1. Sonntag nach Weihnachten (29. Dezember 2024)
Pfarrerin Dr. Karoline Rittberger-Klas, Tübingen [karoline.rittberger-klas@elkw.de]
Matthäus 2,13-18 (19-23)
IntentionDie Predigt soll zeigen: Auch nach Weihnachten gibt es Gewalt und Schrecken und Leid. So ist die Welt. Leider. Die schreckliche Geschichte vom Kindermord in Bethlehem aber zeigt: Ein Kind lebt – Jesus. Und mit ihm bleibt Gott bei seinen Menschen, trotz Leid und Krieg und Tod. Er vergisst keinen.
„Steh auf .. und flieh!“ – Keine Ruhe zwischen den JahrenLiebe Gemeinde, haben Sie es sich ein bisschen gemütlich gemacht zwischen den Jahren? Der Weihnachtstrubel ist vorbei, bis Silvester sind es noch ein paar Tage hin. Bei vielen ist Ruhe eingekehrt.
Vielleicht auch bei der jungen Familie in Bethlehem: Die Geburt unter schwierigen Umständen ist überstanden, das Neugeborene wird langsam kräftiger. Der hohe Besuch aus der Ferne ist wieder fortgezogen – aber er hat doch einen gewissen Glanz in die ärmliche Behausung gebracht. Ich stelle mir vor, dass sie sich gerade ein wenig häuslich eingerichtet haben in ihrer Notunterkunft… Aber umsonst! Ihnen ist keine weihnachtliche Ruhe gegönnt. Der besorgte Vater sieht das Unheil voraus. Er schläft schlecht – und träumt. Hören Sie selbst – ich lese aus dem Matthäusevangelium im 2. Kapitel die Verse 13-18:
„Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.
Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht Hos 11,1: ‚Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.‘
Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht Jer 31,15: ‚In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.‘"
„Viel Weinen und Wehklagen“ – Joseph, Miron und JesusDas eine Kind, es ist gerettet. Der kleine Jesus lebt, Gott sei Dank. Er ist gerettet, weil seine Familie im letzten Moment die Flucht ergriffen hat und in die Fremde gezogen ist. Genau wie auch heute viele Familien versuchen, ihre Kinder zu retten vor Verfolgung, Krieg oder Hunger.
Das eine Kind ist gerettet, Gott sei Dank. Aber: Die Rettung des kleinen Jesus ist der Untergang für viele andere Kinder, weil der angstgetriebene und machtbesessene König in Jerusalem seine Herrschaft bedroht sieht – von Kleinkindern. Um seine Macht zu erhalten, ist Herodes keine Grausamkeit zu groß. Wenn er das eine Kind nicht zu fassen bekommt, dann müssen eben alle Kinder unter zwei Jahren in Bethlehem und Umgebung sterben. Was für ein Wahnsinn! Mütter schreien und weinen um ihre Kinder und sind nicht zu trösten.
Nein, das ist keine herzerwärmende Weihnachtsgeschichte, die wir heute gehört haben, sondern eine sehr verstörende. Und eine, die sich leider immer wieder ereignet. Damals in Ägypten in der Zeit von Mose, als erst die neugeborenen Jungen der Israeliten sterben mussten – und später die ältesten Söhne der Ägypter. Damals im Krieg gegen die Babylonier, den der Prophet Jeremia erlebt hat, der in unserem Text zitiert wird. Und auch heute noch, überall dort, wo Kinder und ihre Familien Opfer von Machtspielen werden, wo sie in Gewaltspiralen geraten, denen sie nicht entkommen können:
[Der folgende Abschnitt muss je nach aktueller Lage um Weihnachten 2024 aktualisiert werden. Es können andere Beispiele gewählt werden, die entweder aktueller sind oder sich im Kontext der Gemeinde nahelegen. Dasselbe gilt am Ende der Predigt für die Hoffnungsmenschen.]
Da ist Joseph. Er war 6 Monate alt, als er mit seiner Mutter und rund 100 weiteren Menschen auf der Flucht aus Libyen aus dem Mittelmeer gerettet wurde. Doch die Hilfe kam zu spät für ihn. Joseph starb am 12. November 2020 an Bord des Rettungsschiffs. Er wurde auf der Insel Lampedusa beerdigt. Wo er herkam und was seine Mutter zur Flucht getrieben hat, wissen wir nicht.
Da ist Miron. Beim Bombenangriff auf die Geburtsstation des Krankenhauses Mariupol in der Ukraine am 9. März 2022 wurde seine Mutter schwer verletzt. Ein Foto von ihr ist um die Welt gegangen. Miron wurde kurz darauf tot geboren. Seine Mutter starb eine halbe Stunde später.
„Der Engel des Herrn erschien“ – und wenn nicht?Der Engel des Herrn, der Josef, den Vater von Jesus, in Bethlehem warnte – wo war er, als der kleine Joseph auf dem Mittelmeer starb? Und die anderen alle…? Das ist eine Frage an Gott, die in der Geschichte aus dem Matthäusevangelium nicht gestellt wird. Die späteren Ausleger aber haben mit der Erzählung vom Tod der Kinder gerungen. Sie haben versucht, einen Sinn zu finden – und schließlich gesagt: Die Kinder, die Herodes zum Opfer gefallen sind, waren Märtyrer. Sie haben ja ihr Leben verloren, um das von Jesus zu retten. Deshalb haben sie in der Kirche sogar einen eigenen Gedenktag bekommen: Den „Tag der Unschuldigen Kinder“. Gestern, am 28. Dezember, konnte er – auch in der Evangelischen Kirche – begangen werden.
Kinder, die ihr Leben für Jesus gegeben haben... Ich kann so nur schwer denken. Sie hatten ja keine Wahl. Und außerdem: Sollte ihr Leid doch einen Sinn gehabt haben – was ist dann mit dem von Joseph und Miron und all den anderen? Ich glaube es ist eher andersherum. Nicht die unschuldigen Kinder sind für Jesus gestorben. Sondern Jesus, der hier als Kind überlebt, stirbt später am Kreuz – genauso unschuldig – für sie und mit ihnen allen. Er leidet und stirbt an der Seite von allen Kleinen und Großen, die sinnlos leiden und sterben – damals wie heute.
Ich vergesse dich nie – hat Gott zu seinem Volk gesagt. So haben wir in der Schriftlesung aus dem Buch Jesaja gehört: Ich vergesse dich nie. So wie eine Mutter ihr Kind nie vergisst. Und selbst wenn das geschehen sollte: Ich, Gott, vergesse dich sicher nicht. Denn ich haben dich in meine Hände gezeichnet. (Jes 49, 13-16)
Das hat Gott durch den Propheten Jesaja sein Volk wissen lassen. Und in Jesus, in seinem Leben und Sterben, zeigt Gott das allen Menschen: Nie werde ich eines meiner Menschenkinder, ob jung oder alt, vergessen. Auch nicht Joseph und Miron. Auch nicht die, von denen du schon Abschied nehmen musstest in deinem Leben. Und auch dich nicht – egal, wie verloren du dich fühlst. Nie werde ich von der Seite weichen, sondern bleiben – bis ans Ende Welt.
Das ist mein Trost für Joseph, Miron und mich selbst: Jedes Menschenkind ist in Gottes Hand geschrieben. Und Gott bleibt bei ihm im Leben und im Tod. Mit diesem Trost geht die Geschichte weiter. Hören wir noch einmal aus Matthäus 2 die folgenden Verse (19-23):
„Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum in Ägypten und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und zieh hin in das Land Israel; sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben getrachtet haben.
Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich und kam in das Land Israel. Als er aber hörte, dass Archelaus in Judäa König war anstatt seines Vaters Herodes, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und im Traum empfing er einen Befehl und zog ins galiläische Land und kam und wohnte in einer Stadt mit Namen Nazareth, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen.“
„Dass erfüllt wurde, was gesagt ist“ – die Hoffnung lebt!Das eine Kind, es ist gerettet. Jesus lebt, Gott sei Dank. Er überlebt, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Und mit ihm lebt die Hoffnung. Die Hoffnung, dass die Tyrannen nicht das letzte Wort haben. Dass Gott die Gewaltigen vom Thron stößt und die Niedrigen erhebt, wie wir vorhin mit Maria gebetet haben (vgl. Magnificat, EG 761) „Gott füllt die Hungrigen mit Gütern, und die Reichen lässt er leer ausgehen.“
Jesus lebt – und mit ihm lebt die Hoffnung, dass das Leben stärker ist als der Tod. Gott sei Dank gibt es auch heute überall auf der Welt Menschen, die aus der Hoffnung Kraft schöpfen. Und sich mit dieser Kraft dafür einsetzen, dass Kinder leben dürfen. Mutige Frauen und Männer, die in Russland weiter gegen Putins Krieg in der Ukraine protestieren – unter größter Gefahr für das eigene Leben und die eigene Freiheit. Frauen und Männer, die auf Rettungsschiffen durchs Mittelmeer kreuzen oder als „Ärzte ohne Grenzen“ in Krankenhäusern in Kriegsgebieten arbeiten. Aber auch – weniger dramatisch, aber genauso wichtig – Beraterinnen, die Schwangeren manchmal neue Wege aufzeigen können, damit sie sich doch für ihr Kind entscheiden können. Oder Mitarbeiter in Jugendämtern, die oft schwere Entscheidungen fällen müssen, bei denen es nicht selten um die Unversehrtheit von kleinen Kindern geht.
Und ich glaube: Auch wir, Sie alle und ich – sind Teil dieser Hoffnungsgeschichte. Überall da, wo wir uns politisch engagieren für eine gerechtere Welt. Jedes Mal, wenn wir etwas von unserem Reichtum abgeben, damit woanders geholfen werden kann. Wenn wir uns beruflich oder ehrenamtlich für Kinder einsetzen. Ja, auch jedes Mal, wenn wir auch nur einem Kind Lächeln ins Gesicht zaubern – egal, wo es herkommt.
Deshalb: Erzählen wir sie weiter, die Hoffnungsgeschichte von dem einen Kind, das überlebt hat. Weil es die Geschichte von Gott ist, der keines seiner Menschenkinder vergisst. Der uns in seine Hand gezeichnet hat. Und der uns braucht, um seine neue Welt in Frieden und Gerechtigkeit zu bauen.
Halten wir fest an dieser Hoffnung – für Joseph, für Miron und für alle Menschenkinder dieser Welt. Amen.
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