13. Sonntag nach Trinitatis (10. September 2017)
Markus 3, 31-35
Jesus – und eine peinliche FamilienszeneLiebe Gemeinde, vielleicht geht es Ihnen ja wie mir: dass Sie nach dem ersten Hören dieser Geschichte etwas peinlich berührt sind. Weil wir von außen Zeugen einer konflikthaften Familienszene werden: Jesu Mutter und seine Geschwister stehen vor der Tür und wollen ihn sprechen. Aber Jesus reagiert befremdlich abweisend: nicht sie seien seine Verwandten, sondern „das Volk“, also die Leute, die sich um ihn gesammelt haben und ihm zuhören! Eine schroffe Zurückweisung!
Allerdings hat die eine Vorgeschichte: Markus erzählt uns nur wenige Verse zuvor (Markus 3, Vers 20), dass seine Verwandtschaft dort aufgetaucht ist, wo Jesus predigte und wirkte, um ihn zu „ergreifen“, um ihn also mit Gewalt zurückzuholen in die Familie. Sie nehmen an, Jesus sei „von Sinnen“. Und jetzt stehen sie wieder vor der Tür und lassen ihn rufen – ganz gewiss immer noch mit der Absicht, sein Wirken zu beenden und ihn mit nach Hause zu nehmen. Befremdlich also auch das Verhalten der Familie Jesu, die mit dem jungen, aber längst erwachse-nen Mann umgehen wie mit einem durchgedrehten kleinen Kind.
Jesus – und seine ganz normale FamilieUnd spätestens da kommt mir diese Geschichte ganz nahe. Weil wir das doch alle kennen: die Familie als Ort von Konflikten – wie immer die begründet sind und wie auch immer damit umgegangen wird. Und wie unendlich befreiend und entlastend es doch ist, dass die Bibel über solche familiären Schwierigkeiten und Spannungen in der Familie Jesu offen und frei berichtet. Und dass solche Probleme auch sein dürfen und keine peinlichen und alle Beteilig-ten noch zusätzlich belastenden Tabuthemen sein müssen. Weil wir doch Menschen sind und Menschen sein dürfen und das Evangelium uns genau dazu ermutigen möchte.
Gewiss ist es harter Tobak, von den Seinen für verrückt erklärt zu werden. Aber im Ansatz machen doch manche Menschen diese Erfahrung, dass sie in der Familie wegen ihren Ansichten oder wegen ihrer Lebensführung in eine Außenseiterrolle rutschten. Ihrer Familie sind sie peinlich. Man würde sie am liebsten verstecken. Schlimmstenfalls werden sie als unerträglich gemieden. Und auch das kennen nicht nur die jungen Erwachsenen, dass einem die Verwandtschaft buchstäblich auf die Pelle rückt mit dem Anspruch, man habe jetzt gefälligst zu parieren und der Autorität der Familie Folge zu leisten: „Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.“
Familiengeschichten sind in der Regel immer ambivalente Geschichten: ganz gewiss auch Geschichten voller Wärme und Geborgenheit, von unbeschwerten und fröhlichen Szenen, Erinnerungen an erfahrene Liebe und an familiären Zusammenhalt. Auch Jesus hat das so erfahren – die Weihnachtsgeschichte lässt uns ahnen, dass er ganz normale, liebevolle Eltern hatte, die trotz gewisser Unsicherheit im Blick auf die väterliche Abstammung uneingeschränkt „Ja“ zu ihm gesagt haben. Die besorgt nach ihm suchten, als der 12-Jährige nach dem Passahfest im Tempel sowohl die Eltern als auch die Zeit vergaß und mit den Frommen fröhlich diskutierte.
Familiengeschichten sind aber auch Konflikt- und Streitgeschichten, wie immer, wo Menschen einander nahe sind und sich mögen. Geschichten von subtiler Machtausübung, verqueren Gesprächen, von Schuldgefühlen und Abhängigkeit. Der Evangelist Markus schildert in seinem Evangelium ungeschminkt Jesus, unseren Bruder, den wahren Menschen, mit seinen ganz normalen irdischen Zügen: Jesus hat Durst und Hunger, er ist müde und auch einmal zornig, er hat Angst und Schmerzen, und er hat: eine Familie. Die nun ebenfalls ganz normal und irdisch geschildert wird – sehr im Gegensatz zu der frommen Schminke, mit der die Familie Jesu in späterer Zeit zu einer „Heiligen Familie“ stilisiert wurde.
In unserem Textabschnitt treten die Mutter und seine Geschwister massiv und fordernd auf. Sie wollen den Erstgeborenen schlicht aus dem Verkehr ziehen. Jesu Auftreten, seine Reden und seine Taten waren ihnen suspekt geworden. Sie wähnten wohl ihr eigenes Ansehen in Gefahr, den Familienfrieden gefährdet, vielleicht sogar den religiösen Frieden Israels – ganz im Einklang mit den ebenfalls anwesenden Schriftgelehrten. Was die Leute über Jesus so redeten, bestärkte sie in ihrem Ansinnen, ihren Ältesten zumindest für eine Zeit lang in eine Art familiäre Schutzhaft zu nehmen. Und wie in manchen Familien auch heute durchaus üblich, reden sie nicht direkt mit ihrem Sohn, sondern tun das durch andere: „(sie) schickten zu ihm und ließen ihn rufen.“ Deutlicher kann man Macht- und Herrschaftsansprüche über den ältesten Sohn nicht zum Ausdruck bringen.
Jesus – und seine wahre FamilieUnd genau die wehrt Jesus so schroff zurück. Denn menschliche und irdische Macht- und Herrschaftsansprüche, liebe Gemeinde, haben bei Jesus nun gerade keinen Stellenwert. Weder seiner Familie noch den nationalen und religiösen Autoritäten Israels in Gestalt der Schriftgelehrten und Pharisäer gesteht es Jesus zu, über seinen Weg, über seine Botschaft und sein Tun zu bestimmen. Auch nicht seinen Jüngern, die von dem Weg und Willen Jesus oft herzlich wenig verstehen.
In Jesus begegnet uns nach übereinstimmendem neutestamentlichem Zeugnis nicht nur ein wahrer Mensch, sondern auch der Sohn Gottes, der Messias, der auf einzigartige Weise den Willen und das Wesen Gottes mit seinem ganzen Leben zum Ausdruck bringt. Und der eben auch die Grenzen menschlichen Denkens sprengt – weil er einen Gott bezeugt, dessen Liebe all unsere Vorstellungskraft bei weitem übersteigt. Dessen Barmherzigkeit bei den Kindern Israels nicht Halt macht, sondern auch den damals so verhassten Samaritanern und Römern gilt, den Griechen und allen Völkern diesseits und jenseits der damals bekannten Welt. Dessen Zuwendung nicht nur denen gilt, die sein Wort kennen und achten, sondern auch denen, die davon bislang nichts wissen wollten oder wissen konnten. Es ist das Besondere in der Verkündigung Jesu, dass er die religiösen und nationalen Grenzen, die Menschen untereinander und von Gott trennten, stark relativiert oder ganz einreißt. Auch die im Orient so wichtige Familie hat nur begrenzte Autorität, wenn sie den letztgültigen Willen Gottes und seine Liebe zu allen Menschen in Frage stellt: „Er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Machen wir uns klar, wer die sind, die da um ihn herumsitzen: Es sind ganz einfache, normale Leute – nicht nur seine Jünger. Es sind Männer und Frauen, die nur eines verbindet, dass sie in der Nähe Jesu sein und sein Wort hören wollten. Die, wie Markus zuvor erzählt hat, gekommen sind mit ihren Krankheiten und Lebensängsten, die ihnen das Leben schwermachten. Sie haben Jesus Vertrauen geschenkt. Sie haben sich von seinem Wort anrühren und anstecken lassen. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen, dass auch Mitglieder der Familie Jesu das zu einem späteren Zeitpunkt ebenso getan haben: Maria spielte eine wichtige Rolle in der Urgemeinde und in der entstehenden Kirche. Mindestens einer seiner leiblichen Brüder findet sich später im Kreis der Apostel wieder. Familiengeschichten sind, Gott sei Dank, ganz oft auch Versöhnungsgeschichten!
Wichtig ist, dass die, die Jesus jetzt als seine Geschwister bezeichnet, das von sich aus weder geplant, noch gewollt, noch verdient haben. Es ist seine freie Entscheidung, sie so zu nennen. Es ist seine rettende und befreiende Tat, sie jetzt mit hineinzunehmen in die Nähe Gottes, in Gottes Familie. Das einzige, was die so Angesprochenen tun können, ist es, dass sie sich schlicht gefallen lassen, was ihnen Jesus da zuspricht. Dass sie zu dieser FROHEN Botschaft ihr „Ja“ sagen, sich freuen und einwilligen, zur Familie Gottes gehören zu dürfen. „Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister. Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Jesu wahre Familie – wir gehören dazu!Liebe Gemeinde, heute sind wir das „Volk“, das sich um Jesus versammelt hat und seine Worte hört. Heute sind wir es, die Jesus seine Schwestern und Brüder nennt. Heute gilt uns die Zusage, dass auch wir einen Gott haben, der uns bedingungslos liebt und annimmt, wie Vater und Mutter. Dass auch wir zu einer weltweiten Familie gehören, mit Schwestern und Brüdern auf der ganzen Welt, die uns Jesus zur Seite stellt – und dass in der Gemeinschaft mit ihnen all unsere gesellschaftlichen, religiösen und nationalen Grenzen an Bedeutung verlieren. Freuen wir uns also darüber, liebe Gemeinde, von Jesus so angesprochen zu werden: "Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister! Die gehören zu mir – meine Familie!" Amen.
Liedvorschlag: Das sollt ihr, Jesus Jünger, nie vergessen (EG 221, 1-3)
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