineinandergreifen, kann eingehakt und Sand ins Getriebe geschüttet werden.
Ungleichheit und Ungerechtigkeit müssen nicht nur Wut produzieren. Sie können auch Ideen der Veränderung und Verbesserung hervorbringen. Und Wut muss nicht in Aggression und Gewalt auslaufen. Sie kann auch zeigen, dass eine als ungerecht empfundene Situation ernst genug ist, um nicht einfach unter den Teppich gekehrt zu werden.
Offenbar traut Gott es uns zu, das Raubtier zu zähmen. Er traut es uns zu, Wege aus der Aggression und der Gewalt zu finden. Weil wir Menschen sind, Menschen nach seinem Bilde – auch jenseits von Eden, oder diesseits (je nach Perspektive). Menschen, die über die Fähigkeit verfügen, Wut zu bändigen, Ungerechtigkeiten zu erkennen und an deren Überwindung zu arbeiten. Das ist die Alternative zur Gewalt. Die einzige, die wir haben. Aber auch die einzig tragfähige Lösung überhaupt. AMEN.
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