1. Sonntag nach Trinitatis (19. Juni 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin i.R. Gertrud Hornung, Aulendorf [gertrudjohanna@gmx.de]

Lukas 16,19-31

IntentionDie Predigt weitet den durch antike Bilder geschaffenen Dualismus von Diesseits und Jenseits, Himmel und Hölle. Wo finden sich Spuren des Reiches Gottes bereits im Hier und Jetzt? Lukas 16 zeigt das Spiegelbild unserer „verkehrten“ Welt und je nachdem auch des persönlichen Lebens. Statt einer Vertröstung aufs Jenseits wird nach einer möglichen Deutung für die gegenwärtige Zeit gesucht. Der reiche Mann hat keinen Namen; daraus folgt: Er kann viele Namen tragen. Der Name Lazarus, „Gott hat geholfen“, deutet einen Weg zur Gottesbegegnung über den armen Bruder, die arme Schwester sowie über unsere eigene innere Armut an.

Fast wie im MärchenFast wie im Märchen, so beginnt unser Predigttext. Auch Märchen sind oft Weisheitsgeschichten, die uns einen Spiegel unserer Wirklichkeit vorhalten. Sie erzählen von Reichtum und Armut, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Gemeinschaft und vom Ausgegrenzt-Werden in bildhaften Geschichten. So auch das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus in Lukas 16,19-31:

„Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Ein Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Tür. Der war voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen von dem, was von des Reichen Tisch fiel, doch kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.
Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. Und in all dem besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.“

Wünsche nach ausgleichender GerechtigkeitGibt es eine ausgleichende Gerechtigkeit, wenn nicht auf der Erde, dann wenigstens als Himmel und Hölle? Dieser Gedanke könnte einem beim Hören dieser Geschichte kommen. Gemischt mit etwas Schadenfreude oder mit der Hoffnung, dass böse Menschen eben irgendwann doch noch bestraft werden. Dass Gott allen Menschen gnädig ist und alle Schuld vergibt, dieser Gedanke ist mit unserem menschlichen Gerechtigkeitsempfinden schwer zu vereinbaren. Manchem Menschen will man nicht einmal im Himmel begegnen.
Die antiken Bilder von Himmel und Hölle passen zwar nicht in unsere Zeit. Aber dennoch bedienen sie eine menschliche Sehnsucht nach ausgleichender Gerechtigkeit. Wenn es diese schon nicht zu Lebzeiten gibt, dann sollen sich wenigstens nach dem Tod, im Jenseits, die Verhältnisse umkehren.

Vertröstung auf ein Jenseits wäre ein schwacher TrostDoch was nützt eine Vertröstung auf das Jenseits? Das Besondere des christlichen Glaubens ist die Hoffnung, dass das Reich Gottes bereits im Hier und Jetzt anbricht und Wirklichkeit ist.
Vertröstung auf das Jenseits wäre ein schwacher Trost zum Beispiel für Menschen, die täglich in Mülleimern nach leeren Pfandflaschen suchen, um wenigstens ein paar Cent zu erlösen. Es wäre ein schwacher Trost für Menschen, die sich in Containern von Supermärkten weggeworfener Lebensmittel bedienen und Angst vor dem Erwischt-Werden haben, weil sie sonst bestraft werden. Es wäre ein schwacher Trost für Menschen, deren Not so groß ist, dass sie es wagen, an den Türen von Wohlhabenden um Geld oder Lebensmittel zu betteln und dabei riskieren, dass sie schroff abgewiesen werden. Nur selten treffen wir diese Menschen in unseren Gottesdiensten. Sie hören die Geschichte also gar nicht. Wenn überhaupt, dann sitzen sie bettelnd vor der Kirchentür. Die Chance, etwas abzubekommen, ist klein, denn der Opferzweck wurde bereits für andere Projekte festgelegt.
Diese wenigen Bespiele zeigen, in welch verkehrter Welt wir leben. Mit dem Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus hält uns Jesus einen Spiegel hin. Darin sehen wir in Bildern die Wirklichkeit dieser verkehrten Welt. Gleichzeitig entdecken wir, dass sich in diese, unsere verkehrte Welt die Wirklichkeit von Gottes Reich gemischt hat. Die Geschichte lädt uns ein, Spuren des Evangeliums, der frohen Botschaft, in den Personen vom reichen Mann und vom armen Lazarus zu suchen.
Ein dualistisches Denken in Gut und Böse, Arm und Reich, Schwarz und Weiß, Himmel und Hölle hilft oft nicht weiter. Stattdessen wollen die verwendeten Bilder in ihrer Tiefe betrachtet und gedeutet werden. Dazu folgende Impulse.

Der Reiche lebt für sichZwischen dem Reichen und dem armen Lazarus gibt es scheinbar keine Verbindung, weder im Leben noch im Tod. Es ist von einer großen, unüberwindbaren Kluft die Rede. Jeder lebt in seiner Welt.
Moralisch ist dem Reichen nichts vorzuwerfen. So wie er beschrieben wird, passt er nicht in das Bild eines bösen Machthabers, eines Ausbeuters oder gar eines Kriegstreibers. Unbeschwert und in Freuden genießt er sein Leben im Wohlstand. Dieser Mensch scheint keinem etwas zuleide zu tun. In seiner Welt ist alles in Ordnung. Was draußen geschieht, interessiert ihn wenig. Seine Tür trennt zwischen seiner Welt und der übrigen Welt, sie ist verschlossen. Wir können ihn leider nicht selbst fragen, denn wir wissen nicht einmal seinen Namen. Aber vielleicht kennen wir ihn dennoch.
Uns, die wir das Gleichnis aus dem Evangelium hören, ermöglicht die Geschichte einen Blick in die Welt, die sich vor der Tür des reichen Mannes abspielt. Sie erweitert unseren Blick von der eigenen Welt auf die eine Welt. Dann aber sehen wir Bilder, die uns nicht gefallen. Halten wir aus, was wir sehen, oder verschließen wir die Augen und ziehen uns nach und nach zurück?

Sich berühren lassen von LazarusDa liegt ein armer Mann. Seine Haut zeigt krankhafte Geschwüre. Er hat Hunger und hofft, etwas von dem abzubekommen, was der Reiche wegwirft. Der arme Mann ist beschädigt an Leib und Seele. Hunde sind ihm näher als Menschen. Dieser Mann hat einen Namen. Er heißt Lazarus, auf Deutsch: „Gott hat geholfen“. Wenn wir uns in seine Nähe wagen und ihn mit seinem Namen ansprechen, dann sprechen wir zugleich den Namen Gottes aus, „Gott hat geholfen“. Wer bei Lazarus ist, befindet sich in der Nähe von Gottes Hilfe. Lazarus zeigt eine Spur von Gottes Reich in unserer verkehrten Welt. Das allerdings kann eine große Zumutung sein. Wir werden mit all unseren Sinnen angesprochen. Bei Lazarus sehen wir die Augen eines Armen. Der Geruch des geschundenen Leibes steigt in die Nase. Unsere Ohren hören seine Klage. Ein fahler Geschmack von Bitterkeit legt sich auf unsere Zunge. In der Nähe von Lazarus werden wir berührt von Gott, der hilft. Lassen wir uns von Lazarus berühren?

Begegnung zwischen dem reichen Mann und dem armen LazarusDie Geschichte geht weiter. In die verkehrte Welt kommt Bewegung. Vom Sterben ist die Rede. Sterben bedeutet Veränderung. Bevor der physische Tod dem irdischen Leben ein Ende setzt, sterben wir viele Tode. Die Natur lehrt uns, dass Absterben zugleich Wachstum ermöglicht.
Im Tod, wie er im Gleichnis beschrieben wird, ist nichts mehr, wie es war. Mauern und verschlossene Türen, die die eine Welt in verschiedene Welten unterteilten, bestehen nicht mehr. Für den reichen Mann ist das die Hölle. Lazarus hingegen erlebt Geborgenheit. Für den Reichen wird es eng und heiß. Das unbeschwerte Leben hat ein Ende. Der Durst nach Leben ist unerträglich. Sein Blick verändert sich. Die Not bewirkt in ihm, dass er seine Augen aufhebt. Zum ersten Mal entdeckt der reiche Mann den armen Lazarus. Zum ersten Mal entdeckt er Gott, der hilft.
Gibt es ein Zu-Spät? Die Sorge des reichen Mannes gilt seinen Brüdern. Sie gilt denen, die hinter ähnlich verschlossenen Türen ein unbeschwertes Leben führen. Seine Sorge gilt denen, die mit der Welt, in der sie leben, zufrieden sind; die sich der Wirklichkeit der einen Welt verschließen. Seine Sorge gilt denen, die Lazarus und damit die Hilfe Gottes ignorieren.

In jedem Menschen lebt Gott, der gerne hilftWas muss geschehen, dass sich die Verhältnisse der verkehrten Welt umkehren? Was muss geschehen, dass Spuren von Gottes Reich mehr und mehr sichtbar und spürbar werden?
Wie kann das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus in uns eine Veränderung bewirken? Vermutlich nicht durch gut gemeinte Appelle.
Eine Chance liegt vielleicht in der Entdeckung unserer eigenen Armut, unserer Verletztheit und Verletzlichkeit. Wenn wir unseren eigenen Wunden und Geschwüren, die uns das Leben zugefügt hat, begegnen, kann das zunächst sozusagen die Hölle sein. Es macht Angst, wenn selbstgebaute Mauern nicht mehr schützen und Türen, die uns von unserer inneren Armut trennen, nicht mehr dicht schließen. Vor unserer Tür, im Bild gesprochen, auf unserem Grundstück liegt dann Lazarus. In jedem Menschen lebt ein armer Lazarus. In jedem Menschen lebt Gott, der gerne hilft. Von dieser ausgleichenden Gerechtigkeit können wir dort eine Ahnung bekommen, wo wir uns unserem Leben ganz stellen. Auch dem, was wir in uns eingeschlossen haben aus Angst, dass es unser unbeschwertes Leben stört. Wo wir in unserer Welt nach Spuren des Reiches Gottes suchen, da wächst Gerechtigkeit im Großen und im Kleinen. Wo ein reicher Mensch und ein armer Lazarus sich gegenseitig namentlich ansprechen, da wird eine Brücke entstehen über der scheinbar unüberbrückbaren Kluft zwischen Himmel und Hölle. Gott helfe uns, dass wir die Brücken zum anderen und zu uns selbst immer wieder finden. Amen.

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