1. Advent (03. Dezember 2017)

Autorin / Autor:
Dekanin i.R. Anne-Kathrin Kruse, Berlin [kruse.anne-kathrin@gmx.net]

Offenbarung 5, 1-14

Endlich eine gute RegierungWann bekommen wir endlich eine neue Regierung?
Mehr als zwei Monate sind die Bundestagswahlen nun her.
Die wochenlangen mühsamen Verhandlungen sind ohne Ergebnis geblieben.
Kaum einer scheint noch daran zu glauben, dass es anders – besser - wird.
Nur mehr oder weniger faule Kompromisse in Sicht –
Hauptsache, es wird überhaupt regiert.
Und doch gibt es diesen Traum, irgendwo ganz tief im Herzen vergraben.
Den Traum, dass es wirklich einmal anders wird.
Dass die Resignation darüber aufhört, dass „die da oben“ so sind, wie sie sind,
und unsere Hoffnungen enttäuschen, unsere Stimme nicht hören.
Die Hoffnung, dass nicht alles bleibt, wie es ist.
Dass die vielen Armen nicht immer ärmer werden zugunsten der wenigen Reichen.
Dass wir unser Auskommen haben, es bezahlbare Wohnungen gibt.
Und wir nach einem Leben voller Arbeit im Alter ausreichend versorgt sind.
Dass endlich Gerechtigkeit einzieht.
Eine gute Regierung.

Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
Im Advent leuchtet etwas von dieser Sehnsucht auf.
Nach einem Leben, in dem Frieden herrscht,
wo wir unsere Herzen öffnen und einander freundlich entgegenkommen.
Wo sich jeder und jede beheimatet fühlen kann.
Im Advent suchen wir das Licht, den Glanz dessen,
der da kommen und eine gute Regierung bringen soll.
Dann wird das Leben leicht, dann können die Menschen aufatmen.
Dann hat die Geschichte ein Ziel, und das Leben einen Sinn.
Überall glänzt und glitzert es. Eine neue Zeit scheint auf.
Eine gute Regierung. Endlich.

Auch der Visionär Johannes hofft in dem,
was er in der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel, sieht,
auf eine solche gerechte Regierung.
Und seine Hoffnungen sind in dem, was er sieht, ganz und gar unbescheiden.
Er begnügt sich nicht mit dem Öffnen der kleinen Türchen im Adventskalender,
er macht tatsächlich die Tore ganz weit auf.

Predigttext: Offenbarung 5, 1-5 (6-14)„Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.
Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen.
Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.
Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.
Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande.
Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.

Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen,
und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen
und hast sie unserm Gott zu einem Königreich und zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.
Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten her, und ihre Zahl war zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend;
die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.
Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Und die vier Wesen sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.“

Der VisionärUnd ich sah einen auf dem Thron sitzen…
Der Visionär Johannes sieht weiter und mehr als wir.
Er sieht, wie die alten Mächte vergehen.
Und er sieht den, der auf dem Thron sitzt und letztlich alle Macht hat.
Und doch sieht er ihn nicht.
„Kein Mensch wird leben, der mich sieht!“ sagt Gott zu Mose.

Advent: das ist Vorbereitung auf das Licht von Weihnachten.
Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – damit sich unsere Augen an die Herrlichkeit gewöhnen: Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über dir!
Advent – das ist der Blick durchs Schlüsselloch.
Advent – das ist Vorbereitungszeit im Vorzimmer von Weihnachten.
Macht euch bereit, eines Tages Gott zu schauen. Den auf dem Thron, den König der Ehren.
O Heiland, reiß die Himmel auf, 1. Strophe

Ein Buch mit sieben SiegelnEin Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.
Genauer: Eine Rolle, eine Schriftrolle aus teurem Papyrus.
Eine Schriftrolle, wie sie schon der Prophet Hesekiel gesehen hat.
Und weil sie so wertvoll ist, innen und außen beschrieben und siebenmal versiegelt,
mit kleinen Bildern auf sieben Tonabdrücken, die die Rolle für jedermann verschließen.

Für viele ist die Bibel ein Buch mit sieben Siegeln - rätselhaft, unverständlich.
Dabei ist sie das Buch des Lebens, ein Buch fürs Leben.
Göttlich für die Zahl Drei und zugleich geschaffen für die Zahl Vier.
Ein Leben lang darin lesen und noch immer nicht alles verstehen.
Es bleibt spannend, und es bleibt menschlich, voll Freude und Glück,
voll Trauer und Schmerz, voll Trost und Hoffnung.
Advent heißt: nicht alles wissen und dennoch geborgen sein in diesem Buch.
Mögen unsere Namen ins Buch des Lebens eingeschrieben sein!
O Gott, ein Tau vom Himmel gieß, 2. Strophe

Der Kosmos schweigtUnd ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
Wer ist würdig?
Die Frage des Engels bleibt unbeantwortet.
Der Kosmos schweigt.
Die Geschichte der Welt, die Geschichte unseres Lebens ist kein offenes Buch.
Sie ist versiegelt.
Nicht nur im Blick auf die Zukunft, auch auf die Vergangenheit.

Johannes lebt am Rande des Römischen Reiches auf einer griechischen Insel.
Er erlebt die Weltmacht, wie sie fremde Völker unterdrückt.
In Rom herrscht Friede, weil die Kriege anderswo geführt werden.
Im Zentrum herrscht Sicherheit, weil die Gegner mundtot gemacht
und – die römische Todesstrafe für Rebellen – ans Kreuz geschlagen werden.
In der Weltstadt herrscht Wohlstand,
weil die umliegenden Länder hemmungslos ausgebeutet werden.
Warum? Wie lange noch?
HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen?
Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?
Im Buch mit den sieben Siegeln wäre die Antwort zum Greifen nah.
O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, 3. Strophe

Es ist ein Weinen in der WeltNiemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.
Niemand.
Niemand ist würdig, die Siegel zu öffnen, zu lesen, zu verstehen.
Wahrlich ein Grund zum Weinen.
Wenn alles bleibt, wie es ist.
Die Verlierer des weltweiten Wirtschaftssystems werden weiter
ihrer Lebensgrundlagen beraubt.
Der Klimawandel trifft weiterhin die Ärmsten der Armen.
Die Beschädigung und Zerstörung von Leben geht weiter.
Grund zum Weinen auch für die, die sich fremdes Elend zu Herzen gehen lassen.
Tränen der Trauer, Tränen der Verzweiflung.

Am vergangenen Sonntag war Ewigkeitssonntag.
Wir kommen vom Ende her, die Tränen in den Augen.

Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
Lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen…
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.
Du! wir wollen uns tief küssen –
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen. (1)

Es ist ein Weinen in der Welt…
Unter Tränen richtet sich der Blick nach vorn.
Auf das, was kommt, den Blick auf den, der da kommt…
Advent heißt, darauf hoffen, dass Gott abwischen wird alle Tränen von ihren Augen,
und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.
Wo bleibst du Trost der ganzen Welt, 4. Strophe

Der Erlöser – ein JudeUnd einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.
Weine nicht, es kommt einer, der ist würdig, das Buch zu öffnen.
Der Löwe aus Juda. Der Sohn Davids. Der Messias. Der Christus.
Er kommt aus dem Hause Juda. Der Erlöser – ein Jude.
Durch ihn sind wir hinein genommen in den Bund Gottes mit seinem Volk.
Auch uns, die wir aus den nicht-jüdischen Völkern stammen, ist die Tür zu Gott geöffnet – Macht hoch die Tür, dass wir hineinkommen zu seinem Volk!
Der Löwe – ein Bild für den kommenden Sohn Gottes… Er kommt mit Macht!
Damals verstand jeder, der die Bibel, das Alte Testament, kannte.
Was für ein Trost!
Weine nicht, denn es kommt einer, der ist mächtiger als alle anderen.
In seiner Hand liegt die ganze Welt, mein ganzes Leben.
Advent heißt: Macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe. Wer ist der König der Ehre? Es ist der Herr, stark und mächtig, der Herr,
mächtig im Streit.
O klare Sonn, du schöner Stern, dich wollten wir anschauen gern, 5. Strophe

Macht über die MachtUnd ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet.
Der Löwe von Juda ist zugleich das Lamm.
Gott wird zum Kind.
Der Mächtige ist zugleich der Schwache.
Gott wird Mensch – bis in die tiefsten Tiefen – am Kreuz, wie geschlachtet.
Das Opfer wird zum Sieger.
Löwe und Lamm friedlich vereint – das ist die Vision des Jesaja.
Friede entsteht nicht durch Stärke und Gewalt,
sondern durch Vertrauen und Hingabe.
Dazu braucht es Visionen.
Ob die Mächtigen der Welt das wissen?
Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Ein schwacher Trost? Nein, ein starker Trost!
Advent heißt: Die Kleinen und Schwachen, die Niedrigen und Geringen,
die Unterdrückten und Gewalt Leidenden, die nach Brot und Leben Hungernden –
sie alle haben eine Hoffnung!
Hier leiden wir die größte Not, 6. Strophe

Was für eine Regierung!Und das Lamm kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen,
der auf dem Thron saß.
Das Buch unseres Lebens in der Hand des Lammes.
Der Schwächste wird unser Beschützer.
Der Kleinste wird unser Regent, stark und mächtig, auch ohne Gewalt und Zwang.
Was für eine Regierungserklärung!
Können wir das ertragen?
Oder nehmen wir lieber selber alles in die Hand?
Das Buch und unser Leben.
Sich jemandem ganz anvertrauen,
sich einem anderen vollständig in die Hand geben,
ohne Netz und doppelten Boden.
Das geht nur, wenn Liebe im Spiel ist.
Wir warten nicht auf den starken Mann, wir warten auf ein kleines wehrloses Kind.
In ihm ist die ganze Liebe Gottes zu uns Menschen vereinigt.
Advent heißt: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen,
die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Denn uns wird ein Kind geboren,
ein Sohn wird uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter.

Amen.
Da wollen wir all danken dir, 7. Strophe

Anmerkungen:
Entsprechend dem Strukturelement der Siebenzahl in der Offenbarung beschränke ich mich in der Predigt auf die Verse 1-7. Zwischen den sieben Abschnitten kann EG 7, 1-7 „O Heiland, reiß die Himmel auf“ gesungen werden.
(1) Das Gedicht von Else Lasker-Schüler "Weltende" ist zu finden in: dies., Die Gedichte, Frankfurt a.M., 1997, S. 149.
Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus:
Ulrike und Jürgen Ebach, (K)ein Buch mit sieben Siegeln, in: Jürgen Ebach, In Atem gehalten. Theologische Reden 10 (Neue Folge4), Uelzen 2012, 67-72; Wolfgang Kruse,
1. Sonntag im Advent: Offb 5, 1-5 (6-14). Geheimnis des Glaubens, in: Hg. Studium in Israel e.V. , Predigtmeditationen im christlich- jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe IV, Wernsbach 2011

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