10. Sonntag nach Trinitatis (08. August 2021)
Pfarrer Dr. Lukas Lorbeer, Maulbronn [lukas.lorbeer@elkw.de ]
2. Mose 19, 1-6
IntentionZiel der Predigt ist ein umfassendes Verständnis dafür, auf welche Weise Christinnen und Christen Israel als dauerhaft erwähltes Volk Gottes begreifen können; dass Jüdinnen und Juden Teil unseres Landes sind, auch wenn man vielleicht selbst keine kennt, und dass Solidarität mit ihnen von christlicher Seite gefragt ist; dass sie selbst Teil des ‚erweiterten‘ Gottesvolkes sind; dass Gottes Verheißung Juden und Christen, letztlich aber der ganzen Erde gilt.
19,1-6 Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.
Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.
NiemandslandSie sind: irgendwo im Nirgendwo, im Niemandsland. Niemand interessiert sich für diese abgelegenen Berge, niemand kommt hier vorbei. Und genau hier ist der staubige Menschenzug auf seinem Fußmarsch gelandet: Niemande im Niemandsland.
Vorher waren sie niemand – Sklaven sind ja nichts wert. Jetzt sind sie niemand – denn niemand weiß, dass sie hier sind, niemand heißt sie willkommen. Sie sind frei – aber sie sind ohne Staat, ohne Ort, ohne Rechte. Niemanden interessiert es, wenn das versprengte Häuflein nicht aus der Wüste zurückkommt. Eigentlich müsste die Geschichte an dieser Stelle zu Ende sein, die Spur der befreiten Sklaven sich im Sande verlieren.
Aber über die Geflüchteten haben sich schützende Flügel gebreitet. Hier im Nirgendwo auf dem Berg hört Mose die Stimme, die sagt: Ihr seid hier, weil ich es wollte. Ihr seid nicht verloren. Ihr gehört mir. Denn alles, ihr und dieser Berg im Niemandsland und alle Völker und die ganze Erde, ist mein.
Ein neues LandIrgendwo im Nirgendwo, auf einem Stück Land, das ihnen keiner gegönnt hat, gründeten mutige Leute vor 73 Jahren einen Staat. Ein winziges Land, das eigentlich keine Chance hatte: Israel.
Sie wagten es trotzdem. Sie erinnerten sich, wie Gott mehr als dreitausend Jahre zuvor am Sinai zu den davongelaufenen Sklaven gesagt hatte: Ihr sollt mein Eigentum sein. Es muss doch möglich sein, sagten sie sich, dass das versprengte Häuflein eine Heimat bekommt, einen jüdischen Staat. Einige von ihnen waren schon länger da. Einige brachten ihre Träume, ihren Schwung, ihre Hoffnung aus Amerika mit. Einige waren mit letzter Not der Vernichtung durch Deutschland entkommen und waren ohne Staat, ohne Ort, ohne Papiere schließlich hier in Palästina gelandet.
Wahrscheinlich fragten sich manche von ihnen: Warum hat Gott uns auf Adlerflügeln hierher getragen? Warum sind wir es, die überlebt haben, nicht unsere getöteten Schwestern, Brüder, Freunde?
Eine Antwort darauf gab es nicht. Aber es gab dieses winzige, neue Land, in dem Gottes Volk nach der unvorstellbaren Vernichtung zaghaft zu grünen begann; und Gott sei Dank: Dieses Land gibt es bis heute.
An der BushaltestelleIrgendwo im Nirgendwo in der deutschen Provinz: ein Dorf, das kaum einer kennt. Ein junger Mann geht die Straße entlang, setzt sich an die Bushaltestelle. Plötzlich stehen links und rechts von ihm zwei Typen in schwarzen Jacken. „Steh auf, du Jude! Du nimmst uns den Platz weg! Was willst du hier überhaupt?“ Die Angst schießt in ihm hoch, er springt auf. „Hau ab und lass dich nie mehr hier blicken!“ Gott sei Dank, der Bus kommt. Er steigt fluchtartig ein, eine riesige Wut im Bauch und die Frage: Was wäre als nächstes passiert?
Am Montag geht er zur Polizei und gibt eine Anzeige auf. „Ja“, sagt die Polizistin und schaut ganz ernst, „das ist natürlich auch leichtsinnig, wenn Sie dort einfach herumlaufen und öffentlich eine Kippa tragen.“ Er hört es und kann es nicht fassen und fragt sich: Bin ich denn hier im Niemandsland?
Die Verbindung zur WurzelDer Israelsonntag erinnert an das Versprechen Gottes damals an Mose, mitten im Niemandsland: „Ihr sollt mein Eigentum sein vor allen Völkern, ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk.“
Der Israelsonntag erinnert daran: Gottes heiligem Volk sind wir als Christinnen und Christen besonders verbunden. Unser Glaube ist aus dieser Wurzel gewachsen. Wäre die Spur der hebräischen Sklaven damals in der Wüste im Sand verlaufen, hätte Gott sie nicht auf Adlerflügeln gerettet – es gäbe auch uns nicht, wir säßen heute nicht hier.
Der Israelsonntag ist auch ein Anlass zu fragen: Wo leben Jüdinnen und Juden eigentlich heute? Israel ist ein jüdischer Staat. Noch einmal so viele Menschen jüdischen Glaubens leben aber in anderen Ländern. In Deutschland feiern wir in diesem Jahr sogar ein Jubiläum: Jüdisches Leben gibt es hier seit 1700 Jahren. Nur über die Gegenwart wissen wir meistens nicht viel. Dabei ist es ganz einfach: Jüdinnen und Juden fahren hier mit dem Zug, gehen zur Schule, feiern Feste, gehen zum Einkaufen, treffen sich mit ihren Freunden und gehen zur Wahl – ganz in unserer Nähe. Israel ist für sie so weit weg wie für uns. Wo sie Angriffen und abstrusen Verdächtigungen ausgesetzt sind, ist die Solidarität von uns Christinnen und Christen gefragt. Denn wir teilen mit ihnen den Glauben an den rettenden Gott. Ihm gehört diese Erde und nicht den Menschen.
Vom Dorf in die WeltIrgendwo im Nirgendwo, irgendwo in einem Dorf in der Provinz, wird ein Junge geboren, ein kleiner Junge mit jüdischen Eltern. Mit knapper Not entgeht er der Gewalt und der Willkür, mit denen der Herrscher das Land überzieht. Hals über Kopf flüchtet die junge Familie vor der Verfolgung. Im fremden Land sind sie niemand, haben kein Haus, keinen Ort, keine Papiere; aber Gott sei Dank, das Kind ist in Sicherheit. Schützende Flügel haben sich darüber gebreitet.
Der Junge wird größer, hört samstags in der Synagoge von der Befreiung durch den rettenden Gott. Er setzt sich mit vielen Menschen an einen Tisch, teilt mit ihnen das Brot und hört ihnen zu. Er heilt mit seinen Händen und seinen Worten. Er feiert Passa und die anderen jüdischen Feste. Er setzt sich der Gewalt der Mächtigen aus und stirbt am Ende daran.
Und dann wird er selbst zum Inbegriff für Gottes befreiendes Handeln. Auf Adlerflügeln bringt Gott seinen Sohn ins Leben zurück. Und die, die dabei sind, tragen den Bund mit dem rettenden Gott in die Völker hinaus: Bis an die Enden der Erde werden Menschen auf den Namen Jesu getauft.
Zwischen Gestern und MorgenIrgendwo im Nirgendwo zwischen Gestern und Morgen sitzen wir heute und feiern. Hier sind wir heute gelandet, hier sind wir willkommen. Trotzdem: auch dieser Sonntag bleibt ein bisschen im Nirgendwo. Das ist eine Erkenntnis der Pandemiezeit: Wir haben vielleicht eine Idee, was kommen könnte, aber wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Wir sind auf den Namen Jesu getauft.
Heute denken wir an die Geschichte von damals. Ist diese Geschichte zu Ende? Nein, ist sie nicht. Was Mose damals im Gebirge gehört hat, das hören wir heute: „Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.“
Die Spur verläuft nicht im Sand. Nicht die Spur von Gottes Volk und auch unsere nicht. Gott sagt: „Ihr sollt mein Eigentum sein.“ Gott findet seine Kinder im Niemandsland, auf den höchsten Bergen, in den entlegensten Dörfern. Für Gott gibt es kein Nirgendwo. Denn Gott kann von sich sagen: „Die ganze Erde ist mein.“ Amen.
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