12. Sonntag nach Trinitatis (27. August 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer Markus Lautenschlager, Nürtingen [MarkusLautenschlager@gmx.de]

Jesaja 29,17–24

IntentionInmitten der großartigen zukünftigen Heilstaten Gottes, der paradiesischen Verwandlung der Natur und der Überwindung der Gesetzlosigkeit findet sich ein Detail gegenwärtiger alltäglicher Erfahrung (wohl eine spätere Glosse): Es sind die Kinder (Vers 23). Sie sind Gottes Werk und Geschenk an uns. Wenn wir das nur sehen könnten. Vieles verfinstert unseren Blick. Ein Kind aber erhellt ihn: Jesus. Und er bleibt nicht allein. Das lässt uns hoffen. Möge die Predigt dazu beitragen, dass wir Jesus sehen und durch ihn Gottes Gegenwart in allen Kindern und darüber hinaus.

Predigttext Jesaja 29, 17-24 (Luther 2017)Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.
Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.
Darum spricht der Herr, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.

Liebe Gemeinde,
es sind die Kinder. Das will mir einleuchten. „Jedes Kind“ – so der bengalische Philosoph und erste asiatische Nobelpreisträger für Literatur, Rabindranath Tagore (1861-1941) – „Jedes Kind bringt die Botschaft, dass Gott die Lust am Menschen noch nicht verloren hat.“
Es sind die Kinder mit ihrer Lebenslust, ihrer Neugier, ihrem Bewegungsdrang, ihrem Lachen, ihrer Arglosigkeit, ihrem Humor, ihrem Urvertrauen und ihrem Willen, es gut zu machen, und ihrem Stolz, wenn sie es geschafft haben. Ich freue mich an meinen Enkeln und betrachte es als ein Vorrecht, von Berufs wegen jede Woche mit Grundschülern und Konfirmanden zusammen zu sein.
Wir müssen nur hinsehen und zuhören. „Wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte …“
Frederik zum Beispiel, der behände wie ein Äffchen die äußerste Spitze des Kletterbaums erklommen hat und mir zuwinkt. Oder Benedikt und Valentin, die auf dem Pausenhof mit großem Ernst ihre Pokémon-Karten tauschen. Oder Kylie mit den violett gefärbten Haaren, von der ich mit wachsendem Staunen erfahre, dass sie mit ihrer Mutter den serbisch-orthodoxen Gottesdienst besucht. Und dass sie nicht nur kirchenslawisch versteht, sondern auch fließend italienisch spricht, weil sie vier Jahre in Mailand gelebt hat.
Es sind die Kinder, die meinen Hang zur melancholischen Resignation hinwegwischen und mich verjüngen.
„Wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte …“

Nun vermutet die fachgelehrte Exegese mit guten Gründen, die Kinder seien erst später in das Prophetenwort eingefügt worden. Die Werke der göttlichen Hände seien also ursprünglich nicht die Kinder gewesen, sondern „Gottes außerordentliche Taten beim Anbruch der Heilszeit“ (Wildberger, S. 1144).
Man mag hier mit Jesaja 40,3f an die göttliche Schöpferkraft denken, die mit der Leichtigkeit eines Wortes eine topfebene Straße von Babel nach Jerusalem erbaut: „Ebnet in der Steppe eine Straße unserm Gott! Jedes Tal hebe sich, und jeder Berg und Hügel senke sich.“ Und diese Prachtstraße soll durch eine paradiesisch üppige Vegetation führen: Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt (…) und wird euch helfen.“ Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande (vgl. Jesaja 35, 1ff). Angesichts solch spektakulärer Wunder würden dann sogar die Verblendeten sehen und die Tauben neu hören, wer Gott ist und was er vermag, und endlich den Gott Israels ehren, seinen Namen heiligen und ihn fürchten.

Bis heute warten Christen – vergeblich? – auf das zweite Kommen Jesu in Herrlichkeit, das schlagartige Ende der Geschichte, das Jüngste Gericht und den Neuen Himmel und die Neue Erde, in der „der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz“ (Offenbarung 20,4). Dann, am Jüngsten Tag, „dann wollen wir erfahren, was Gott ist und vermag“ (EG 148,2).
Nun aber sagt die deutende Glosse: Die machtvollen Heilstaten Gottes sind – die Kinder in unsrer Mitte. Das ist bescheiden und zugleich befreiend. Ich muss meine kritischen Fragen nicht totschlagen und ein vormodernes Weltbild akzeptieren, um hoffen zu dürfen. Und es ist sehr nahe, gleichsam die große Hoffnung in alltagstauglicher Währung. Nicht erst dann und dort, sondern hier und jetzt ist Gott am Werk. Denn sie sind ja da, in unserer Mitte, die Kinder und Jugendlichen, meine Enkel und Frederik und Kylie.
„Jedes Kind bringt die Botschaft, dass Gott die Lust am Menschen noch nicht verloren hat.“
Diese Botschaft richtet sich an eine kranke Gesellschaft. Sie leidet darunter, dass Macht vor Recht geht. Zu viele sind darauf aus, „Unheil anzurichten“. Zu viele tun nichts dagegen, sondern gefallen sich in spöttelndem Zynismus. Politik und Justiz sind korrupt. Die Zivilgesellschaft ist schwach.
Es mag offenbleiben, in welcher Zeit unsere Prophetenworte zum ersten Mal erklangen. Für mich sind Parallelen zu heute erkennbar.

Ambra Monterosso, pensionierte Kommissarin der Staatspolizei in Catania auf Sizilien, schreibt im Jahr 2020 über ihre Heimatstadt: „Hier in Catania werden die Regeln weder im Kleinen noch im Großen eingehalten. Diese Stadt lebt in der Illegalität, in der großen Illegalität der Mafia, aber auch in der banalen und weitverbreiteten Widerrechtlichkeit wie beispielsweise der des Händlers, der jeden Morgen um acht die alten Verpackungen und Pappkartons vor die Tür wirft, gleichgültig, wie viel Schmutz er dadurch verursacht.“
Eine Besserung, so ihre Überzeugung, kann nur von der nächsten Generation, von den Kindern kommen. „Die Legalität muss in der Schule gelehrt werden. Es geht darum, den Respekt gegenüber kleinen und großen Regeln zu vermitteln. Das beginnt beim eigenen Benehmen und dem Respekt gegenüber dem andern und endet bei den Normen des Strafgesetzbuches“ (Scollo, S. 34).
Die Hoffnung ruht auf den Kindern. Auf allen? Das mag angesichts der bedrückenden Erfahrungen, die Silke Müller in ihrem Buch „Wir verlieren unsere Kinder!“ schildert, dahingestellt bleiben.
Wir Christen glauben, dass zumindest ein Kind uns Hoffnung macht.

„Und er, der gottesfürchtige Greis Simeon, kam vom Geist geführt in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach:
Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren,
wie du gesagt hast;
denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen,
das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern,
ein Licht zur Erleuchtung der Heiden
und zum Preis deines Volkes Israel.“ (Lukas 2,27–32)

„Wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen.“
Das ist groß.
Ist es genug?
Oder ist Jesus letztlich doch an uns gescheitert? Ist er vergeblich gestorben?
Angesichts der vielen Polizisten und Richter, die durch die Mafia ermordet wurden, fragt sich Ambra Monterosso, ob die Sizilianer diese Opfer, die für die Gesetzlichkeit in ihrem Land erbracht wurden, verdient haben. Und fügt an: „Ich nehme meinen Mitbürgern in dieser Hinsicht vieles übel, natürlich mit den gebotenen Ausnahmen“ (S. 34f).
Sind Carlo Alberto dalla Chiesa (ermordet am 3.9.1982), sind Giovanni Falcone (ermordet am 23.5.1992) und Paolo Borsellino (ermordet am 19.7.1992) vergeblich gestorben?
Doch dann denkt sie an die Kämpfe gegen die Umweltzerstörung und an die Unbeugsamkeit von Danilo Festo und an einen anderen jungen Mann, Matteo Iannitti, der in Catania unermüdlich für die Legalität streitet. Sie denkt an ihre alten Gefährten aus der Zeit der Studentenkämpfe, alle jetzt schon über 60, die ihren Idealen treu geblieben sind. Sie denkt an die Lehrerinnen und Lehrer, die bisher von jeder Regierung brüskiert wurden und ihre Aufgabe trotzdem voller Leidenschaft weiterführen. Sie denkt an die Jugendlichen des Gemeindezentrums Colapesce, die dort eine Hausaufgabenbetreuung eingerichtet haben. Ihnen allen dankt sie und ruft ihnen zu: „Gebt nicht auf, macht weiter. Ihr seid das Licht Siziliens“ (S. 37).

Ich singe jeden Mittwoch mit meinen Konfirmanden:
„Christus, dein Licht verklärt unsre Schatten,
lasse nicht zu, dass das Dunkel zu uns spricht.
Christus, dein Licht erstrahlt auf der Erde,
und du sagst uns: Auch ihr seid das Licht!“ (NL plus, Nr. 11)
Amen.

Verwendete Literatur:
Werner Grimm / Kurt Dittert, Das Trostbuch Gottes (Jes 40–55) und: dies., Deuterojesaja, Stuttgart 1990; Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder!, München 2023; Etta Scollo, Voci di Sicilia. Eine Reise durch Sizilien, Wiesbaden 2020; Hans Wildberger, BK.AT, Bd. X/3, Jesaja 28–39, Neukirchen-Vluyn 1982.

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