13. Sonntag nach Trinitatis (30. August 2015)
Lukas 10, 25-37
Liebe ökumenische Gemeinde!
„Die Erzählung vom Barmherzigen Samariter hat Weltgeschichte gemacht. Sie hat die Kultur des Helfens geprägt wie keine andere.“ So hat es der frühere Berliner Bischof und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, einmal prägnant gesagt. „Die Erzählung vom Barmherzigen Samariter hat Weltgeschichte gemacht. Sie hat die Kultur des Helfens geprägt wie keine andere.“
Seit Jesus diese Geschichte vor zweitausend Jahren erzählt hat, ist der barmherzige Samariter zum Vorbild für Menschen geworden, die uneigennützig dort einspringen, wo ihre Hilfe gebraucht wird. Zum Maßstab nehmen ihn auch diejenigen, die beruflich den Opfern von Unfall oder Krankheit beistehen. Nicht nur in unmittelbar christlich geprägten Bereichen, sondern auch weit darüber hinaus beruft man sich dafür auf den Barmherzigen Samariter – wie der 1888 gegründete „Arbeiter-Samariter-Bund“ zeigt.
Dank der Geschichte vom barmherzigen Samariter hat die Pflicht, dem zu helfen, der sich selber nicht helfen kann, sogar Eingang in unsere Rechtsordnung gefunden: Sie stellt die „unterlassene Hilfeleistung“ unter Strafe. Jeder ist zur Hilfe bei Unglücksfällen, allgemeiner Gefahr oder Not verpflichtet, wenn Hilfe erforderlich und dem einzelnen zumutbar ist. Das ist der ganz große Bogen von zweitausend Jahren Wirkungsgeschichte eines der bekanntesten Gleichnisse Jesu.
Wir sind heute Morgen zusammengekommen, um eine Zeitstrecke zu betrachten, die nur ein Hundertstel umfasst und damit deutlich überschaubarer ist: Seit zwanzig Jahren gibt es die Initiative „Du&Ich für Menschen in Not e.V.“ in unserer Stadt Langenau – es wurde in diesen zwanzig Jahren von vielen Spender/innen eine beachtliche Geldsumme zur Verfügung gestellt, mit der wiederum eine beachtlich große Zahl von Unterstützungen in akuter Not gewährt werden konnte. Die Geschichte unserer Langenauer Initiative „Du&Ich für Menschen in Not e.V.“ und die Geschichte Jesu vom barmherzigen Samariter beleuchten sich wechselseitig.
Ein Mensch gerät unversehens in Not„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho.“ Ein Mensch – er wird überhaupt nicht näher beschrieben, es könnte jede und jeder sein, auch Du oder Ich. Dieser Mensch ist auf dem Weg zwischen den judäischen Städten Jerusalem und Jericho. Wenn man sich vor Augen führt, dass Jerusalem im judäischen Bergland auf einer Höhe von 750 Metern liegt, während man in Jericho in der Jordansenke etwa 400 Meter unterhalb des Meeresspiegels misst, dann wird verständlich, warum der Text vom „Hinabgehen“ spricht. Breit angelegte Straßen gab es damals noch nicht. Man benutzte die zum Jordanfluss hinführenden ausgetrockneten Flusstäler, die Wadis.
Gut möglich, dass Jesus an den Weg im Wadi Quelt gedacht hat, ein schmaler Fußsteig, der sich an den tiefen Abgründen des Flussbetts entlang zieht und für Mensch und Tier nur mühsam zurückzulegen ist. Auf solchen Wegen lauerten Gefahren. Die Zerklüftung erlaubte es Menschen blitzschnell auf- und unterzutauchen. Eine Verfolgung war nahezu aussichtslos. Ein ideales Gebiet für Räuber und Wegelagerer also. So wird es auf dieser Strecke immer wieder zu Überfällen gekommen sein. Wer von Jerusalem nach Jericho wollte, musste dieses Risiko eingehen. Unterwegssein auf der Lebensstraße überhaupt ist ja nie ohne Risiko zu haben.
Beim Menschen in Jesu Geschichte wird das theoretische Risiko zum praktischen Ernstfall: Er fällt unter die Räuber. Deutlich ist, dass die Räuber mit äußerster Brutalität vorgehen und den Menschen komplett ausrauben. Sie nehmen ihm buchstäblich noch das letzte Hemd.
Von jetzt auf nachher ist für den Menschen aus Jerusalem eine Situation eingetreten, die ihn mit ungeheurer Wucht auf den Boden geworfen und in große Not gebracht hat. So schnell und so gründlich kann die Not einen überfallen wie in der Geschichte Jesu. Und wir hören die Botschaft: „Schau nicht überlegen auf den herunter, der in Not geraten ist! Eben noch war er mitten im Leben und stand auf eigenen Beinen, jetzt liegt er im Graben. Was ihn traf, hätte auch dich treffen können.“
Du und Ich finden zusammenJesus schildert im weiteren Verlauf seiner Geschichte, wie nun drei Menschen am Überfallenen vorbeikommen. Alle drei Vorbeikommenden sehen den Menschen in Not, der verletzt am Straßenrand liegt.
Zwei Funktionsträger am Jerusalemer Tempel, ein Priester und ein Levit, sehen zwar den Überfallenen, schenken ihm aber keine weitere Beachtung: Als er ihn sah, ging er vorüber, heißt es von jeder dieser beiden Personen. Sie lassen sich von der Not des Überfallenen nicht berühren. Es schmerzt, dass mit dem Priester und dem Leviten zwei Menschen vorübergehen, die in ganz besonderer Weise um die lebensförderlichen Gebote Gottes wissen, die in ganz besonderer Weise um die Pflicht zur Hilfe aus Not wissen.
Anders der dritte, der an den Ort des Überfalls kommt. Er sieht den Verletzten, und dann heißt es: „Als er ihn sah, jammerte er ihn.“ Das zugrunde liegende griechische Wort ist ganz bildkräftig: „Es rührte ihn an seine Eingeweide.“ Das heißt, dieser Dritte lässt sich innerlich anrühren, er nimmt innerlich Anteil am Leid des anderen. Da finden Du und Ich zusammen.
Besonders provokant für Jesu jüdische Zuhörer war, dass dieser dritte ein Samariter war. Samariter und Judäer aber waren Todfeinde, seit der jüdische König Johannes Hyrkanus das Heiligtum der Samariter auf dem Berg Garizim zerstört hatte. Seither entweihten Samariter den Jerusalemer Tempelplatz immer wieder durch Ausstreuen von Knochen, das heißt, von totem, unreinem Material, und umgekehrt wurden in jüdischen Synagogen-Gottesdiensten die Samariter immer wieder öffentlich verflucht.
Der Samariter sieht den Überfallenen und er jammerte ihn, das heißt, ausgerechnet der, von dem man es am wenigsten erwartet hätte, hilft. Ausgerechnet der, von dem man es am wenigsten erwartet hätte, lässt das notleidende Du sein Herz finden. Zwischen diesen beiden geschieht’s, dass Du und Ich zusammenfinden.
Der Samariter als Vorbild spontaner diakonischer HilfeDer Samariter hilft spontan, mit einer tatkräftigen Erste-Hilfe-Notversorgung. Jesu Geschichte vom barmherzigen Samariter macht uns aufmerksam für den Menschen am Wegesrand, der jetzt unsere Hilfe braucht. Jesus gibt uns zu verstehen: „Geh hin und tue desgleichen; handle so wie der Samariter, übersieh den Menschen nicht, den Gott dir heute in den Weg gelegt hat und der jetzt deine Hilfe braucht.“
Da ist spontane Hilfe gefragt, und solche spontane Hilfe kann sein: die ersten hilfreiche Handgriffe zur Versorgung des in Not Geratenen, aber auch die Bereitschaft, zu spenden und finanziell in akuter Not zu helfen. Finanziell in akuter Not zu helfen, genau das hat sich ja die Langenauer Initiative „Du&Ich für Menschen in Not“ seit ihren Anfängen zum Ziel gesetzt. Mit den Mitteln aus „Du&Ich“ können zugefügte Wunden gewissermaßen erstversorgt werden, können erste Schritte zur Genesung eingeleitet werden, können Freiräume geschaffen werden, um längerfristige Rehabilitations-Maßnahmen in die Wege zu leiten.
Der Wirt als Personalisierung der organisierten und professionellen DiakonieUnd genau das tut ja der Samariter in Jesu Geschichte. Er leistet nicht nur spontan die Erste-Hilfe-Notfallversorgung am Unfallort, sondern sorgt auch noch für eine Rehabilitation in einer Herberge, indem er den Wirt als professionellen Helfer und Krankenpfleger einbezieht. So sehr der Samariter sich also von der Not des Verletzten anrühren lässt, so wenig steht er in der Gefahr, sich selbst in seinem Hilfshandeln zu verlieren oder gar auszubrennen. In der Geschichte muss der Samariter weiterziehen. Er gibt dem Wirt Geld für die weitere Pflege und macht dessen Herberge somit zu einem „Diakonischen Dienstleistungsbetrieb“.
Jesu Geschichte vom Samariter und vom Wirt macht uns also auch dankbar und aufmerksam für die organisierte Diakonie. Jesu Gleichnis macht uns aufmerksam für die Frauen und Männer, die in den diakonischen Einrichtungen unseres Landes und unserer Stadt kontinuierlich und verlässlich professionelle Hilfe leisten, in der Diakonischen Bezirksstelle mit Schuldnerberatung, in der Bruderhausdiakonie, aber auch im Diakonieladen und im Tafelladen, beim Roten Kreuz und im ASB und… und… und.
Was müsste man strukturell verändern, damit Menschen erst gar nicht zu Räubern werden?Es ist gut, dass wir mit „Du&Ich“ in akuten Situationen helfen können, wie es der Samariter tat. Als der Samariter mit dem Überfallenen die Herberge erreicht hat und den Verletzten in andere Hände abgeben konnte, hat er vielleicht einige Momente Zeit gehabt, sich die Frage zu stellen: „Was müsste man tun, um den Weg von Jerusalem nach Jericho sicherer zu machen, so dass Menschen überhaupt nicht mehr unter die Räuber fallen? Was müsste man tun, um auch die Räuber wieder in geregelte Arbeitsverhältnisse zu bringen?“
Unschwer können wir diese Gedanken des Samariters auf unsere Zeit übertragen und fragen: „Was müsste geschehen, dass wir die tolle Einrichtung ‚Du&Ich‘ gar nicht mehr bräuchten, weil alle genügend zum Leben haben?“ Die Armut als solche zu bekämpfen, das überschreitet die Möglichkeiten des Einzelnen, dafür braucht es gute politische Weichenstellungen – und Jesus hat einmal eindrücklich gesagt: „Arme habt ihr allezeit bei euch…“ Das heißt nicht, dass wir nicht an der Zurückdrängung der Armut arbeiten sollten. Aber es heißt sehr wohl, dass wir die segensreiche Einrichtung „Du&Ich“ weiterhin gut pflegen, dass sie auch künftig viele akute Nöte überwinden und Sorgensteine abnehmen hilft.
Im Handeln des Samariters wird Jesu Handeln sichtbarEin letztes: Für Christenmenschen wird im Handeln des Samariters, den der Überfallene jammert, Jesus Christus selber sichtbar. Er ist der, der uns Menschen in unseren vielfältigen Nöten sieht und der sich diese Nöte zu Herzen gehen lässt, den sie jammern. Jesus Christus ist es, der sich zu uns herabbeugt, helfend und heilend. Und der eine Bewegung in Gang setzt: Dass die von Jesus Christus erfahrene Barmherzigkeit sich in barmherzigem Handeln untereinander fortsetzt.
Martin Luther hat das in seiner programmatischen Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ sehr schön so beschrieben: „Ich will meinem Nächsten gegenüber auch eine Art Christus werden, wie Christus es mir geworden ist, und will nur noch das tun, wovon ich sehe, dass es ihm nötig, nützlich und heilbringend ist… Denn gleicherweise, wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben wir vor Gott Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Darum, wie Gott uns durch Christus umsonst geholfen hat, so wollen wir mit dem Leib und seinen Werken nichts anderes tun als dem Nächsten helfen.“
Wohltuend eindeutig und unmissverständlich legt Jesus Christus es uns ans Herz: „Geh hin und handle wie der Samariter.“
Amen.
Anmerkungen zur Predigt und Literaturangaben
Die vorgelegte Predigt wurde (in etwas ausführlicherer Form) im ökumenischen Gottesdienst anlässlich des Festakts „20 Jahre Initiative Du&Ich für Menschen in Not e.V.“ am 14.09.2014 in der Martinskirche in Langenau gehalten.
Zu neuer Freude an der Beschäftigung mit diesem scheinbar so bekannten Gleichnis Jesu haben mir verholfen und wurden in dieser Predigt verarbeitet: Wolfgang Huber, Der christliche Glaube. Eine evangelische Orientierung, Gütersloh 2008, dort S. 110ff zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter; Ruben Zimmermann, Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter), Lk 10, 30-35, in: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, S. 538 ff.
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